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Der Welt-Detektiv Band 6

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Das Geheimnis des Medizinbeutels – Teil 9

Pava Länta auf der Wolfsjagd

Der Lappe und der Wolf leben wie Hund und Katze. Doch ist dieser Ausdruck noch viel zu zahm, um die erbitterte, hasserfüllte Todfeindschaft richtig zu bezeichnen, die der Lappe gegen das elende Graubein, den »gammal naudi«, den alten Räuber, hegt. Dieser Hass wird dem Lappenjungen schon in seinen frühesten Jahren – sozusagen mit der Muttermilch – von den Eltern eingeflößt, und er schlägt im Verlauf seines mühsamen Lebens durch manche bittere Erfahrung immer tieferer Wurzeln. Der arme Teufel, das stets von Hunger gepeinigte Graubein, ist im Grunde genommen der unschuldige und leidende Teil. Er ist von Natur aus gutmütig wie der treue Hund, zu dessen Stammvätern er gehört. Was kann er dafür, dass ihn Väralden-olmaj, der Gott des Samevolkes, der Hochfjällen, der weiten Heiden und Moore, nicht als Wiederkäuer erschaffen hat? Er ist einmal zum Fleischfressen bestimmt und muss seine Nahrung nehmen, wo er sie findet. Und die Rentiere sind leckere Bissen und geben aus. Wenn er einmal eins erwischt, kann er sich so recht knüppelsatt vollfressen. Das ist zu verführerisch!

Doch der Lappe hat kein Verständnis für die Nöte des armen Teufels. Sind die Rentiere nicht sein rechtmäßiges Eigentum? Hat er sie nicht mit viel Mühe aufgezogen? Hütet er sie nicht wie seinen Augapfel? Führt er sie nicht auf steter Wanderung vom Hochfjäll bis an den Meeresstrand und vom Meer wieder ins Hochgebirge hinauf, zu immer frischem neuen Weiden? Ist sein ganzes Leben nicht Tag und Nacht, ohne Ruhepause, von Sorge und Arbeit für seine Herde erfüllt? Und dabei sind seine Rentiere sein einziger Reichtum, seine einzige Einkunftsquelle, die einzige Möglichkeit, sein Leben als freier Lappe zu führen. Verliert er seine Herde, so ist es vorbei mit dem herrlichen, ungebundenen Wanderleben. Dann muss er sesshaft und ein armer Fischerlappe werden, oder gar – wie neuerdings so viele aus dem Stamm des Samevolkes – im Boden wühlen und den Acker bestellen. Denen geht es gerade nicht schlecht. Aber was sind sie gegenüber ihm, den freien Sohn der Ffälle! Kein Wunder, dass der Lappe die grauen Räuber hasst und, wenn er einen aufspürt, keine Ruhe hat, bis er erlegt ist!

Am See Kilpisjärvi hatte Pava Länta, der reiche Lappe, dem über tausend Rentiere gehörten, seine Kata, sein Zelt, aufgeschlagen. Er war vom alten, vornehmen Spikstamm, der seine Ahnen ebenso gut wie ein Adelsgeschlecht durch Jahrhunderte zurück aufzählen kann. Ringsum weideten seine Herden in den Wäldern, auf den Heiden und Mooren unter Aufsicht von Knechten.

Es ist ein wunderbar naturschöner Platz, hoch oben in Lappland, noch weit über dem nördlichen Polarkreis, wohin Pava Länta auf seinen Wanderungen immer wieder zurückkehrte. Hier ragen die Bruderberge, Malla fjäll und Saana fjäll, deren eindrucksvolle Formen den Wanderlappen als zuverlässige Wegweiser dienen, über die Wolken hinaus. Von ihren Flanken stürzen sich blaugrün schimmernde Gletscher hinab, deren Zungen sich in dem kurzen Lapplandsommer in schäumende Wasserfälle und wild brausende Gebirgsbäche auflösen. Außer diesen beiden Riesen erheben noch eine Menge anderer ansehnlicher Berge ihre Häupter ringsumher, und aus Westen grüßen in zartem rosenrotem Glanz die mit ewigem Schnee und Gis bedeckten Fjälle Norwegens herüber, während die nahen schwedischen Gipfel im tiefsten Purpur erglühen. All diese Pracht, dieses Leuchten und Glänzen spiegelt sich im Sommer auf der klaren Fläche des Kilpisjärvi und färbte jetzt die weiten funkelnden Schneeflächen in schimmerndem ständig wechselnden Farbtönen.

Als Pava Länta gemütlich auf dem Reisigbett, über das weiche Rentierfelle gebreitet waren, beim Feuer in der Kata lag und gerade seinen geliebten Kaffee schlürfen wollte, kam Per Nutti, einer seiner Knechte, hereingestürzt und berichtete, dass die Wölfe drei Rentiere zerrissen hätten. Pava Länta fuhr vom Lager auf, und seine Augen funkelten grimmig. Hastig stopfte er einige Scheiben Rentierschinken, sein Pfeifchen und den Tabaksbeutel in die weite Brust seines Kolts, der warmen Lappenjoppe, und hängte das Pulverhorn und den Kugelbeutel an den Gürtel. Per Nutti gebot er, mit den anderen Knechten die Herden zusammenzutreiben. Sobald dies geschehen sei, sollte er ihm mit noch einem Knecht nachfolgen. Dann hängte er den Stutzen über den Rücken, band sich vor der Kata die Schneeschuhe fest, nahm einen Schneeschuhstab in die linke und den Bärenspieß in die rechte Hand und eilte davon. Die Hunde, die ihm nachlaufen wollten, jagte er mit barschen Worten zurück. Nur der alte Tuolpu durfte mit auf die Jagd gegen seine verhassten Vettern. Die anderen, die jungen Tollpatsche, wären ihm in ihrem blinden Eifer nur hinderlich gewesen.

Bald hatte er die Spuren gefunden. Es mussten, den Fährten nach, fünf bis sechs starke Wölfe gewesen sein. Pava Länta und sein treuer Tuolpu liefen unermüdlich viele, viele Stunden lang über die Schneefläche der Tundra, durch Birkenhaine, aus denen aufgeschreckte Schneehühner mit metallischem Klirren emporschwirrten, an den Fjällen Kuolpaive, Keddesvaara, Rauskasvaara, Paltovaara und Yli Njauko vorbei – rastlos immer weiter den Spuren nach, sodass der arme alte Tuolpu, trotz allen Jagdeifers, kaum mitkommen konnte. Es steckte Kraft und Ausdauer in den Sehnen und krummen Beinen des kleinen Lappen.

Als er über eine Hochfläche kam, fing es an zu schneien, und ein Sturm brauste plötzlich einher und wirbelte den Schnee so toll und dicht in der Luft herum, dass Pava Länta nicht einmal die eigenen Beine, geschweige denn die Spuren sehen konnte. Obgleich es bergauf ging, glaubte er, steil abwärts in einen bodenlosen Abgrund zu laufen. Es schien ihm, als ob er in der Luft schwebe. Glücklicherweise geriet er in ein Wäldchen, das etwas Schutz bot. Hier warf er sich auf den Boden, verzehrte ein paar Scheiben Rentierfleisch, die er mit Tuolpu teilte, rauchte einige Züge aus seinem Pfeifchen und versank dann in Schlaf. Der Hund drückte sich fest an seinen Herrn und suchte Wärme bei ihm.

Nach zwei Stunden erhob sich Pava Länta wieder mit erneuter Kraft. Wo befand er sich jetzt? Er ließ seine Blicke umherschweifen. Gerade vor ihm glänzte der Fjäll Aggovaara und etwas südlicher der Karanesvaara. Er fand sich wieder zurecht. Nun galt es, die Fährten wieder aufzusuchen, wobei ihm Tuolpu die besten Dienste leistete. Aber bald kam er an eine Stelle, wo sich die Spuren trennten. Durch den Sturm, der den Lappen vor sich hertrieb, hatten ihn die Wölfe gewittert, und die schlauen Tiere waren auseinandergelaufen. Ohne langes Zögern folgte er der stärksten Fährte.

Nach einigen Stunden witterte Tuolpus feine Nase den Wolf. Er stürzte mit wütendem Gebell voraus. So hatten sie also doch das schuftige Graubein eingeholt! Der Lappe hat mehr Ausdauer als der Wolf. Auch gleiten die Schneeschuhe leicht über die Skare, die dünne Eisrinde, die auf der Oberfläche des Schnees gefroren ist, hinweg, während sie den schweren Wolf, dessen Läufe durchbrechen, hindert. Noch wenige Minuten anstrengenden Laufes, dann erblickte Pava Länta den gammal naudi, der sich gegen den Hund zur Wehr setzte. Dieser, der alte, erfahrene Tuolpu, umraste unter wütendem Gekläff den Todfeind und suchte ihn von hinten zu fassen, wobei er gewandt dem fürchterlichen Gebiss des stärkeren Gegners auswich. Der Lappe traute sich des Hundes halber nicht zu schießen, sondern sauste in voller Fahrt auf seinen Schneeschuhen gegen den Wolf, der ihm zornig heulend, mit aufgesperrtem Rachen annahm. Im letzten Augenblick, dicht vor dem gefährlichen wilden Tier, erhob Pava Länta den Spieß und stieß ihn mit voller Wucht dem Feind in die Brust. Durch die Schnelligkeit der Fahrt drang die scharfe Spitze tief ein, sodass sich beide, der Wolf und der Lappe, überschlugen und in den Schnee kugelten. Sofort warf sich Tuolpu mit Wutgeheul auf den Wolf und biss sich in seinem Nacken fest. Länta raffte sich hurtig auf, riss den Hund los und gab ihm obendrein einen kräftigen Tritt – ein schlechter Lohn für treue Dienste. Aber er wollte den Pelz nicht verdorben haben. Dann zog er das Lappmesser aus der Scheide und gab zur Vorsorge dem Wolf noch den Genickfang.

Nach kurzer Rast und Stärkung lief Pava Länta gefolgt von Tuolpu zurück, um die anderen Fährten aufzusuchen. Das Fell abzuziehen, nahm er sich keine Zeit. Das lag einstweilen gut, wo es war. Wieder wurde es ein viele Stunden langer Lauf, bis er den zweiten Räuber einholte und tötete. Nun musste er sich und dem Hund etwas Nahrung und einige Stunden Schlaf gönnen. Danach ging es auf die Fährte des dritten Wolfes. Es gelang ihm, auch noch den zu erlegen. Er zog ihm das Fell ab, gab nun aber die Verfolgung der anderen auf. Sie hätte ihn zu weit weg geführt.

Auf dem Heimweg traf er bald Per Nutti, der ihm mit dem jungen Knecht Jaakko Pilto nachgeeilt war. Den beiden anderen erlegten Graubeine wurden auch noch die Pelze genommen. Zu guter Letzt lagerten sie am Rand eines Birkenwäldchens. Ein Feuer wurde angemacht. Nutti hatte Mundvorrat und den Kaffeekessel, ohne den der Lappe nicht lange sein kann, mitgebracht, sodass man die Lebensgeister erfrischen und der wohlverdienten Ruhe pflegen konnte. Über sechzig Stunden hatte die anstrengende Jagd gedauert. Ein europäischer Jäger dürfte es dem kleinen, aber zähen Lappen kaum nachmachen können.