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Der Welt-Detektiv Band 6

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Im Goldlande Kalifornien 2

Sophie Wörishöffer
Im Goldlande Kalifornien
Fahrten und Schicksale Gold suchender Auswanderer
Zeitgemäß gekürzt von A. Flügel um 1930
Kapitel 1 – Teil 2

Sie trennten sich, und Ossip lief nach kurzem Lebewohl wie ein Wiesel davon, um vor Tagesanbruch das Haus seiner Eltern zu erreichen, während Arsa in die Höhle zurückkehrte.

Am nächsten Morgen hielten vor allen Haustüren des Dorfes mit Ochsen bespannte Bauernwagen. Es herrschte ein lautes, reges Leben, dem sogar der Graf und der Verwalter von der Straße aus beiwohnten. Alles mögliche zum Verkauf bestimmte Getier wurde verpackt, gekoppelt oder unter Zetergeschrei aus den Waldwiesen herbeigetrieben.

Der Graf verglich die Stückzahl der Tiere mit den Listen des Verwalters. Er wusste ja, dass auf diesem Gebiet Heimlichkeiten vorgingen. Das war seit Menschengedenken so gewesen und würde auch ferner so bleiben.

»Hat man den Bengel eingefangen, den Arsa?«, forschte der Graf.

»Noch nicht, Herr Graf.«

»Ich hätte die größte Lust, dir für dein pflichtvergessenes Betragen jeden Tag volle fünfundzwanzig aufzählen zu lassen, Kanzow! Danke es meiner Großmut, dass du mit einer Züchtigung davongekommen bist. Jemand, der einen Mordversuch gemacht hat, entschlüpfen zu lassen, – es ist unglaublich!«

Der Verwalter duckte sich wie eine Katze im Regen. »Das Pferd!«, murmelte er. »Das Pferd! Wer konnte auch denken …«

»Schweig! Ihr seid einer wie der andere – alles Halunken. Ihr wollt euch gegen eure Herrschaft auflehnen, aber wartet nur! Ich will euch zwiebeln, dass ihr Ach und Weh schreit!«

Er wandte das Pferd und ritt ohne Gruß und Abschied davon.

Die Wagen hatten inzwischen ihre sämtlichen Insassen aufgenommen. Es galt, sich von der alten Heimat für immer zu trennen. Wie die Frauen heimlich bebten, wie es den Männern doch so heiß ums Herz war!

In so gedrückter Stimmung war man noch niemals zu Markt gezogen. Erst als andere Wagen von rechts und links hinzukamen, als man seine guten Freunde begrüßen und auf allerlei Fragen Antwort geben musste, hob sich einigermaßen die verlorene Zuversicht. Alles sprach im Flüsterton von der Revolution und dem nahenden russischen Heer, viele jubelten schon ganz laut, während andere die Köpfe schüttelten. »Man kühlt einmal sein Mütchen«, sagten diese, »aber späterhin werden die Ketten um so straffer angezogen.«

»Was, späterhin?«, tönte es von einem anderen Wagen zurück. »Erst wollen wir einmal die verhassten Grundherren zwiebeln.«

Die Aufregung war ganz allgemein. In der Stadt wurden allerlei Freiheitslieder gesungen. Die Leute tranken Wein und Branntwein, fielen über die Aufseher und Verwalter ihrer Grundherren mit Faustschlägen her und trieben die Leute vom Markt. »Jetzt sind wir die Herren und Gebieter – fort mit euch!«

Maurus rieb sich die Hände. Er kaufte von den fast Berauschten zu außerordentlich billigen Preisen und gab noch nicht einmal bare Zahlung, sondern allerlei halb verrostete Waffen, die am meisten begehrt wurden. Jeder wollte einen Spieß, einen Säbel und ein Beil haben, die Verwegensten sogar Pistolen.

Kinski war mit dem bisherigen Verlauf der Dinge sehr zufrieden. »Unsere Abreise ist vom Glück begünstigt«, meinte er. »Wir können verschwinden, ohne besonders bemerkt zu werden.«

Von Stunde zu Stunde wuchs die allgemeine Erregung, der Lärm wurde zum Tumult, und die Ordnung löste sich auf. Man entzündete Feuer in den Straßen, warf Fenster ein und riss das Pflaster auf, alles, um der herrschenden gewaltigen Gärung Ausdruck zu geben. Die Kaufleute schlossen ihre Läden und setzten sich in Verteidigungszustand. Als die frühe Dämmerung des Herbsttages hereinbrach, sah man in der Entfernung den Himmel mit blutrotem Feuerschein bedeckt.

Jegor war unvermerkt zu den seinen gestoßen, und Kinski ließ einen Wagen nach dem anderen bis zu einem bestimmten Sammelpunkt aufbrechen.

Der letzte Wagen der Ladriner Bauern hielt vor der Stadt auf offenem Feld am Waldrand. Kinski erhob sich vom Kutscherbock und pfiff zweimal kurz nacheinander – dann horchte er.

Von vier Seiten klang das gleiche Zeichen herüber. »Alles sicher!« hieß es. »Niemand in der Nähe!«

»Vorwärts denn mit Gott!«

Im glutroten Feuerschein leuchtete der Himmel, brausend fuhr auf der freien Ebene der Wind daher. Nach einer Stunde war die Gegend bei den drei Eichen erreicht, und Kinski stieg vom Wagen, um die Höhle, in der sein Sohn Zuflucht gefunden hatte, selbst aufzusuchen.

»Arsa!«, rief er mit unterdrückter Stimme.

»Vater! Vater!«

Der Knabe sprang ihm entgegen, und die beiden umarmten einander in herzlicher Freude. »Alles gut?«, fragte Arsa.

»Alles! Komm nur rasch, mein Junge! Deine Mutter will vor Sorge um dich fast vergehen.«

»Und Anatol?«, wandte sich Arsa zu seinem Vater.

»Der hat tüchtige Bisswunden davongetragen, mein Junge. Ohne dein Einschreiten würde er wohl schwerlich noch leben.«

»Schon gut, Vater. Ich habe getan, was ich für Recht hielt. Damit ist wohl unser Interesse an der Sache erloschen.«

»Gewiss, gewiss, mein Junge. Ach, wenn doch die Fahrt etwas schneller vonstattengehen wollte!«, setzte er dann seufzend hinzu.

Der Wind wurde stärker und stärker. Immer heller leuchtete der mitternächtige, von einer gewaltigen Feuersbrunst mit Purpurglut überzogene Himmel. Der Brand schien an Ausdehnung zu gewinnen. Viele leicht ging da drüben eine ganze Stadt in Flammen auf.

Ein mehr oder minder unterdrücktes Schluchzen wurde ringsum hörbar. Etliche kleine Kinder schrien sogar laut. Es war eine raue, bitterkalte Nacht.

Kinski wandte sich zu dem Bauern, der auf der breiten Fahrstraße neben ihm ein Gespann lenkte.

»Basil«, sagte er im Ton heimlicher Unruhe, »das wird schwerer, als ich es mir gedacht habe. Wir müssen bald ein Obdach finden.«

»Das wäre ein guter Vorschlag, aber hier herum hausen nur Bären und Wölfe – es ist keine menschliche Wohnung in der Nähe. Oder denkst du etwa an das verwunschene Mäusekloster?«

Kinski nickte. »Gewiss denke ich daran, Basil. Rechts herum!«, befahl er dann mit lauter Stimme. »Wir biegen in den schmalen Fahrweg, der von der Landstraße abzweigt.«

Der alte Davidoff sah rückwärts. »Hast du auch bedacht, was du da sagst, Kinski?«, fragte er.

»Ja, Nachbar. Es ist alles wohl erwogen.«

Kinski ließ das Ochsengespann haltmachen und knallte mit der Peitsche, um die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Hört mich an, Leute! Wir brauchen für uns alle, die Tiere eingerechnet, ein Obdach,« sagte er in einem Ton, der von vornherein jeden Widerspruch auszuschließen schien. »In unserer Nähe wird gekämpft, die Kinder sind nicht zu beschwichtigen und die Ochsen abgetrieben, also gilt es, einige Stunden zu ruhen und vor allem die Umgebung kennenzulernen. Es ist aber nur ein einziges Gebäude, ein sicheres Versteck hier in der Nähe, und dahin begeben wir uns jetzt – zum Mäusekloster.«

»Zum Mäusekloster!«

Jede Stimme hatte das gefürchtete Wort wiederholt, aber freilich jede anders. Die Frauen kreischten, die jungen Leute jubelten hell auf.

»Wenn wir bis auf Hörweite das Kloster erreicht haben, müssen Kundschafter vorausgehen«, sagte Kinski. »Denkt ihr nicht auch so, Nachbar? Es könnten Russen in dem alten Fuchsbau liegen.«

Nach längerem Hin- und Herreden wurde ausgemacht, Basil, Alexej, Arsa und Jegor sollten vorausschleichen, um die Umgebung des alten Bauwerkes zu erkunden. Waren wirklich russische Soldaten in der Nähe, so musste sich das sehr bald herausstellen.

»Untersucht vor allem das außerhalb der Klostermauern gelegene Hospiz«, trug Kinski ihnen auf.

Die ersten Abgesandten verschwanden im Waldesdunkel.

»Still jetzt«, sagte Basil, »kein Wort, Kinder!«

Eine altersgraue Mauer erhob sich vor den Blicken der Späher. Lange Grashalme wuchsen darauf, und hier und da schwankte im Wind eine wilde purpurrote Mohnblume.

Jetzt zeigte sich auch das Kloster selbst. Ein Turm stand halb erhalten, ein anderer lag in Trümmern. Hohe Bogenfenster ohne Gas oder Sprossen ließen die rote Glut hindurchscheinen. Über dem Eingang erhob sich ein steinernes Kreuz mit dem Bild des Erlösers.

»Hier zeigt die Mauer eine Lücke«, sagte Arsa.

Bald darauf befanden sich die vier Kundschafter in dem ehemaligen Klostergarten. Ein stiller, tiefer See lag im Talkessel. Von einer steinigen Anhöhe kam in Sprüngen der Bach und plätscherte mit leisem Murmeln in eine Muschelgrotte hinab, uralte Bäume standen am Ufer, verwitterte Steinbänke, eine gänzlich zerfallene Hütte, in der die frommen Väter vor Zeiten das Boot zum Fischfang verwahrt haben mochten.

Arsa erreichte als Erster die Eingangspforte des Gebäudes. Er schlüpfte in den weiten mittleren Saal und in die Seitengänge, aus denen Eulen und Fledermäuse plötzlich aufgeschreckt in wilder Hast entflohen. Hier drohte eine Mauer mit jähem Einsturz, dort klaffte im Boden eine Lücke ober sperrte ein Haufen von Steinen den Weg, aber Menschen zeigten sich nirgends.

»Es ist alles leer«, berichtete unser Freund.

»Auch auf der anderen Seite. Aber Mäuse sind wirklich in Massen vorhanden – zu Hunderttausenden, glaube ich.«

Sie untersuchten auch das in einiger Entfernung von der Mauer stehende Gebäude, in dem die Mönche wohl vorüberziehende Wanderer oder was sonst des Klosters Gastfreundschaft beansprucht hatte, für einige Zeit aufgenommen und verpflegt haben mochten. Auch hier zeigte sich alles leer, aber bester erhalten als im Hauptbau. Vielleicht war das Hospiz viel jünger als dieses. Es besaß noch breite, wohlerhaltene Gänge, die vor Wind und Regen einen vollständig sicheren Schutz boten.

Basil beleuchtete mit seiner Laterne den Fußboden. Es zeigten sich einige Mäuse, die schnell wieder verschwanden, aber nicht in der ungeheuren Anzahl, wie sie das eigentliche Kloster beherbergte.

»Jetzt können wir zu den Wagen zurückkehren«, sagte Basil. »Ein Obdach für die Nacht ist wenigstens gefunden.«

Die zerfallenen alten Mauern lagen nun bald wieder hinter den Wanderern, und die Wagen kamen in Sicht. Kinski ging den Abgesandten einige Schritte entgegen. »Alles sicher, Kameraden?«, flüsterte er.

»Alles sicher!«

Es regnete in Strömen, der Wind wehte kalt, und die Nähe des dämmernden Morgens kündigte sich durch den schärferen Luftzug an. Kinski atmete auf, als endlich das Hospiz erreicht war. »Jetzt wird man sich hinlegen können«, sagte er schaudernd.

»Auf den durchnässten Boden? Dass sich Gott erbarme!«

»Drinnen ist es ganz trocken«, versicherte Arsa. »Wir haben auch einen wohlerhaltenen Herd entdeckt.«

»Und im Hof einen Brunnen. Berge von herabgefallenen Ästen und Zweigen stapeln sich überall.«

Die Aussicht auf ein wärmendes Feuer belebte den Mut der Flüchtlinge. Die Männer suchten in den verfallenen Nebengebäuden des Hauses eine Unterkunft für Tiere und Wagen, sammelten Brennholz und trugen Wasser herbei, die Frauen brachten Decken und Lebensmittel in das Haus und entzündeten auf dem Herd ein helles, lustiges Feuer. Man konnte in Ruhe essen und dann die steif gewordenen Glieder zum Schlaf ausstrecken.

Als der Tag anbrach, ließ man aus Vorsicht das Feuer löschen. Der Rauch hätte ja weithin gesehen werden können. Es war auch außerdem Speise und Trank in genügender Menge zubereitet worden, um für den ganzen Tag versorgt zu sein.

»Ich denke, wir bleiben während des ganzen Tages hier«, meinte Kinski. »Schon der Zugtiere wegen ist das notwendig. Man reist auch sicherer in der Nacht als am hellen Tage.«

Er und seine Gefährten wollten gegen Abend die Ochsen aufschirren, als alle zugleich ein Geräusch vernahmen, das nur schwach gehört, aber ziemlich stark empfunden wurde. Der Erdboden schien zu dröhnen.

»Was ist das?«, fragte jemand. »Kanonendonner?«

Der alte Iwan warf sich flach auf die Erde und lauschte mit fest angedrückten Ohren, aber nur sekundenlang, dann sprang er mit allen Zeichen des Erschreckens wieder auf. »Hilf Himmel! Das ist Reiterei! Kosaken!«

»Und sie kommen hierher?«

»Gerade hierher! Jetzt sind wir verloren!«

»Noch nicht«, ermahnte Kinski. »Noch nicht. Es ist immerhin möglich, dass die Reiter vorüberziehen oder dass sie wenigstens dieses Haus unberücksichtigt lassen.«

Iwan lauschte wieder. »Ich habe zehn Jahre bei der Reiterei gestanden«, flüsterte er. »Täuschen kann ich mich ganz unmöglich. Das sind die kleinen, behänden Kosakenpferde.«

»Und ist der Zug bedeutend, Nachbar?«

»Ich glaube es. Nur begreife ich nicht, weshalb die Soldaten so auffallend langsam reiten.«

»Da schimmert ein Licht!«, raunte Arsa.

»Fackelträger! – Aha, Bauern mit gefesselten Händen!«

Ein erschütternder Anblick bot sich den versteckten Lauschern. An das Pferd jedes Kosaken war ein in zerlumpte Uniformstücke oder auch nur in die gewöhnliche Kleidung aus Schafpelz gehüllter Mann befestigt, Knaben von sechzehn und Männer von vierzig Jahren, fast alle ohne Kopfbedeckung, alle blutend und zum Teil kaum fähig, sich noch länger auf den Füßen zu halten. Die Pferde schleiften diese Unglücklichen, deren Gesichter im hellen Fackelschein todesblass erschienen, an Lederriemen durch das Moos.

»Gottlob! – Der Zug geht vorüber!«, sagte Arsa.

Iwan schüttelte den Kopf. »Das weiß man noch nicht.«

Plötzlich wurde vorn ein Hornsignal gegeben. Hell und lustig drang der Ton durch den dunklen Wald.

»Zum Halten!«, seufzte Iwan. »Der Reiterzug bleibt hier!«

Das war eine peinliche Entdeckung, der ein langes, banges Schweigen folgte. Nur ganz allmählich rückte auf dem schmalen Waldwege die Nachhut auf das Kloster vor, allmählich verschwand der bunte Tross, und nur von fern drang noch das verschiedenartige Geräusch zu den Flüchtlingen herüber.

»Was meinst du, Nachbar, wagen wir jetzt die Weiterfahrt?«, fragte Kinski den Alten.

»Was ich meine?«, entgegnete dieser, »dass wir verloren sind, wenn nur ein einziger Ochse anfängt zu brüllen. Aber wenn man uns hier entdeckt, nicht minder.«

»Wollen wir nicht Wachen ausstellen, Vater?«, mischte sich Arsa in das Gespräch ein.

»Das ist unnötig, mein Junge, denn verteidigen können wir uns ja leider doch nicht, auch nicht unbemerkt flüchten, wohl aber muss uns daran gelegen sein, die Absichten der Kosaken kennenzulernen und vor allen Dingen zu erfahren, ob noch mehrere Truppenzüge erwartet werden.«

»Ich gehe hin, Vater!«, rief Arsa.

»Wer meldet sich sonst noch?«, fragte Kinski. »Du, Boris?«

»Wenn du es wünschst, Nachbar – gewiss!«

»Lass mich mitgehen, Onkel Kasimir«, bat Jegor.

»Ihr beiden Knaben allein? Die Sache ist sehr gefährlich. Doch ihr seid schlank und kräftig. Euch mag es am besten gelingen. Aber vergesst die nötige Vorsicht nicht.«

Arsa winkte. Lautlos glitten die Burschen durch das Unterholz. Sie hatten die Mützen abgenommen und die Röcke ausgezogen. Mit den dunklen Lederbeinkleidern und den eng anschließenden Wolljacken konnten sie sich hinter jedem Stamm verstecken, ohne gesehen zu werden.

Der Schein des Wachfeuers machte doch den Weg sehr gefährlich. Jede beleuchtete Fläche musste vermieden werden, jeder dürre Ast, auf den die Füße traten, konnte durch sein Knacken die Aufmerksamkeit der Kosaken erregen.

Ein klatschendes Geräusch ließ die Knaben zusammenschrecken. »Da fallen Hiebe!«, flüsterte schaudernd der junge Kinski.

»Still! Um Gottes willen, still!«

Wie Ameisen schwärmten überall im weiten Klostergarten die Kosaken umher. Ihre Pferde waren angepflockt und die Lanzen zusammengestellt. Man trug Wasser herbei und begann in den Feldkesseln zu kochen.

Die Soldaten sangen. Nur eine kleine Abteilung stand abseits in Reih und Glied. Es waren jene Unglücklichen, die als Gefangene den Soldaten folgen mussten. Sie waren von den Fesseln befreit und wurden, nachdem man ihnen Stöcke und Zeltstangen in die Hände gegeben hatte, zum höhnischen Vergnügen der Kosaken einexerziert, wobei es natürlich vonseiten der erbosten Unteroffiziere mehr Schläge und Stöße mit dem Gewehrkolben als gute Worte gab.

Einige Offiziere kamen des Weges und gefielen sich in billigen Späßen den unglücklichen Gefangenen gegenüber. »Morgen kommt die Infanterie«, hieß es, »dann beginnt das scharfe Regiment, euch soll noch Hören und Sehen vergehen!«

Ein lautes Gelächter folgte diesen Worten. Höher und höher loderten die Flammen der Wachfeuer, in Wolken zog der Rauch empor, und um sichere, von Schatten durchwebte Streiflichter fielen auf die Gruppen der Soldaten und der Gefangenen.

Arsa und Jegor wussten nun alles, was für sie und die ihren wichtig war und traten den Rückzug an. Die beiden Knaben, einmal aus der Hörweite des Lagers, liefen so schnell ihre Füße sie trugen und waren in wenigen Minuten bei den ihren, von denen sie schon voll geheimer Unruhe erwartet wurden.

»Nun?«, horchte Kinski. »Wie steht es? Bleiben die Kosaken für mehrere Tage?«

»Wahrscheinlich«, berichtete Arsa. »Und außerdem kommt noch Infanterie hierher.«

Ein langes Schweigen folgte dieser peinlichen Nachricht. Erst als sich die Gedanken einigermaßen gesammelt hatten, nahm der alte Iwan wieder das Wort.

»Habt ihr gehört, wie mit den gefangenen Frauen und Kindern verfahren wird, meine Jungen?«, fragte er die beiden Knaben.

»Man bekümmert sich um die Unglücklichen gar nicht, Nachbar.«

»So! So! Die Kosaken ziehen also durch das Land, um alle Männer unter fünfzig aufzugreifen und in die Uniform zu stecken. Entdeckt man uns hier, so werden mit Ausnahme des Nachbars Davidoff und meiner eigenen Person alle Männer zu zehnjährigem Dienst in die Uniform gesteckt, ebenso eure jungen Söhne. Wäre das nicht von allem Schlimmen das Schlimmste?«

Die beängstigten Frauen weinten bereits. »Aber was sollen wir tun, um diesem schrecklichen Schicksal zu entgehen, Nachbar?«

»Wir müssen uns trennen«, sagte der Alte mit entschiedenem Ton. »Davidoff und ich bleiben bei euch, alle übrigen Männer suchen ihr Heil in der Flucht. Anstatt zusammen, kommen wir einzeln nach Riga und erwarten uns dort gegenseitig.«

»So geh denn, Vater«, sagte mit leisem Weinen Kinskis Frau. »Geh! – und auch du, Arsa! Gott beschütze euch!«

Kinski wandte den Blick ab, als brauche er Zeit, um sich zu sammeln. »So lasst uns den Abschied kurz machen«, sagte er dann mit gepresstem Ton. »Es muss sein – wenn uns auch der Kummer beinahe das Herz bricht.«

Die jungen Leute scharten sich um ihn, auch Boris trat an seine Seite. »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«, klang es hüben und drüben.

Dann ging die kleine Schar in das Dunkel hinaus, Gott bittend, dass er Frau und Kinder beschützen möge.

»Nie im Leben ist mir etwas so schwer geworden«, murmelte Kinski.

Arsa deutete auf das Kloster. »Die Kosaken fangen an, auszuschwärmen. Siehst du es, Vater?«

»Sie suchen Grünfutter für die Pferde. In wenigen Minuten haben sie das Hospiz erreicht. Boris, ich kann nicht fortgehen, ehe ich weiß, was mit den wehrlosen Frauen geschieht. Lass uns auf die nächsten Bäume steigen und im Notfall lieber mit den Unseren sterben, als sie ihrem Schicksal preiszugeben.«

Die Zustimmung der anderen war allgemein. In wenigen Minuten verbargen die dunklen Baumkronen alle jungen Leute und die Männer, dann lauschten sämtliche Versteckte mit pochendem Herzen dem, was sich nun weiter begeben werde.