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Der Welt-Detektiv Band 6

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John Tanner – Das Leben eines Jägers 9

John Tanner
Das Leben eines Jägers
oder
John Tanners Denkwürdigkeiten über seinen 30-jährigen Aufenthalt unter den Indianern Nordamerikas
Erstmals erschienen 1830 in New York, übersetzt von Dr. Karl Andree

Neuntes Kapitel

Als der Schnee stärker fiel und das Eis dicker wurde, stellten sich auch bei uns Elend und Hunger ein. Wir konnten keine Moosetiere mehr töten oder Biber in Fallen und auf die gewöhnliche Weise fangen, obwohl es an Wild nicht mangelte.

Als die Hungersnot anfing, unerträglich zu werden, nahm die Alte zu ihrem letzten Mittel Zuflucht, und tat eine ganze Nacht weiter nichts als beten und singen. Am anderen Morgen sprach sie zu ihrem Sohn und Waw-be-be-nais-sa: »Geht auf die Jagd. Der große Geist hat mir Wild gegeben.«

Wa-me-gon-a-biew antwortete: »Das Wetter ist zu kalt und zu ruhig, wir können unmöglich den Moosetieren nahe genug kommen.«

»Ich kann den Wind kommen lassen«, entgegnete Net-no-kwa, »jetzt ist freilich das Wetter kalt und ruhig, aber bevor die Nacht kommt, soll Wind gehen. Macht euch auf, Kinder! Ihr dürft sicher hoffen, Wild zu erlegen, denn ich sah in meinem Traum, wie Wa-me-gon-a-biew mit einem Biber und einer schweren Fracht Fleisch zurückkam.«

Sie gingen endlich, nachdem sie an ihren Köpfen und Pulverhörnern kleine Beutel, welche Zaubermittel enthielten, befestigt hatten. Diese waren ihnen von Net-no-kwa zugestellt worden, und sie äußerte dabei, nun sei am Erfolg gar nicht zu zweifeln. Bald, nachdem sie fortgegangen waren, fing der Südwind an sich aufzumachen und stark zu wehen. Das Wetter wurde milder. Bei Einbruch der Nacht kamen die Jäger mit Moosetierfleisch beladen, und Wa-me-gon-a-biew brachte, wie seine Mutter im Traum gesehen hatte, einen Biber mit. Das Moosetier war sehr groß und fett, und darum verlegten wir unsere Hütte zu der Stelle, wo es erlegt worden war. Doch half dieses Fleisch nur augenblicklich aus der Not, indessen töteten wir doch noch einige Biber.

Zehn Tage nach dieser glücklichen Jagd fehlte es uns wieder an Lebensmitteln. Einst befand ich mich in einiger Entfernung von unserer Hütte auf der Biberjagd, da entdeckte ich die Spur von vier Moosetieren. Ich nahm einen Zweig mit, an dem sie herumgefressen hatten, und warf diesen beim Eintritt in die Hütte vor Wa-me-gon-a-biew, der wie gewöhnlich faulenzend am Feuer lag, mit den Worten hin: »Sieh hier, vortrefflicher Jäger, und sei uns behilflich, einige Moosetiere zu erlegen.«

Er nahm den Zweig, betrachtete ihn einige Zeit, und fragte dann: »Wie viele sind es?«

»Vier.«

»Ich werde sie erlegen.«

Am anderen Morgen folgte er sehr früh der Spur und tötete drei Moosetiere. Er war ein guter Jäger, wenn er einmal zum Zug kam. Für gewöhnlich aber war er so träge, dass er lieber alle Qualen des Hungers duldete, als Wild aufzusuchen oder auch nur der Spur des entdeckten Wildes zu folgen sich die Mühe genommen hätte. Nun war eine Zeit lang genug zu essen da. Der Hunger stellte sich jedoch bald wieder ein. Manchmal hatten wir zwei oder drei Tage auch nicht das Geringste zum Leben. Dann machten einige Kaninchen oder irgendein Vogel es uns möglich, unsere Körper wieder ein paar Tage hinzuschleppen. Wir boten alles auf, um den Waw-be-be-nais-sa zu bewegen, dass er sich etwas mehr Mühe gäbe, weil wir wussten, dass er fast immer auf Wild stieß. Er antwortete aber weiter nichts, als die Worte: »Ich bin zu elend und zu krank.«

Wa-me-gon-a-biew und ich waren der Meinung, dass auf weiteren Ausflüchten, als jene waren, die wir gewöhnlich zu machen pflegten, wohl mehr zu hoffen sein könnte, und so zogen wir eines Morgens sehr früh aus und gingen den ganzen Tag hindurch sehr schnell weiter. Als es dunkel wurde, töteten wir einen jungen Biber.

Wa-me-gon-a-biew sprach zu mir. »Mein Bruder! Mache ein Lager zurecht und brate ein Stück von unserem Biber. Ich will weitergehen und zusehen, ob ich noch etwas Wild erlegen kann.«

Er kam bald darauf mit Fleisch beladen zurück, denn er hatte zwei Karibus geschossen. Am anderen Morgen standen wir früh auf, um diese den weiten Weg bis zur Hütte unserer Familie zu schleppen. Das ging über meine Kräfte, aber Wa-me-gon-a-biew ging voraus, schickte mir die junge Frau zu Hilfe, und so kam ich vor Mitternacht an.

Die Erfahrung hatte uns gelehrt, wie gefährlich es für uns war, so abgeschieden und allein zu leben. Da unsere Vorräte uns nun erlaubten, wo anders hin zu ziehen, beschlossen wir, uns irgendeinem bewohnten Ort zu nähern. Das nächste Kontor lag am Klarwasser-See, etwa vier bis fünf Tagesreisen weit entfernt. Wir ließen unsere Hütte stehen, nahmen nur Decken mit, einige Kessel und was sonst noch besonders für die Reise notwendig war. So machten wir uns auf den Weg. Das Land, durch welches wir reisen mussten, war voller Seen, Inseln und Sümpfe. Wir konnten aber, da es gefroren hatte, den geraden Weg gehen.

Eines Morgens fing Waw-be-be-nais-sa sehr früh, wahrscheinlich aufgeregt vom heftigen Hunger, zu singen und zu beten an, und rief zuletzt: »Heute werden wir Karibus sehen.« Die Alte, welche infolge der langen Entbehrungen etwas herb geworden war und Waw-be-be-nais-sa für keinen sonderlichen Jäger hielt, antwortete: »Männer hätten nicht gesagt, wir werden heute Wild sehen, sondern, wir werden welches essen.«

Kaum waren wir einige Schritte weiter gegangen, da kamen sechs Karibus gerade auf uns und die Spitze einer kleinen Insel zu. Wir warfen uns sogleich ins Gebüsch nieder, und sie näherten sich uns bis auf Schussweite. Aber Wa-me-gon-a-biews Gewehr versagte und alle sechs liefen davon. Waw-be-be-nais-sa drückte auch los und traf eins in die Schulter. Als aber spät am Abend beide Jäger zurückkamen, und den ganzen Tag mit der Verfolgung des Wildes verbracht hatten, bekamen wir dennoch keinen Bissen zu essen, und unsere Lage wurde so erbärmlich, dass wir uns, um nur schneller fortkommen zu können, darein ergaben, einen Teil unseres Gepäckes zurückzulassen. Zugleich schlachteten wir unseren letzten Hund, denn er war so schwach, dass er uns nicht mehr folgen konnte. Die Alte wollte nichts davon essen, aus welchem Grund weiß ich nicht.

Einige Tage später ergab es sich, dass wir uns verirrt hatten. Wir wussten nun nicht, wo der Weg war, und unsere Schwäche und Ermattung gestattete uns nicht, auf gut Glück weiter zu gehen. Net-no-kwa, die in der äußersten Not immer weniger niedergeschlagen und entmutigt schien, als alle übrigen, bestimmte wie gewöhnlich unseren Lagerplatz, schleppte so viel Holz herbei, als nötig war, um ein großes Feuer zu unterhalten, wickelte sich in ihre Decke und ging, den Tomahawk in der Hand, fort. Wir sahen wohl ein, dass sie sich auf den Weg machte, um auf irgendeine Art unser Elend erträglicher zu machen.

Am anderen Morgen kam sie zurück und sprach: »Meine Kinder, nach langem Beten bin ich in voriger Nacht an einem einsamen abgelegenen Ort eingeschlafen. Ich sah im Traum den Weg, welchen ich genommen hatte, die Stelle, wo ich anhielt, und nicht weit davon entfernt den Anfang eines Pfades, der gerade zum Haus des Kaufmanns führt. Auch habe ich im Traum weiße Männer gesehen. Darum lasst uns keine Zeit verlieren, denn der große Geist will uns zu einem guten Feuer geleiten.«

Etwas ermutigt durch die Zuversicht und Hoffnung, welche die Alte in uns erregte, brachen wir sogleich auf. Als wir aber das Ende des Pfades, welchen sie gegangen war, erreicht hatten, gingen wir lange Zeit weiter fort, ohne irgendeine Spur von Menschen zu entdecken. Nun wurde sie von den einen getadelt, von den anderen lächerlich gemacht, bis wir endlich zu unserer größten Freude die frischen Fußstapfen eines Jägers erblickten, der ganz gewiss zum Kontor gegangen war. Wir strengten nun alle unsere Kräfte an und kamen dort wirklich an, nachdem wir zwei Tage und eine Nacht unterwegs gewesen waren.

Dort trafen wir den Handelsmann, welcher uns am Regen-See Kredit für 120 Biberfelle gegeben hatte. Wir entrichteten, da er eben abreisen wollte, unsere Schuld, und es blieben uns noch zwanzig Felle, für welche ich vier Fallen eintauschte. Die Alte bekam auch noch drei kleine Fässer Rum.

Nachdem wir mehrere Tage Rast gehalten, traten wir den Weg zu unserer letzten Hütte wieder an und folgten anfangs dem großen Jagdweg, welchen die Bewohner des Kontors gewöhnlich zu nehmen pflegten. Als wir diesen verließen, gab die Alte ihren ganzen Rumvorrat an Waw-be-be-nais-sa mit dem Auftrag, auf dem betretenen Weg weiter fortzugehen, und zwar so lange, bis er die Jäger treffen würde. Bei ihnen sollte er den Rum gegen Fleisch eintauschen und mit diesem wieder zu uns kommen. Er aber öffnete sogleich ein Fässchen und trank es zur Hälfte aus. Am anderen Morgen war er wieder nüchtern und zog, von Wa-me-gon-a-biew begleitet, davon. Ich ging mit den Weibern zu der Stelle, wo wir uns verabredetermaßen treffen wollten. Nachdem wir einen ganzen Tag gewartet hatten, kam mein Bruder mit Fleisch beladen zurück. Waw-be-be-nais-sa aber ließ sich nicht blicken. Und doch hatten sein Weib und seine kleinen Kinder an demselben Tage ihre Mokassins verzehren müssen!

Wir teilten unsere Lebensmittel mit dieser Familie, die uns gleich darauf verließ, um sich zu jenem zu begeben. Die Jäger hatten uns durch Wa-me-gon-a-biew einladen lassen, zu ihnen zu kommen. Wir mussten jedoch vor allen Dingen erst das holen, was wir in unserer Hütte zurückgelassen hatten. Als wir von dort zurückkamen, machten wir am selben Platz wieder Rast, hatten aber seit einiger Zeit von nichts anderem als von Baumrinde gelebt, besonders von jener einer Weinrebe, die dort sehr häufig vorkommt. Wir waren also sehr matt und kraftlos. Wa-me-gon-a-biew konnte gar nicht mehr gehen, und von uns allen schien die Alte am wenigsten zu leiden. Sie vermochte fünf bis sechs Tage zu fasten, ohne sehr mitgenommen zu sein. Nur aus Furcht, die anderen mochten während ihrer Abwesenheit zugrunde gehen, erlaubte sie, dass ich zum Kontor ging, dem wir näher zu sein glaubten, als dem Lagerplatz der Jäger. Bis dorthin waren es höchstens zwei ganz gewöhnliche Tagesreisen. Bei meiner Schwäche und Mattigkeit war es aber sehr zweifelhaft, ob ich überhaupt bis dahin würde gelangen können. Sehr früh am Morgen brach ich auf. Das Wetter war kalt und der Wind wehte scharf. Ich musste über einen großen See und hatte von der schneidenden Luft viel auszustehen. Vor Sonnenuntergang erreichte ich das jenseitige Ufer und setzte mich dort nieder, um zu übernachten. Als ich spürte, dass ich kalt wurde, wollte ich aufstehen. Es wurde mir dies aber so sauer, dass ich es für unklug hielt, mich wieder hinzusetzen, ehe ich das Kontor erreicht hätte. Die Nacht war nicht dunkel und der Wind schwächer geworden, und ich litt nicht so viel als am Tage. Daher ging ich immer weiter und erreichte frühmorgens mein Ziel. Als ich die Tür öffnete, sahen die Weißen auf den ersten Blick, dass ich halb tot vor Hunger war, und fragten gleich nach unserer Familie. Kaum hatte ich gesagt, wie es stand, so ging ein Franzose, der ein tüchtiger Läufer war, mit Lebensmitteln beladen, weg. Wenige Stunden nach meiner Ankunft hörte ich Net-no-kwas Stimme.

Sie fragte: »Ist mein Sohn hier?«

Ich öffnete die Tür, und sie war sehr erfreut, als sie mich erblickte. Sie war dem Franzosen nicht begegnet.

Bald nach meinem Aufbruch zum Kontor war der Wind sehr heftig geworden. Die Alte hatte gemeint, ich würde wohl nicht bis ans andere Ufer des Sees kommen können, und war mir nachgegangen. Der Wind aber hatte den Schnee in meine Fußstapfen geweht, und sie darum meine Spur verloren. Sie befürchtete daher sehr, ich möchte wohl unterwegs umgekommen sein. Zwei Tage danach kam auch Wa-me-gon-a-biew mit den Übrigen in Begleitung des Franzosen an. Die Indianer ihrerseits, in der Meinung, wir würden ohne Lebensmittel, die uns, wie sie mit Recht vermuteten, wahrscheinlich fehlten, nicht bis zu ihnen kommen können, hatten Waw-be-be-nais-sa mit Vorräten zum alten Lagerplatz geschickt. Er war gleich nach meinem Weggang in der Nähe desselben angekommen, hatte ihn aber entweder aus Dummheit, Trägheit oder irgendeinem anderen Grund nicht ganz erreicht, sondern sich im Angesicht desselben hingesetzt und eine gute Mahlzeit gehalten, von welcher die Familie auf ihrem Wege einige Spuren fand.