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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Marone – Die herannahende Wolke

Thomas Mayne Reid
Der Marone – Erstes Buch
Kapitel 20

Die herannahende Wolke

Das Mittagsessen verlief aufs Angenehmste. Die schmackhaften Gerichte waren nacheinander durchprobiert und dann weggenommen worden, und der Speisetisch, der nun für das Dessert zugerichtet war, bot einen schimmernden Überfluss dar, wie ihn allein ein tropisches Klima hervorzubringen vermag, in dem jede Gattung der Pflanzenwelt eine Frucht oder eine Beere von der höchsten Vortrefflichkeit erzeugt. Nur in den tropischen Gegenden der neuen Welt kann solch eine reiche Mannigfaltigkeit gefunden werden, ein Desserttisch, auf den Pomona wirklich ihr goldenes Füllhorn ausgegossen zu haben scheint.

Das Tischtuch war von der glatten, polierten Tafel entfernt worden, und abermals wurden die schimmernden Gläser mit dem edelsten Wein gefüllt. Der Pflanzer war zu Ehren seines Gastes sehr freigiebig mit seinen Weinen gewesen, die allerdings alle ohne Ausnahme höchst ausgezeichnet waren. So schien er sich auf der höchsten Höhe einer glücklichen, freudeerregten Stimmung zu befinden.

Aber gerade in diesem Augenblick zeigte sich eine Wolke am Himmelsraum.

Freilich war es nur eine sehr kleine Wolke und auch noch sehr weit entfernt, aber dennoch möchte ein aufmerksamer Beobachter bald bemerkt haben, dass ihr Schatten sich bereits düster auf Loftus Vaughans Augenbrauen zu legen begann.

Diese Wolke erschien am äußersten Ende der langen Allee und bewegte sich gerade auf das Haus zu. Als Loftus Vaughan sie zuerst bemerkte, war sie noch sehr entfernt, obgleich nicht so weit, dass er nicht mit bloßem Auge einen Mann zu Pferde hätte unterscheiden können.

Diese Erscheinung brachte im Augenblick eine merkwürdige Veränderung bei Loftus Vaughan hervor, denn seine Stirn wurde düster. Er drehte sich oftmals auf seinem Stuhl unruhig hin und her und warf heimliche, aber finstere Blicke auf die Reitergestalt, die immer größer und deutlicher wurde, je näher sie kam.

Diese so geheimnisvoll scheinende Veränderung in Loftus Vaughans Haltung war allerdings leicht zu erklären. Er hatte den näherkommenden Reiter oder vielmehr das Pony, auf welchem er ritt, ganz wohl erkannt. Er wusste auch recht gut, der Reiter musste sein Neffe sein, denn der Aufseher hatte die Ankunft Herbert Vaughans mit der Seenymphe bereits berichtet.

Einige Zeit lang war indes die Veränderung bei dem Pflanzer keineswegs sehr bemerkbar, selbst seine heimlichen Blicke wären von einem oberflächlichen Beobachter vielleicht nicht beachtet worden, denn sie waren wirklich sowohl seiner Tochter als auch seinem Gast entgangen. Erst als der Reiter am Nebenweg in der Allee angehalten hatte und nun geradewegs auf das Haus zukam, wurde die Aufmerksamkeit auf das sonderbare Benehmen des Herrn Vaughan gelenkt. Nun nämlich trat seine ängstliche Aufgeregtheit so deutlich und unverkennbar hervor, dass Käthchen Vaughan einen leichten Schrei der Verwunderung ausstieß, während der Cockney unwillkürlich ausrief: »Bei meiner Seele!« und sogleich die Frage hinzufügte: »Etwas nicht recht, Herr?«

»O, nichts!«, stammelte der Pflanzer, »nur – nur eine kleine Überraschung, das ist alles!«

»Überraschung, Papa! Worüber? O, sieh mal, da unten ist einer zu Pferde, ein Mann, ein junger Mann! Ich meine, es ist unser eigenes Pony, worauf er reitet. Und das ist Quashie, der hinter ihm herläuft. Wie sonderbar! Papa, was hat das nur zu bedeuten?«

»Still, setz dich, Kind!«, befahl der Vater in einem Ton peinlichster Verlegenheit. »Setz dich, sag ich! Wer es auch sein mag, es ist immer noch Zeit genug, zu erfahren, wenn er hier ist. Käthchen, Käthchen! Das ist gar nicht hübsch von dir, so unser Dessert zu unterbrechen! Herr Smythje, ein Glas Madeira! – Trinken Sie doch, Herr!«

»Wie Sie wünschen!«, antwortete der Stutzer, indem er sich abermals zum Speisetisch hinwandte und sich gänzlich mit seinem Glas beschäftigte.

Das Pony und sein Reiter waren nun nicht mehr zu sehen, da sie zu nahe am Haus waren. Aber die Hufschläge konnten gehört werden, deren Schall näher und näher kam.

Herr Vaughan bemühte sich, gefasst zu scheinen und etwas zu reden. Aber sein ruhiges Blut war offenbar nur künstlich angenommen und unnatürlich, und da er zur Fortführung des Gespräches wirklich unfähig war, trat ein bedeutungsvolles Stillschweigen ein.

Der Schall der Hufschläge war nicht mehr zu vernehmen, das Pony war unter den Fenstern angelangt und hielt an.

Dann wurden verschiedene Stimmen in ernstem und lautem Ton gehört und hierauf erfolgte das Geräusch von Fußtritten auf der großen steinernen Treppe. Es kam offenbar jemand die Treppe herauf.

Herr Vaughan sah erschrocken aus. Alle seine schönen Pläne waren nun zerstört, in sein ganzes Programm war ein Riss gekommen. Der kleine Postbursche hatte unbedingt seine Rolle sehr schlecht ausgeführt.

»Haha!«, rief der Pflanzer freundlich, als das freundlich glatte Gesicht seines Aufsehers oben auf dem Treppenabsatze erschien. »Herr Trusty will mit mir reden. Bitte um Entschuldigung, Herr Smythje – nur einen Augenblick!«

Dies sagend erhob er sich von seinem Stuhl und beeilte sich, mit dem Aufseher, noch bevor er vollständig eintrat, zu sprechen. Dieser war indes bereits schon etwas ins Haus hineingekommen und hatte ohne Umschweife seine Botschaft verkündet, freilich mit halber Stimme, aber immer noch laut genug, um einen nicht unbedeutenden Teil seiner Nachrichten hören zu lassen.

Unter anderen Worten erreichte auch der Ausdruck »Ihr Neffe« das Ohr des hellhörigen Käthchens, die entschlossen schien, womöglich jedes Wort aufzufangen.

Auch die Antwort, obwohl sehr leise und mit zitternder Stimme gegeben, vermochte teilweise gehört zu werden: »Zeig ihm … Kiosk … Garten … sag ihm … dort … sogleich.«

Herr Vaughan kehrte daraufhin mit halb befriedigten Blicken zum Speisetisch zurück. Er bildete sich sicher ein, dass er der unangenehmen Verlegenheit wenigstens für einige Zeit entschlüpft sei. Nur der Ausdruck in der ganzen Haltung seiner Tochter flößte ihm Verdacht ein, dass doch wohl nicht alles so ganz in Ordnung sei.

Nicht eine Sekunde wurde er hierüber im Zweifel gelassen, denn sofort, als er sich wieder gesetzt hatte, rief Käthchen in einem Ton heiterer Verwunderung aus: »O, Papa, was hör ich da? Sagte Herr Trusty nicht etwas von deinem Neffen? In der Tat, ist der Vetter angekommen? Ist er es, der …«

»Käthchen, mein Kind«, unterbrach der Vater sie rasch und tat so, als ob er ihre Frage gar nicht gehört habe. »Du kannst dich jetzt auf dein Zimmer zurückziehen. Herr Smythje und ich, wir wollen eine Zigarre tauchen, und du kannst ja den Rauch nicht leiden. Geh Kind, geh!«

Das junge Mädchen erhob sich sofort von ihrem Stuhl und beeilte sich, der Anweisung des Vaters Folge zu leisten, ungeachtet der Einwände des Herrn Smythje, der ihre Gesellschaft der Zigarre sicher vorgezogen haben würde.

Aber ihr Vater wiederholte ungestüm: »Geh, Kind, geh!« und begleitete diese Worte mit einem anderen jener strengen Blicke, durch die sie bereits schon früher eingeschüchtert worden war.

Noch bevor sie die große Halle verlassen hatte, kehrten ihre Gedanken wieder zu der unbeantworteten Frage zurück. Als sie die Schwelle ihrer Kammer überschritt, konnte man sie murmeln hören: »Ich bin doch neugierig, ob der Vetter wirklich angekommen ist!«