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Nächtliche Jagd

Nächtliche Jagd

Müde saß ich in meinem Auto und war erleichtert, endlich den Heimweg antreten zu können. Meine Augen brannten und ich fragte mich, ob ich die rund einstündige Fahrt ohne Pause durchhielte. Hinter mir lag eine Betriebsfeier, die sich länger als befürchtet hingezogen hatte. Ich wollte nicht der Erste sein, der Abschiedsworte in die Runde rief, und so hatte ich bis nach Mitternacht warten müssen, bis endlich einige Kollegen aufbrachen. Mir lagen solche Feiern einfach nicht, vielleicht lag es am sinnleeren Gerede oder dem heimlichen Profilieren einiger Kollegen, zu dem es unweigerlich immer kam.

Genug jetzt, sagte ich mir und versuchte, meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Müde rieb ich über mein Gesicht und schaltete das Radio ein. Ich suchte eine Weile einen Sender, der eine einigermaßen annehmbare Musik spielte. Die Straße, die mich zur Autobahn brachte, lag dunkel und gerade vor mir und lud dazu ein, mit überhöhter Geschwindigkeit zu fahren. Bald sah ich die Rücklichter eines anderen Wagens vor mir, die Distanz betrug vielleicht noch zweihundert Meter und schmolz dahin. Ich konzentrierte mich auf das hypnotische Leuchten der roten Lichter und beschäftigte mich für einen Moment mit dem Gedanken, wer sich da außer mir sonst noch in dieser Einöde herumtrieb, in der man nichts Besseres tun konnte, als sie so schnell wie möglich hinter sich zu lassen.

Ich gähnte so ausgiebig, dass ich meinem Kiefer ein vernehmliches Knacken entlockte. Ich bewegte den Unterkiefer mit verzerrtem Gesicht einige Male hin und her und dachte, wie dumm das aussehen musste. Dann ließ ich das Fenster einen Spalt herunter und spürte sofort den Wind, der, klammen Fingern gleich, meine Haare in Unordnung brachte. Ein Schauer durchfuhr mich, aber ich wartete standhaft noch eine Weile, bis ich das Fenster wieder schloss.

 

Plötzlich zuckte ich überrascht zusammen und binnen einer Zehntelsekunde war jegliche Müdigkeit aus meinem Körper verschwunden. Der Wagen vor mir bremste plötzlich scharf, ich glaubte gar das Quietschen der Reifen zu hören, dann scherte er nach rechts aus, überquerte holpernd den schmalen Grünstreifen und fuhr schließlich auf dem Fahrradweg weiter.

Was ging dort vor sich?, überlegte ich und drosselte das Tempo, weil mir die Sache nicht geheuer schien. Vielleicht war dem Fahrer etwas zugestoßen und er versuchte nun, seinen Wagen von der Straße zu schaffen, bevor er die Kontrolle über das Fahrzeug verlor. Es kamen noch andere Möglichkeiten in Betracht, nach und nach zeigten sie sich mir. Ein Defekt. Ein Streit, vielleicht handfest und blutig. Ein Verbrechen mochte der Grund sein. Oder Lust.

Ich schloss meine Augen zu Schlitzen und konzentrierte mich auf den dunklen Wagen. Zwar war ich absolut kein Autoexperte, dennoch erkannte ich sofort, dass es sich um ein altes Modell handelte. Die kantige Form war alles andere als windschnittig und erinnerte mich an einen Volvo. Ich glaubte etwas in seinem Scheinwerferlicht zu sehen, konnte jedoch nicht erkennen, worum es sich handelte, da die Dunkelheit sich zu schnell wieder über diese Stelle stülpte.

 

Gleich darauf schwenkte der dunkle Wagen wieder auf die Straße zurück und fuhr weiter, als sei nichts geschehen.

Meine entfachte Neugierde war nun so groß, dass ich meinen Golf ausrollen ließ und ungefähr an der Stelle hielt, an der ich etwas zu sehen geglaubt hatte. Ich schaltete das Warnblinklicht an und klaubte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Vorsichtig stapfte ich über den Grünstreifen, der von den ausgiebigen Regenfällen der letzten Tage schlüpfrig geworden war.

 

Ich schnappte nach Luft, als ich im grellen Schein meiner Lampe ein blutiges Bündel auf dem Asphalt des Fahrradweges liegen sah. Für eine schreckliche Sekunde war mein Schädel vollkommen leer und ich starrte auf diesen Haufen aus Blut und Fleisch, ohne zu erkennen, worum es sich handelte. Doch dann dämmerte mir, dass es sich um einen Hasen handelte, dessen Leib noch zuckte. Aber ich bezweifelte, dass noch Leben in ihm steckte; und falls doch, war jegliche Hoffnung vergebens. Wie ein aufgeplatzter Sack lag er da und ich blickte mit wachsendem Entsetzen auf die Schlingen hervorquellender Eingeweide, die in warmen Farben schillerten. Das mir zugewandte Auge blitzte mich beinah hasserfüllt an, als sei ich nicht etwa bloß ein Zeuge dieser Gräueltat, sondern der Täter.

 

Ein Wagen fuhr hupend an mir vorbei und ich erwachte wie aus einer Schockstarre. Ich überlegte, was ich nun tun sollte. Ich konnte die Polizei informieren, aber mir war klar, dass ich überhaupt keine detaillierte Auskunft geben konnte. Außer der ungefähren Farbe und Form des Wagens wusste ich nichts, was eine Fahndung vorangetrieben hätte.

Ich benötigte mehr Informationen und ich beschloss, sie mir zu besorgen. Diese Untat durfte nicht ungesühnt bleiben, das war ich zumindest diesem armen Hasen schuldig. Ich überlegte, ob es nicht besser wäre, ihn zumindest in den Grünstreifen zu legen, entschloss mich jedoch dagegen. Der kleine Leichnam troff vor Blut und ich hätte mich unweigerlich damit besudelt. Daher ließ ich den Hasen dort liegen, wo er war und murmelte ihm einen leisen Abschiedsgruß zu. Insgeheim war ich jedoch erleichtert, ihn nicht anrühren zu müssen. Der Tod zeigte sich hier von seiner hässlichen Seite und ich wusste, dass er mich in den nächsten Tagen häufig in meinen Träumen besuchen würde.

 

Zwar hatte der Irre in der Zwischenzeit einen ziemlich großen Vorsprung, aber ich war zuversichtlich, dass ich ihn noch einholen konnte. Ich rannte zurück zu meinem Wagen und warf die Taschenlampe achtlos auf den Beifahrersitz. Mit quietschenden Reifen schoss mein Golf davon. Während ich mit über hundert Stundenkilometern durch die Nacht brauste, achtete ich mit gefletschten Zähnen und weit aufgerissenen Augen auf Rücklichter.

Und tatsächlich hatte ich schon nach kurzer Zeit das Auto vor mir, das mich vorhin hupend passiert hatte. Und vor ihm, noch durch eine kleine Distanz getrennt, fuhr der alte dunkle Wagen. Ich ballte im Triumph meine Linke zur Faust und schüttelte sie drohend.

»Ich krieg dich, du Schwein«, knurrte ich. Mir fiel auf, wie unsinnig es war, Missetätern Tiernamen zu geben, denn kein Tier hätte einem anderen auf solch bestialische Weise Leid zufügen können, dazu waren nur Menschen fähig. War dann also ganz im Gegenteil der Begriff Mensch als Beleidigung aufzufassen?

Ich schob diesen Gedanken beiseite, da die Verfolgung all meine Aufmerksamkeit erforderte. Wir näherten uns einer kleinen Ortschaft, auf deren Namen ich allerdings nicht achtete.

Ich stieß einen überraschten Laut aus, als der Blinker des vorderen Wagens aufleuchtete, doch nicht etwa der unbekannte Ort war das Ziel des Fahrers, sondern der Parkplatz vor einem Restaurant von McDonald´s, das zu dieser späten Stunde so gut wie leer war, wie ich nach einem flüchtigen Blick durch die Fenster erkannte. Ich passierte das Auto des Tierschänders, der nicht weit von der Eingangstür hielt, und fuhr bis zum Ende des Parkplatzes, wo die Dunkelheit schier undurchdringlich war.

 

Ich sah zwei Leute aussteigen, was mich wunderte, hatte ich doch insgeheim nur mit einer Person gerechnet. Wer teilte seine perversen Obsessionen schon gerne? Auf der Fahrerseite erkannte ich einen Mann, bei der anderen Person handelte es sich, soweit ich das aus der Entfernung sehen konnte, um eine Frau, die recht klein sein musste, da sie fast vollständig vom Wagen verdeckt wurde. Ich nahm nicht an, dass die beiden mich wahrgenommen hatten, die Dunkelheit tilgte mich und meinen Golf beinah völlig aus.

Nach einer Minute folgte ich ihnen. Der Wind pfiff unangenehm kalt über den Parkplatz und spielte in den schon kahlen Bäumen. Wenn er für einen Moment nachließ, klang er wie ein gefrustetes Seufzen in meinen Ohren. Ein Schauer durchfuhr mich, ich wusste nicht, ob es an der Kälte oder an der Furcht lag, die ich mir eingestehen musste. Mir wurde klar, dass ich, wenn ich das Restaurant nun betrat, tiefer in diese Sache verstrickt war, als mir lieb war. Ein Anruf bei der Polizei hätte nun genügt.

Eine Sekunde zögerte ich tatsächlich, doch dann zog ich die Eingangstür auf und betrat das Restaurant. Ein Schwall wohltuender Wärme empfing mich. Der Mann und seine Begleiterin kamen mir mit ihren Tabletts entgegen und steuerten auf einen Tisch zu, ohne mir Aufmerksamkeit zu schenken. Ich hatte zwar keinen Hunger, bestellte aber ein komplettes Menü, um nicht aufzufallen. Zumindest auf die Cola freute ich mich. Zwei, drei Tische von den beiden entfernt hing ich meine Jacke über einen Stuhl und setzte mich in Blickrichtung zu ihnen und tat so, als studiere ich mein Essen, während ich ihnen jedoch verstohlene Blicke zuwarf.

 

Der Mann wirkte vollkommen unsympathisch auf mich, und zu diesem Schluss wäre ich bestimmt auch gekommen, wäre ich nicht Zeuge seiner Untat geworden. Er trug sein Haar, das so dünn war, dass es kaum auffiel, exakt in der Mitte gescheitelt. Das schwammige Gesicht und seine Stirn glänzten speckig im Kunstlicht, das sich in seinen hellen Augen spiegelte. Er trug ein sandfarbenes Sakko, das an seinen Schultern schlecht saß und die ungesunde Farbe seines Gesichts noch verstärkte. Alles an ihm schien mir hässlich und blass, ein Buchhaltertyp, der sein ganzes Leben damit verbrachte, mit spitzem Bleistift Zahlenkolonnen einen Sinn zu geben. So ein Typ also machte sich einen Spaß daraus, harmlose Tiere zur Strecke zu bringen. Gefiel ihm das Geräusch des platzenden Körpers oder genügte ihm bereits die Vorstellung, dass er Herrscher über Leben und Tod war? Was trieb ihn?, fragte ich mich, und wie passte seine Begleiterin ins Bild? Sie wirkte deutlich anziehender auf mich. Ich schätzte grob, dass sie rund zehn Jahre jünger als der Mann sein mochte. Sie war nicht nur recht klein, sondern auch sehr schlank, aber keineswegs hager, und in ihren Augen stand ein warmer, gutmütiger Schimmer, der auch dann nicht verschwand, als ihr Blick einmal auf mir ruhte. Verrieten ihre Lippen dabei nicht den Anflug eines Lächelns oder verrannte ich mich da in eine sinnlose Spinnerei?

 

Sie wechselten gelegentlich Worte miteinander, aber das geschah so leise, dass ich außer Fragmenten nichts von ihrer Unterhaltung verstand. Aus der freudlosen Mimik der beiden schloss ich, dass es keine angenehmen Worte waren, was in mir ein leises Glücksgefühl auslöste. Ich ertappte mich dabei, dass ich viel zu oft und zu lange auf die Frau starrte, die zerbrechlich und stolz zugleich wirkte und von der etwas unleugbar Melancholisches ausging. Immer wieder strichen ihre Hände das schulterlange, braune Haar aus ihrem ernsten Gesicht, ohne dass sie selber es wahrnahm.

Meinen Hamburger ließ ich so gut wie ungetastet, lediglich ein paar bereits erkaltende Pommes klaubte ich aus der Tüte. Das Restaurant leerte sich nun rapide, und bald waren wir die einzigen Gäste. Hinter dem Tresen unterhielten sich lautstark die Angestellten, vielleicht wollten sie uns damit einen Hinweis geben, dass es Zeit zu gehen war.

Der Buchhaltertyp wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und sagte etwas zu der Frau. Dann rückte er den Stuhl zurück, dessen Beine quietschend über den Kachelboden rutschten, und ging zu den Toiletten. Das schlecht sitzende und obendrein knittrige Sakko schlotterte ihm am Rücken. Ich verzog missbilligend den Mund, als ich das sah.

Einem inneren Impuls folgend stand ich auf und ging nach einer Weile ebenfalls zu den Örtlichkeiten, die nahe der Eingangstür lagen. Die Frau würdigte mich scheinbar keines Blickes.

 

Die Kabinen waren alle leer, der Mann stand vor einem Pissoir und wandte kurz den Blick, als ich den Raum betrat, dann widmete er sich mit gerunzelter Stirn wieder seiner Beschäftigung. Ich hatte gar nicht die Absicht, mich zu erleichtern, daher blieb ich mit verschränkten Armen neben ihm stehen und musterte ihn.

Unwirsch fragte er mich mit einer unangenehm hohen Stimme: »Ist was?« Er zog eilig den Reißverschluss seiner Hose hoch und trat einen Schritt zurück. Seine blauen Augen musterten mich unfreundlich.

»Ich weiß, was Sie getan haben«, sagte ich.

»Bitte?« An seinem Blick konnte ich erkennen, dass er mich für einen Irren hielt; eine totale Umkehrung der Tatsachen, wie ich genauso gut wusste wie er.

»Machen Sie das häufiger?«

»Was?«

»Tiere überfahren. Hasen, zum Beispiel. Was gibt Ihnen das? Brauchen Sie das, um sich abzureagieren?«

»Mein Gott, Sie sind ja verrückt.«

»Was sagt Ihre Frau dazu?«

»Meine … Was meine Frau dazu sagt?« In seiner Stimme gluckste es wie in einem alten Abflussrohr. »Sie würde mir zustimmen und Sie ebenfalls verrückt nennen.«

»Ich hab es gesehen, Mann!«, herrschte ich ihn nun an und kam drohend einen Schritt näher. »Sie sind über den Grünstreifen gefahren und haben einen Hasen überfahren. Ich hab angehalten und mir die Schweinerei angeguckt. Ich bin sicher, die Polizei findet ohne weiteres Spuren an Ihrem Wagen.«

 

Meine bedrohliche Präsenz behagte dem Mann ganz und gar nicht. Er war gut und gerne zehn Zentimeter kleiner als ich und konnte mit seinen Buchhaltermuskeln gewiss nichts gegen mich ausrichten. Flinken Schrittes trat er einige Meter zurück. Dann jedoch erkannte ich seine wahre Absicht. Aus seiner Hosentasche holte er einen Gegenstand, den ich Sekunden später als Messer identifizierte, dessen Klinge scharf genug wirkte, um aus diesem Raum ein Schlachthaus zu machen. Nun schien diese Angelegenheit, so lächerlich es auch anmutete, zu eskalieren. Ich schätzte meine Möglichkeiten ab. Zur Tür waren es drei oder vier Meter, eine Distanz, die ich ohne Probleme überwinden konnte. Aber mir behagte die Vorstellung nicht, dass ich dem Mann dann den Rücken zukehren musste.

»Stecken Sie das Messer weg! Sie machen sich ja lächerlich!«

»Holen Sie es sich doch!«, höhnte er und fuchtelte mit dem Messer herum, das wie ein Phallus aus seiner gepflegten Hand ragte. Für eine Sekunde sah ich seine blasse Zunge von einem Mundwinkel zum anderen huschen und es hätte mich nicht gewundert, wenn ihre Spitze gespalten gewesen wäre.

 

Die nächsten Sekunden nahm ich aus der Sicht eines gebannten Kinobesuchers wahr, der die nächsten Aktionen zwar vorausahnen aber nicht steuern konnte. Ich machte einen großen Schritt auf den Mann zu, mein linker Arm schnellte nach vorn und schlug seine Messerhand zur Seite, wobei mich die Klinge nur um wenige Zentimeter verfehlte. Dann hieb ich ihm mit der rechten Faust mit aller Kraft gegen die Brust. Dem Mann entwich keuchend die Luft und seine blassen Augen weiteten sich vor Angst und Schmerz. Er torkelte mit ungelenken Kleinkindschritten nach hinten. Dabei verhakten sich seine Füße und er verlor das Gleichgewicht. Wie in Zeitlupe kippte er nach hinten, einen Arm zur Seite gestreckt, den anderen, der das Messer hielt, unverwüstlich auf mich gerichtet. Wenn seinem Fall etwas Graziöses anhaftete, dann verpuffte dieser Eindruck, als sein Hinterkopf dröhnend gegen die Ecke des Heizkörpers stieß. Der Mann gab einen seufzenden Klagelaut von sich, doch sein Sturz war noch nicht beendet. Ungelenk fiel er zu Boden und sein Kopf prallte ungemildert auf den harten Kachelboden. Erneut seufzte der Mann und verdrehte die Augen. Endlich öffnete sich seine Messerhand und die Waffe fiel ebenfalls zu Boden. Etwas Kleines, Fleischiges rutschte nässend an seinem Kinn entlang und ich runzelte die Stirn. Erst als Blut über die offenen Lippen troff, begriff ich, dass er sich die Spitze seiner Zunge abgebissen hatte.

Schockiert sah ich das Blut, das sich auch unter seinem Schädel ausbreitete und Kachel um Kachel austilgte. Die grell-radikale Veränderung der Situation überforderte mich hoffnungslos. Ich spürte, wie Übelkeit in mir aufstieg; den Anblick von Blut hatte ich nie gut verkraftet, und in dieser Menge, die einer Flut glich, klopfte es mir die Beine weich.

»Hallo?«, murmelte ich leise und schalt mich gleich darauf einen Idioten. Erst jetzt bemerkte ich, dass seine Augen halb offen standen und an mir vorbei ins Nichts starrten. Das konnte doch nicht sein! Wie hypnotisiert blickte ich auf das ganze Blut, das seine Gesichtszüge ausradierte.

 

Ich musste verschwinden. Auch wenn das Ganze nur ein unglücklicher Unfall gewesen sein mochte, war mir dennoch klar, dass ich nicht ungeschoren aus dieser Sache herauskäme. Ich musste fort von hier, bevor es Zeugen gab. Zumindest die Frau musste bald ungeduldig werden. Möglicherweise bat sie bereits jemanden vom Personal, nach dem Rechten zu sehen.

Ich hastete davon und erhaschte einen kurzen Blick von mir in der Wand aus Spiegeln über den Waschbecken.

Mein Gott, Sie sind ja verrückt!

Das waren die Worte des Toten gewesen, und als ich mein Gesicht sah, konnte man meinen, er habe recht mit dieser Einschätzung. Die Veränderung war beängstigend und für einen Moment glaubte ich, ich blicke in einen manipulierten Spiegel, der so etwas bewerkstelligen konnte. Meine Augen! Sie glommen unstet aus tiefen Höhlen und meine Nasenflügel waren gebläht wie die eines Tieres, das seinem grinsenden Schlächter begegnete. Mein Mund bildete einen halb offenen, nach unten gerichteten Bogen, traurig und verloren wirkte er und zu keinem Lächeln mehr fähig.

Dann war ich endlich an den Spiegeln vorbei und die Bilder erloschen, zumindest für den Augenblick. Bevor ich die Tür zum Restaurant aufriss, sammelte ich all meine Kräfte und bemühte mich, das Bild eines typischen Gastes zu vermitteln: satt und zufrieden. Kurz bevor sich die Tür hinter mir schloss, warf ich einen Blick zurück und sah die Leiche zusammengekrümmt hinten an der Wand liegen. Die Finger einer Hand deuteten auf mich und irgendwie befürchtete ich, dass dies als Fluch zu verstehen war.

 

Wie ein Schatten in der Nacht huschte ich durch die nächste Tür und stand einen Moment später auf dem Parkplatz, nicht ohne vorher noch rasch zur Frau gespäht zu haben, die sichtlich nervös an ihrem Tisch saß und bereits ihren Mantel trug.

Nur noch zwei Autos standen auf dem Parkplatz, ihres und meines. Ich steuerte auf den dunklen Wagen nicht weit von der Tür entfernt zu. Dies war zwar nicht die direkte Strecke, aber ich erhoffte mir so ein wenig Deckung. Nun erwies es sich als Fehler, dass ich meinen Golf in der äußersten Ecke des großen Parkplatzes abgestellt hatte.

Da ich nicht ausschließen konnte, dass mich durch die großen Fenster jemand sah, vermied ich es zu rennen, um keinen Verdacht zu erregen. Beim Näherkommen erkannte ich beiläufig, dass es sich um einen Rover handelte. Das Auto wirkte trotz seines Alters sehr gut gepflegt, im Gegensatz zu meinem Golf fand ich keinen Kratzer im Lack, der geheimnisvoll im Licht der nahen Laterne schimmerte. Ich bedauerte fast, dass ich nicht für eine Weile die charakteristische Form der Karosserie bewundern konnte. Ich warf einen vagen Blick ins Innere und war bereits zwei, drei Schritte weitergehastet, als ich wie erstarrt stehen blieb.

Nein!, gellte es in meinem Kopf, das Wort blitzte in meinem Kopf auf, wieder und immer wieder. Das konnte nicht sein, das musste ein Irrtum meiner überforderten Sinne sein. Ich drehte mich um und starrte mit weit aufgerissenen Augen durch die Windschutzscheibe auf das Lenkrad, das sich auf der rechten Seite befand, wie es bei Autos, die für den britischen Markt hergestellt worden waren, üblich war. Ein kalter Schauer aus Panik ließ mich mit den Zähnen klappern, während ich auf den ungewohnten Anblick des seitenverkehrten Steuers starrte. Eine Sekunde lang stellte ich mir vor, ich sähe das ernste Gesicht der Frau hinter der Scheibe.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich so stand und starrte und unmerklich mit dem Kopf schüttelte und die Wahrheit immer wieder zu widerlegen versuchte, was mir jedoch nicht gelang. Irgendwann hörte ich die Tür des Restaurants leise quietschen und instinktiv ging ich in die Hocke und verbarg mich hinter der hohen Front des Rovers.

»Ist dort jemand?«, hörte ich die Stimme der Frau, die mich veranlasste, mich noch tiefer zu ducken. In der Stille hörte ich den vereinzelten Autoverkehr, der mich daran erinnerte, dass einen Steinwurf entfernt das Leben seinen ganz normalen Lauf nahm. Nur eines überfahrenen Hasen wegen befand ich mich nun in dieser Lage. Warum nur hatte ich nicht einfach die Polizei informiert? Ich nahm den Geruch von Öl und Benzin wahr und es schien mir beinah, der Wagen könne jeden Moment zu unseligem Leben erwachen. Die Kühlerfront wirkte aus der Nähe wie eine Phalanx aus Reißzähnen im Maul einer prähistorischen Bestie.

Ich hörte den zögerlichen Takt ihrer Schritte auf dem Asphalt. Für einen Moment spürte ich den wahnwitzigen Impuls, auch die Frau zu töten, doch ich kämpfte ihn nieder. Als sie am Heck des Wagens anlangte, sprang ich endlich auf und hastete mit weit ausholenden Schritten davon.

»Halt!«, rief sie. »Wer sind Sie? Bleiben Sie stehen!«

Schneller, dachte, ich, schneller! Da ich sportlichen Aktivitäten stets mit großer Skepsis begegnet war, raste mein Atem bereits nach wenigen Metern und ich spürte ich einen scharfen Schmerz in meiner Wade, als sei dort ein Krampf im Anmarsch. Doch ich sah meinen Golf in erreichbarer Nähe stehen und das mobilisierte meine letzten Kräfte. Ich wusste, dass ich es schaffen konnte. Doch dann, wie aus dem Nichts, durchzuckte mich die Erkenntnis, dass die Autoschlüssel in der Innentasche meiner Jacke steckten, die im Restaurant über der Stuhllehne hing.

»Scheiße!«, stieß ich heiser aus. Schweiß lief mir über das Gesicht. Hastig drehte ich mich um, als ich einen Motor aufheulen hörte. Was ging hier nur vor sich?, dachte ich. Das konnte doch nur ein schlechter Traum sein. Ausgebrannt geriet ich ins Straucheln, hielt mich aber auf den Beinen, in denen jeder Muskel zum Zerreißen gespannt war.

 

Hinter mir setzte sich der schwere Wagen mit einem aggressiven Grummeln in Bewegung und war binnen weniger Sekunden mit mir auf einer Höhe. Die Motorhaube kam links von mir in mein Blickfeld. Ich warf einen Blick über die Schulter und erfasste für einen Moment die Frau, die zum Greifen nah war. Ich wedelte mit meiner Hand, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen und ihr zu bedeuten, dass ich mich ergab und alles täte, was ihr in den Sinn kommen mochte.

Aber sie achtete nicht auf mich; stattdessen blickte sie nach vorn durch die Windschutzscheibe, während ein feines, beinah aristokratisches Lächeln auf ihren Lippen saß, das Vorfreude und Triumph gleichermaßen ausdrückte. Ich sah, dass ihre Hände eine sachte Korrektur am Steuer vornahmen und sogleich reagierte der Wagen und kam mir bedrohlich nah. Da meine Kraftreserven völlig aufgebraucht waren, genügte das bereits, um mich zu Fall zu bringen. Der Sturz hatte beinah etwas Erleichterndes, wenngleich mir der raue Asphalt die Hände aufriss und mir die Haut von Wange und Stirn schliff. Ich überschlug mich mehrere Male und rang verzweifelt nach Atem. Blut lief mir in die Augen und machte mich einen verstörenden Augenblick lang blind.

 

Ich verlor jegliche Orientierung, nur das Geräusch des Motors war noch eine klare Konstante. Hastig blinzelte ich das Blut fort und blickte um mich und sah den Rover auf mich zurasen. Ich rollte mich weg von ihm, was mir wie eine sinnlose Aktion vorkam, doch es gelang mir. Lediglich meinen linken Arm bekam ich nicht schnell genug fort. Die beiden Räder auf der rechten Seite rollten über meinen Unterarm. Ich hörte das Knirschen und Splittern der Knochen und die Welle des Schmerzes trieb mich beinah in den Wahnsinn. Ich öffnete den Mund, doch ich schrie nicht, weil das Geschehen mich vollkommen lähmte. Mit weit vorquellenden Augen starrte ich auf den Rest meines Arms, der vom Handgelenk bis zum Ellenbogen in ein neues unmögliches Kleid aus Blut, Fleisch und bizarren Knochensplittern gezwängt worden war. Schlimmer noch als das kamen mir meine beinah unversehrten Finger vor, die einen panischen Takt auf den Beton klopften, als wäre der wahnsinnige Geist eines Pianisten in sie gefahren.

 

Der Rover fuhr eine weitläufige Schleife und näherte sich mir schließlich von hinten. Ich war verloren, das wusste ich. Ein vager Blick auf meinen zerstörten Arm sagte mir das. Ich besaß nicht einmal mehr die Kraft, ihn vom Asphalt zu lupfen, er klebte mit dem herausströmenden Blut und dem Fettgewebe am Beton fest; zumindest schien es so. Selbst meine Finger waren nun zur Ruhe gekommen, nur noch ein müdes Zucken gaben sie von sich, blutleer und schlaff, wie sie waren.

Der Rover stand nun genau hinter mir, das rechte Vorderrad schon zwischen meinen gespreizten Beinen. Die Mörderin würde an mir und meinem Körper, in dem es unzählige Knochen zu brechen gab, mehr Freude haben als an hundert Hasen, die nur ein müder Abklatsch sein konnten.

Ich hätte gerne noch einmal ihr Gesicht gesehen, das im Moment wahrscheinlich ernst war und vor Konzentration glühte. Ein schöner, erstrebenswerter Anblick zum Abschied, doch er wurde mir verwehrt. Der Angriff kam urplötzlich, roh und gnadenlos, und verwirbelte die Welt vor meinen Augen zu einer blutroten Spirale, die mich mühelos aufsaugte und meine Existenz auslöschte.

(kf)