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Der Welt-Detektiv Band 6

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Begegnungen

Begegnungen

Unzählige Schwerverwundete lagen stöhnend und an ihrem Blut erstickend auf nur notdürftig hergerichteten Lagerstätten.

Pater Bishop stand inmitten der vielen zerschossenen und von der Wucht der Hotchkisskanonen aufgerissenen Leiber der Frauen und Kinder. Mit Tränen in den Augen sah er auf das über ihm angebrachte hölzerne Kreuz, hoch über der so unendlich weit von ihm fortgerückten und fremd gewordenen weihnachtlich geschmückten Kanzel. Teilnahmslos blickte die handgeschnitzte Figur Christi auf die sich vor Schmerzen windenden und hinsterbenden Menschen hinunter.

Konnte dies dort wirklich sein Gott sein, da er so etwas zuließ? Verzweifelt sah er noch einmal auf das Kreuz und blickte anschließend Hilfe suchend in die Runde. War denn da niemand, der an ihn herantrat und ihn vom Gegenteil überzeugen wollte? Sein sonst so fester unbeirrbarer Glaube geriet durch das vor ihm liegende Elend mehr als nur leicht ins Wanken.

Innerhalb weniger Stunden war die Welt, wie sie Pater Ernst Bishop zu kennen glaubte, in sich zusammengebrochen und auf seltsame, irgendwie geheimnisvolle Weise fühlte er sich sogar mit diesen bedauernswerten Menschen zu seinen Füßen verbunden. Oh ja, sie hatten etwas gemeinsam, – waren sie nicht genau wie er von ihrem Gott verlassen worden? Nun spielte es keine Rolle mehr, welcher es nun war, oder wer er war, dieser, der Eine, der so etwas zuließ. Er war nicht länger der Seine, in dessen Namen diese Taten begangen wurden, der wirkliche eine Gott, der seine Augen und Ohren verschlossen hielt, wenn seine auserwählten weißen Kinder zu wilden tollwütigen Tieren wurden. Bishop begann verzerrt zu lächeln. Oh nein, es waren keine wilden Tiere. Tiere taten ihresgleichen so etwas nicht an. Sie töteten nur, um zu fressen, um zu überleben. Wurden diese Menschen getötet, weil man sie essen wollte?

Angewidert sah er zu dem mit alten roten Ziegeln ausgelegten Boden der kleinen Kapelle. Welch ein Glück, dachte er ironisch in sich hineingrinsend, das versickernde Blut der Lakota würde, nach dem es getrocknet wäre, auf den Ziegeln überhaupt nicht mehr auffallen.

Seine Blicke trafen sich mit einer, sicher bis vor wenigen Stunden noch recht hübsch gewesenen, jungen Lakotafrau, die ihr schlafendes Kind liebevoll in den Armen wiegte. Es mochte, der Größe nach zu urteilen, kaum älter als ein, höchstens aber anderthalb Jahre alt sein. Es berührte ihn zutiefst, wie das Kleine so selig in all dem Chaos tief und fest schlief. Das Kind wirkte auf ihn beruhigend, da Gott es offensichtlich verschont zu haben schien, wie das letzte erlösende Licht am Tor zur endlosen Finsternis. Aber irgendetwas störte ihn an diesem doch so friedlichen Anblick.

Der leblose Ausdruck in den Augen der Frau fügte sich trotz der vergangenen traumatischen Ereignisse nicht in das Gesamtbild von Mutter und Kind hinein. Eingehender betrachtete er nun die Mutter mit dem blutverschmierten Gesicht.

Erleichtert sah er, wie sie, zwar mehr wie ein Geist, aber dennoch mit den Augen blinzelte. Sie lebte also doch noch. Tief atmete er durch. Von aufkommender Übelkeit übermannt hielt er sich eiligst, sein mit zarten Rüschen besetztes Taschentuch vor die Nase. Es roch nach Blut, menschlichem Blut, nach weit klaffenden todbringenden und eiternden Wunden, wie die in seinem Herzen.

Er schämte sich und fühlte sich so unendlich schuldig, denn er war weiß, viel zu weiß für einen gläubigen Menschen. War er nicht derjenige gewesen, der diese heidnischen Wilden zum Christentum bekehren wollte?

Langsam beugte er sich zu der Frau und ihrem Baby hinab. Ganz behutsam redete er sachte auf sie ein, um sie nicht mit seinem plötzlichen Auftauchen zu erschrecken. Als sie dann unvermutet zu ihm aufsah, fiel die kleine und zu dieser Jahreszeit eigentlich viel zu dünne Decke des Babys herunter.

Er erschrak. »Sofort einen Arzt! Schnell! Ist denn hier niemand, der helfen kann?«, schrie er mit weit hallender Stimme immer wieder durch die Kapelle.

Die Hand der jungen Mutter, mit der sie ihr Baby im Rücken hielt, war ebenfalls völlig von verkrustetem Blut, welches von ihrem Kind durch ihre Finger geronnen war, verschmutzt. So verzweifelt hatte sie versucht, die Blutung zu stoppen, bis der zarte Herzschlag ihres Babys nicht mehr zu spüren war. Bishop wich zurück, als er nun in den verlorenen Glanz eines trüben Augenpaares blickte. Mit offenem Mund starrte er auf den leblosen und blutleeren Körper des Kindes. Helfen, er wollte helfen, irgendetwas sagen zu der Mutter, die noch gar nicht zu begreifen schien, dass sie neben all ihren anderen Verwandten und Angehörigen nun auch noch ihr Kind verloren hatte. Little Pearl sah den Priester an, als ob sie die Ohnmacht des fremden Mannes spürte. Sie lächelte ihn vergebend an, – dann fiel sie vorne über und blieb regungslos über ihrem toten Kind liegen. Bishop sprang entsetzt zurück. Ein Horrorszenario jagte das Nächste. Der Rücken, oder dort wo der Rücken der Frau hätte sein sollen, war nur noch ein Wirrwarr aus blutdurchtränkten Stoff- und Hautfetzen. Wie hinter einer Wand aus Wasser sah der Mann Gottes die tiefen Einschnitte und Hiebe eines Armeesäbels auf dem Rücken der Frau.

Vor seinem geistigen Auge wurde der Hergang der Tat noch einmal zu neuem Leben erweckt und begann mit all seiner Grausamkeit an ihm vorbeizurauschen. Gnadenlos hatte ein junger Offizier auf sie eingehackt, als sie mit nichts weiter als ihrem Körper versucht hatte, ihr schwer verwundetes Kind vor weiteren Verletzungen zu schützen.

Sonderbar, Bishop wunderte sich über sich selbst, aber er fühlte sich, nun da der Leidensweg der jungen Lakota beendet war, irgendwie erleichtert. Er taumelte fast schon geistesabwesend in Richtung des Ausganges weiter durch die Kapelle und den darin immer leiser werdenden und nach Wasser bettelnden Menschen. Helfend reichte er schon mehr mechanisch einem nach dem anderen die metallische und fast verrostete Schöpfkelle mit dem gewünschten Wasser.

Ein kleines Mädchen, neben ihrer geistesabwesenden Großmutter und am Boden liegenden toten Mutter sitzend, sah mit verweinten Augen zu ihm auf. Sofort beugte er sich zu ihr und ihrer Großmutter hinunter und begann mit beruhigenden Worten, wenn es diese überhaupt in einer solchen Situation geben konnte, auf beide einzureden.

Beschützend schloss die alte Frau augenblicklich ihre Enkelin in ihre Arme, was Bishop aus seiner Starre erwachen ließ. »Mni? Wasser«, fragte er vorsichtig, als er nun etwas näher an das Mädchen und seine Großmutter herantrat, fast schon ein wenig ängstlich, als ob sie ihn anschreien könnten, wenn er sie zu laut ansprechen würde. Die Kleine nickte, und streckte dem Priester flehend ihre dünnen verhungerten Ärmchen entgegen.

Er konnte nicht anders, aber als sie gierig nach der Kelle grapschte, musste er es einfach tun und ihr behutsam über das schwarzblaue seidenweiche Haar streicheln. Sie begann leise zu wimmern. Sofort trat er wieder etwas zurück, denn er wollte sie nicht noch weiter verängstigen oder zu nahe treten. Sein Herz schnürte sich ihm plötzlich ruckartig zusammen und verkrampfte sich, als er den wahren Grund bemerkte, weshalb die Kleine weinte.

Ein rötlich wässriges Rinnsal trat aus einer vorher kaum wahrnehmbaren Wunde am Hals des kleinen Mädchens aus.

Entsetzt griff sich Bishop an sein an einer dünnen goldenen Kette befestigtes Kruzifix, welches er bis zum heutigen Tage immer so voller Stolz getragen hatte. Sein Griff schnürte sich immer fester und fester um das Kreuz zusammen, bis sich der Schmerz, als sich die scharfkantigen Ecken des Kruzifixes in seine Handfläche bohrten, in sein Bewusstsein schlich.

Er musste raus, raus an die Luft und sei es auch nur für einen Augenblick, bevor er wieder in die kleine Kapelle zurück konnte.

Beim Hinausrennen lief Bishop Col. Mc Teak fast über den Haufen, der ihn sogleich mit nach Fusel stinkendem Atem und gläsernem Blick anzusprechen gedachte.

»Na hopsala Pater Bishop! Ich hoffe, Sie sind mit uns zufrieden, He? – Haben wir es diesen heidnischen roten Niggern nicht prächtig besorgt, was? Ähm. Tut mir übrigens leid, das mit ihrer schönen Kirche, rülps, hoffe, wir kriegen diese unglaubliche Sauerei wieder weg, was? – Tja, wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich die gesamte Brut allesamt zur Hölle geschickt, – aber da hatten sie dieses Dreckspack auch schon hier untergebracht. Aber na ja, die Welt ist mit Sicherheit nun dank unserer tapferen Jungs von der Siebten, ein ganzes Stück besser geworden, wo es doch jetzt einen ganzen Haufen weniger von diesen roten Dreckschweinen gibt. Ha, ha!«

Mc Teak rülpste noch einmal ungeniert, bevor er sich umwandte, um seinem Sergeant schulterklopfend für den heldenhaften Einsatz am Wounded Knee zu gratulieren. »Gibt bestimmt ein paar hübsche Orden mein Bester …«, hörte Bishop noch die letzten Gesprächsfetzen, bevor sich der Colonel und sein Sergeant mit wankenden Schritten aus seinem Gesichtskreis entfernten.

Regungslos sah Bishop die Beiden hinter der kleinen aufgeschichteten Steinmauer an der Wegbiegung verschwinden. War das wirklich derselbe Mc Teak gewesen, den er zu kennen glaubte? Noch recht deutlich, fast zu deutlich, sah er ihn und seine noch junge rothaarige Frau vor sich, wie sie am Weihnachtsabend die Messe besuchten. Derselbe Mann, der vor wenigen Stunden unzählige Frauen und Kinder mit Schrapnells zerfetzt und in Stücke geschossen hatte, hielt während des Gottesdienstes seine kleine Tochter in ihrem weißen Rüschenkleid liebevoll fest und sang mit ihr »Lobet den Herren« und »Friede auf Erden!« War das wirklich der gleiche Mann, der sich Christ zu nennen pflegte, nie einen Gottesdienst verpasste und im selben Atemzug Hunderte von halb verhungerten Frauen und Kindern kein Fünkchen Mitleid entgegenzubringen imstande war? Alle schienen sie wahnsinnig geworden zu sein.

Die Welt stand Kopf.

Niemand der wirklichen ein bis zwei Christen, unter den vielen angeblich gläubigen Menschen, hier am Wounded Knee, die Bishop halfen, achtete in den kommenden Tagen sonderlich auf die Kleidung des jungen Priesters. Man nahm wohl an, Pater Bishop wolle seine Soutane nicht noch mehr beschmutzen, als er in einer naturgegerbten ledernen Hose und Baumwollhemd unter seiner dicken Winterjacke hingebungsvoll die wenigen Verwundeten pflegte, die das Massaker überlebt hatten. Endlich nahm das Sterben ab, aber es war ja auch fast niemand mehr übrig, doch Bishop sah sich dennoch nicht in der Lage, die wenigen Überlebenden zu zählen.

Noch ahnte niemand, dass ihr junger Priester die schwarze Robe und sein Kruzifix, welches er in Form mehrerer kleiner Narben noch sehr lange in seiner rechten Handfläche behalten sollte, nie mehr tragen würde.

Eine Nachricht vom direkten Ort des Geschehens ließ Bishop dann doch noch ein letztes Mal seine für sich bereits getroffene Entscheidung überdenken.

Wie durch ein Wunder hatte mitten im Schnee, Eis und Frost ein Neugeborenes drei Tage den Naturgewalten getrotzt und hatte tatsächlich überlebt.

Gott allerdings war hier auch gestorben, an der Seite der Miniconjou, aber Tunkashila hatte das Kleine beschützen können. Er lächelte und begann sich nach seinem zu Hause zu sehnen. Dort, wo auch zwei uralte Männer mit ihren über einhundert Wintern saßen, und darauf warteten, dass er heimkehrte, um endlich ihre perlenbesetzten Mokassins anziehen zu dürfen.

Was also tat er hier noch? Ernst lächelte, als vor seinem geistigen Auge die Gesichter der Menschen auftauchten, die in seinem Leben wirklich wichtig waren.

Schon bald, wenige Tage nach Neujahr, ratterte dann ein Vierergespann mit noch auffällig neuer und blendend weißer Plane über die winterlichen und nur leicht verschneiten, dafür aber bitterkalten Plains in Richtung Norden davon.

Immer wieder hielt Bishop an, um nach den in warmen Decken gehüllten Kindern zu sehen.

Seit den vergangenen Ereignissen stand für ihn fest, dass er zurück auf die Farm zu seiner Familie nach Minnesota gehen würde.

Welcher Teufel hatte ihn nur geritten? Wie würden seine Eltern und erst seine Geschwister reagieren, wenn er mit den fünf Waisenkindern dort ankam? Aber hatte er eine andere Wahl gehabt? Sie hatten alles und jeden verloren und die wenigen Überlebenden hatten genug mit sich alleine zu tun, während sie um ihr Überleben kämpften und einer recht ungewissen Zukunft entgegengingen. Nur zu gut konnte sich Ernst Bishop an die stinkenden und verdorbenen Lebensmittellieferungen erinnern, die für das Reservat bestimmt waren. Jeder, der mit den Warenlieferungen zu tun hatte und durch dessen Hände die Begleitpapiere gingen, verdiente daran. Wenn dann endlich auf vielen Umwegen der Rest ankam, meistens weniger als zehn Prozent der zustehenden Rationen, waren sie nicht mehr genießbar.

Viele der Lakota, wenn sie nicht an Skorbut oder Cholera starben, verhungerten einfach, obwohl die Lager der Agenturen bis unter die Decken gefüllt waren.

Aber nicht diese fünf Kinder, hatte er sich geschworen. Seit er jedem von ihnen vor wenigen Tagen nur im Vorbeigehen einen bereits mehligen Apfel reichte, ließen sie ihn nicht mehr aus den Augen. Ständig umringten sie ihn, als ob er in sich eine letzte Hoffnung tragen würde. Ihre kleinen gequälten Stimmen hallten ihm immer noch in seinen Ohren, als sie erfuhren, dass er fortgehen würde.

»Wieso willst du fort? Nimmst du uns nicht mit? Wir dachten, du bist anders …!«

Niemand hatte bemerkt, als er die drei Jungen und beiden Mädchen heimlich versteckte. Sollten sie doch wie all die anderen auf eigens eingerichtete Indianerinternate gebracht werden, um dort vollends zu zerbrechen. Aber Ernst Bishop hatte vorgesorgt.

Die Spenden der Gemeinde, gerade während der Feiertage, waren wie jedes Jahr ungewöhnlich großzügig ausgefallen, wenn alle krampfhaft versuchten, ihre verborgene Schuld zu bezahlen, um sich dann »ehrlichen Herzens« weihnachtliche Gefühle zu erkaufen.

Nun allerdings würden sie wohl bis nächstes Jahr mit ihrer beschissenen neuen Glocke warten müssen. Bishop grinste in sich hinein, als er sich die blöden suchenden Blicke, nach den zu Ostern von den anliegenden Farmern und Soldatenfamilien ergaunerten Dollars vorstellte. Niemand wusste, dass er es wusste, dass dieses Geld existierte, also würde ihn auch niemand verdächtigen. Außerdem hatte er nie finanzielle Sorgen gehabt, da er allgemein bekannt, von einer sehr wohlhabenden deutschen Familie abstammte.

Kaum jemand konnte je verstehen, dass gerade er in dieser Einöde ein Mann Gottes geworden war.

Nun, als er gehen wollte, meinten viele, dass er endlich zur Besinnung gekommen sei, da es ohnehin keine freien Wilden mehr gab, die man mit Güte bekehren konnte. Jetzt, da sie besiegt waren, brauchte man es ihnen nur noch zu befehlen, was sie zu glauben hatten.

Ernst freute sich ehrlichen Herzens, das er sich nach langem Hin und Her doch noch dazu durchgerungen hatte. Bezahlten nicht so die Familien der sogenannten Helden von der Siebten nicht wenigstens einen kleinen Teil ihrer Schuld ab, wenn sie dabei halfen, den fünf Waisen unter die Arme zu greifen? Außerdem gab es noch etwas anderes, sehr wichtiges zu tun.

Etwas besser gelaunt als noch vor wenigen Minuten passierte er nach einer kleinen, welligen, kaum mit schneebedeckten Bodenerhebung ein kleines Lager von etwa dreißig mit Segeltuch oder Leinwand bespannter Tipis. Mit nichtssagenden, leeren und glanzverlorenen Blicken näherten sich bereits einige Menschen dem ankommenden Fuhrwerk.

Bishop lenkte sein Gespann fast bis zur Mitte des Dorfes, als die Menschen um ihn herum ein Weiterkommen nicht mehr möglich machten. Er hatte die gefunden, die er gesucht hatte und bereits einige wenige von ihnen wiedererkannt, die hier eine letzte Zuflucht bei einer anderen Gruppe Lakota gefunden hatten.

Mit gierigen, meist vom Fieber glasigen Augen, in den vom Hunger viel zu groß gewordenen Höhlen und viel zu dünnen Armen nahmen die Menschen in ihren zerlumpten und feuchten Baumwolldecken schweigend die Waren entgegen, da sie sicher annahmen, eine der seit Ende des vorletzten Mondes überfälligen Nahrungsmittellieferungen sei doch noch angekommen. Bishop schämte sich. Hätte er doch nur mehr Waren für die Lakota eingekauft, aber er wollte auch keinen Verdacht bei Fred, dem Händler erregen, der ihn ohnehin schon mit argwöhnischen Blicken bedachte. Kein Unbefugter hatte das Recht, diese hässlichen Wilden zu »füttern« und er war ab sofort unbefugt.

Es zerriss ihn fast, als er das letzte Säckchen Mehl an die Hungernden verteilte. Immer wieder zermarterten ihm seine Gedanken das Gehirn. War er jetzt nicht auch schuldig? Verlängerte er mit seinen Lebensmitteln nicht nur unnötig die Qual der vor Hunger und Krankheit Sterbenden?

Ohne Worte, aber mit dankbaren Blicken gaben die Lakota Bishop den Weg wieder frei, als sich sein Gespann langsam wieder in Bewegung setzte.

Er fühlte sich schlecht und schuldig, in seiner Ohnmacht nicht mehr für diese Menschen tun zu können.

Doch gerade, als er das letzte Tipi am Rand des Dorfes erreichte, trat ihm eine junge Frau abrupt in den Weg. An der Hand zerrte sie ein kleines, vielleicht fünf oder sechs Jahre altes Mädchen hinter sich her. Bishop hielt an und sprang von seinem Kutschbock herunter.

Bevor auch nur ein Wort gewechselt wurde, eilte er zum hinteren Ende des Wagens und kramte einen alten Leinensack unter den Decken hervor. Klappernd stellte er ihn auf den nassen vom Schneematsch bedeckten Boden. »Es sind Konserven«, sprach er die junge Frau freundlich an, »mehr habe ich leider nicht, ist aber bestimmt besser als gar nichts. Waste?«, fügte er noch fragend in Lakota hinzu.

Die Frau lächelte schmerzverzerrt zurück und schüttelte ihren zierlichen und früher einmal hübsch gewesenen Kopf. »Nein, das ist es nicht!«

»Sagst du mir, was es dann ist?«

»Hier!« Vorsichtig schob sie ihre kleine Tochter zu Bishop hinüber.

»Ich verstehe nicht!«

»Nimm sie mit!«

Bishop sah sich vorsichtig nach allen Seiten um.

»Was? Woher …«

»Nur wir wissen es, sonst niemand!«, beruhigte sie ihn.

»Aber sie ist doch deine Tochter, warum willst du sie fortschicken? Mit mir? Einem Wasicun?«

»Ich schicke sie nicht fort! Ich rette sie! Sie geht nicht mit einem Wasicun, sie geht mit einem Iasica. Wenn Kleine Blume hier nicht verhungert, dann wird sie im Frühling im Internat der Wasicun verwelken und nie mehr blühen. Bitte, nimm sie auch mit. Sie kann gut arbeiten und ist sehr fleißig!«

»Mutter, ich weiß nicht, ob ich jemals wiederkomme und ich bin auch kein Mann Gottes mehr!«

»Du glaubst nicht mehr an deinen Gott? Du sagtest aber doch immer, er ist der Einzige, der Wahre! Und woran glaubst du jetzt?«

»An die Kinder auf meinem Wagen, nur das ist wichtig, mehr nicht! Ich kann an keinen Gott glauben, der so etwas seinen roten Kindern antut!«

»Auch wenn es so ist, Tunkashila glaubt sicher noch an dich, sonst hätte er dich nicht zu uns geschickt!«

»Was?« Bishop riss die Augen auf. »Tunkashila?«

»Ich denke, du hast sehr gut verstanden. Nur, weil du nicht mehr an ihn glauben willst, bedeutet es nicht, dass er nicht da ist! Wakan Tanka ist überall! Und – Du bist hier!«

Bishop trat betroffen einen Schritt zurück. Er schüttelte sich und hatte immer weniger Lust, über dieses Thema zu reden, geschweige denn nachzudenken. Es schmerzte ihn, da die Enttäuschung sich zu tief in ihn hineingebrannt hatte. Einfach fort, mehr nicht. Endlich raus auf die Prärie und fort von allen menschlichen Wesen und vor allem fort von denen, die sich so selbstgefällig dafür hielten.

»Nun gut Mutter, ich nehme sie mit«, begann er erneut nach einer längeren Gedankenpause. »Und was ist, wenn du die Kleine Blume in deinem Leben niemals wiedersiehst?«

»Wenn nicht in diesem, dann fern eines Tages im Land der vielen Zelte, zusammen mit all unseren Verwandten.«

Eine einzige Träne, mehr hatte die Frau nicht mehr übrig.

Bishop fragte sich, was er tun sollte, aber wie verzweifelt musste eine Mutter sein, die ihr Kind einem Fremden Iasica mitgab, um es zu retten?

Langsam beugte er sich zu der Kleinen hinunter und ging in die Hocke, um ihr ins Gesicht zu schauen. Lautlos rannen dem kleinen Mädchen winzige silberne Kullertränchen an den Wangen hinunter. Wie versteinert blickte Ernst auf den schneebedeckten Boden, auf dem die Tränen des Kindes versickerten. Vorsichtig nahm er sie in seine Arme und stand mit ihr auf. »Alles wird gut Kleine Blume, sage deiner Mutter …«, Bishop stockte. Es kannte in Lakota kein Wort für Abschied. »Sage ihr, sage ihr, dass du sie niemals vergessen wirst.«

Behutsam setzte er Kleine Blume neben sich auf den Kutschbock. Sie sofort unter der Plane bei den anderen Kindern zu verstecken hielt er für unsinnig, da sie sich ohnehin fernab von jeglicher weißen Ansiedlung befanden. Dies war auch mit Sicherheit das letzte Lager, welches er zu sehen wünschte. Weiträumig würde er zukünftig alle menschlichen Ansiedlungen umfahren wollen, da sein Bedarf an Leid und Elend auf Lebenszeit gedeckt sein würde.

Fast schon hundert Schritte hatte sich Ernst mit seinem Wagen und seinen Schützlingen vom letzten Camp der Lakota entfernt, als er aus einer inneren Eingebung heraus noch ein letztes Mal auf die zurückgebliebene junge Frau blickte.

Noch immer stand sie da, alleine und verlassen, an der gleichen Stelle, wo sie sich verabschiedet hatten und dem Wagen, der ihre Tochter in ein neues Leben bringen sollte, nachschaute. Er überlegte einen Augenblick lang, dann hielt er den Wagen noch einmal an.

Mit schnellen Schritten hatte er die junge Lakota erreicht, die ihn verwundert anblickte. Fast schon fürchtete sie, dass es sich Pater Bishop im letzten Moment doch noch anders überlegt haben könnte.

»Ist Kleine Blume dein einziges Kind?«

»In dieser Welt? Ja!«

»Deine Eltern?« Sie schüttelte kaum merklich verneinend den Kopf.

»Dein Mann?«

Traurig sah sie zu Boden. »Es ist niemand mehr hier, um den ich mir jetzt noch Sorgen zu machen brauche. Jetzt bin ich frei und kann endlich zu ihnen gehen!«

Etwas zögerlich, fast schüchtern, hielt Ernst der jungen Frau seine Hand hin.

Sie schien zu verstehen, da sie diesen Brauch der Wasicun bereits kannte. »Auf Wiedersehen!« lächelte sie ihn gequält an.

Ernst hielt sie weiterhin an der Hand fest, als sie sich von seinem Griff zu lösen versuchte. »Kein Auf Wiedersehen Ina! Komm, Kleine Blume soll nicht auch noch ohne ihre Mutter aufwachsen!«

Augenblicklich explodierten die Schleusen in den Augen der jungen Lakota, als sie fernab von gut und böse schluchzend in die Arme von Bishop fiel.

Nur knapp eine Stunde später, als Bishop von seinem Kutschbock in das Innere des geräumigen Planwagens blickte, wusste er, dass er sich ungeachtet der möglichen Konsequenzen dennoch richtig entschieden hatte. Zusammengekauert lagen Mutter und Tochter mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln unter einer der zahlreichen karierten Baumwolldecken und hatten sich vom gleichmäßigen Schaukeln des Planwagens ins Reich der Träume wiegen lassen.

Immer tiefer hatte sich Ernst in den letzten Tagen in den Sog der vergangenen Ereignisse mit hineinziehen lassen. Was sollte nun werden? Die Kinder konnte er seiner Familie noch erklären, aber die Frau? Was würden sie von dem Mann denken, der das zickige aber hübsche Gretchen Shenhoober abgewiesen hatte, um ein Mann der Kirche zu werden und jetzt mit einer Vollblutindianerin und sechs kleinen Rotzlöffeln heimkehrte. Sechs kleine Rotzlöffel, er lachte leise vor sich hin. Ja, aber es waren nun seine sechs kleinen Rotzlöffel verbesserte er sich selber, die alle Liebe und Zuneigung der Welt brauchen würden, um eines Tages das Erlebte zu verarbeiten, denn vergessen würden sie es wohl niemals können. Ob sie jemals verzeihen konnten, was man ihnen angetan hatte, vermochte Ernst genauso wenig zu sagen.

Weit schweifte sein Blick nach Westen in Richtung der untergehenden blutroten Wintersonne, die ihn zu seiner Linken wie ein treuer Hund begleitete.

Bald schon würde er nach einer natürlichen Deckung Ausschau halten müssen, um in ihrem Schutz die Nacht zu verbringen. Und wieder und wieder und immer wieder. Viele Abende lang, bis er endlich die Farm seiner Eltern erreichen würde, wo seine Kinder hoffentlich ein neues zu Hause finden würden.

Aus: Band 5 – Das Herz der Sioux. Wolken über Wounded Knee

(pm)