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Die Todesengel von Nagyrev

Die Todesengel von Nagyrev

In den Dörfern der nördlichen Tiefebene Ungarns scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Häuser verfallen, kein Kino, keine Annehmlichkeiten, kein Amüsement außer dem Alkohol. Die Jungen zieht es in die großen Städte mit Arbeitsmöglichkeiten und Vergnügungen. Hauptsächlich leben hier alte Menschen, die sich an ein dunkles Kapitel der Region erinnern.

Es war eine Zeit, in der Ehen oftmals reine Zweckgemeinschaften waren. Junge Mädchen wurde mit älteren Männern verheiratet, Trennungen gesellschaftlich tabu, auch wenn der Mann gewalttätig war. Ärzte oder gar Krankenhäuser gab es in den abgelegenen Dörfern nicht. Ihr karges Leben bestritten die Menschen durch das Bestellen ihrer Felder und mit Weinerzeugung für den Eigenbedarf.

Zu viele Kinder waren eine große finanzielle Belastung. Hebammen lösten eine ungewollte Schwangerschaft durch Abtreibung. Im Volksmund wurden sie Engelmacherinnen genannt.

Die Hebamme Julia Fazekas siedelte sich 1911 in Nagyrev an. Sie stand mehrere Male wegen illegaler Abtreibung vor Gericht, wurde jedoch stets freigesprochen. Bei den brutalen Abtreibungen starben viele Frauen, deshalb mahnte Fazekas die Babys auszutragen. Sie hatte auch nach der Geburt eine Lösung parat und es fiel nicht weiter auf, wenn ein Säugling starb, da die Säuglingssterblichkeit in diesen Tagen sehr hoch war.

Während des 1. Weltkrieges wurden die Männer zum Wehrdienst eingezogen. Die Frauen mussten jegliche Arbeiten verrichten, alleine ihre Felder bestellen und für Feuerholz in den schneereichen Wintern sorgen.

In der Nähe des Dorfes wurde ein Kriegsgefangenenlager errichtet, aus dem Gefangene als Arbeitskräfte im Dorf eingeteilt wurden. Wahrscheinlich gierten alle Frauen nach einem Helfer, der ihren Arbeitsalltag ein wenig erleichterte und vielleicht noch darüber hinaus. Viele  der Frauen hatten sich von den ihnen aufgezwungenen Ehemännern emotional entfernt und empfanden die heimkehrenden Männer, oft Invaliden, als störend. Julia Fazekas, deren Ehemann ungefähr 1911 verschwand, hatte auch für dieses Problem die ideale Lösung. Sie kochte Fliegenfänger aus und gewann auf diese Weise Arsen, die sie an die Frauen verkaufte. Zsuzsanna Olah half ihr dabei. Ihr Kundenstamm wuchs. Wurden zuerst nur unliebsame Ehemänner und ungewollte Babys beseitigt, mussten später auch andere unbequeme Dorfbewohner von Nagyrev und dem Nachbarort Tiszakurt auf diese Weise sterben. Angeblich wurden auch Hebammen aus Nachbardörfern vergiftet, die sich am lukrativen Geschäft beteiligen wollten.

Die vielen Todesfälle in Nagyrev und Tiszakurt machten die Behörde aufmerksam. Eine Untersuchung ergab jedoch, dass es für jeden Todesfall einen gültigen Totenschein gab. Der Aussteller der Scheine war niemand anderer als Fazekas Cousin – ob weiblich oder männlich, darüber sind sich die Quellen nicht einig.

Warum die Morde 1929 ans Tageslicht kamen, darüber gibt es verschiedene Angaben, auch über die genaue Abfolge der Verhaftungen und Verhöre. Zum einen soll der Leichnam einer alten Frau ans Flussufer angespült worden sein, die Monate zuvor spurlos verschwunden war. Bei der Obduktion durch einen Medizinstudenten wurde eine große Menge Arsen festgestellt. Eine andere Version besagt, dass ein oder zwei Männer die Vergiftung durch eine gewisse Frau Szabo überlebt hätten. Der ungarisch-amerikanische Historiker Bela Bodo, der das erste Buch über die Morde 1929 veröffentlichte, war der Meinung, die Morde seien durch einen anonymen Brief an eine Lokalzeitung aufgedeckt worden.

Jedenfalls wurden mehrere Leichen exhumiert, in denen man Rückstände von Arsen fand. Je mehr Leichen exhumiert wurden, desto mehr Mordopfer wurden gefunden. Fazekas wurde verhört, behauptete jedoch, unschuldig zu sein. Wieder freigelassen, ging sie von Haus zu Haus um die Frauen zum Schweigen anzuhalten. Was sie nicht wusste, dass zwei Detektive sie observierten. Die Polizei verhörte die Dorfbewohner und nahm einige fest. Einige konnten dem Druck nicht standhalten, gestanden und bezichtigten andere. Als Fazekas erkannte, dass sie aus der Sache nicht heil herauskam, vergiftete sie sich in ihrem Haus, in dem Behälter mit Gift gefunden wurden.

Die Gründe für die Morde waren vielfältig. Zum einen war es für die Armen die Gier nach mehr Land, welches sie von den Familienangehörigen erbten, zum anderen, weil man den Mitmenschen überdrüssig geworden war, zum anderen auch die finanzielle Belastung durch Kinder und alte Familienmitglieder. Wie viele Morde wirklich verübt wurden, ist unklar. Manche sprechen von 50, andere von bis zu 300.

Über 30 Frauen und ein Mann wurden angeklagt. Einige wurden freigesprochen, einige erhielten verschieden lange Haftstrafen, sieben Frauen mussten lebenslang hinter Gitter. Ehthej Szabo und Christine Chordas wurden hingerichtet. Vor dem Galgen fielen sie in Ohnmacht und starben bewusstlos.

Astrid Bussink produzierte 2005 einen Dokumentarfilm über die Ereignisse von Nagyrev und interviewte ältere Einwohner, die sich an die Begebenheiten erinnerten oder sie aus Erzählungen ihrer Eltern kannten.

Eine Anfrage an das Stadtarchiv in Szolnok für nähere Auskünfte blieb leider unbeantwortet.

Quellen:

(ah)

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