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Der Welt-Detektiv Band 6

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Grey Timothy – Kapitel 1

Kapitel 1 – Vorstellung der Callanders

Brian Pallard schrieb an seinen Onkel:

»Lieber Onkel Peter, obwohl ich Sie nie gesehen habe, sprach mein Vater dermaßen anerkennend über Ihre vielen Qualitäten, dass ich mich darauf freue, Sie und meine Cousins während meines Aufenthalts in England sehen zu können. Wie Sie wissen, wurde ich in Kent geboren, obwohl mich jeder hier für einen Australier hält. Ist das eine Anerkennung aufgrund meines vorübergehenden Aufenthalts in Oxford, oder ist es dies nicht?

Jedenfalls lasse ich Sie wissen, wann ich ankommen werde. Da ich Ihre Adresse nicht kenne, schicke ich diesen Brief in Ihr Büro. Ich hatte in Melbourne eine großartige Zeit.

Viele Grüße Brian P.«

Mr. Peter Callander schrieb zurück.

Es war ein sorgfältig durchdachter und formulierter Brief; jedes Komma war an seinem Platz, jedes »t« perfekt einem Kreuz ähnlich geschrieben. Es war eine Art von Brief, von dem man annehmen könnte, dass ein biederer Engländer, welcher ein konservatives Geschäft führt, diesen schreiben würde.

Es war ein Brief, der mit seinem tadellos konservativ geschnittenen Gehrock, seiner schlichten Hose, seinen Stoffgamaschen und seinem schweren Uhrkettchen harmonisierte. Es war ein Brief, den man von einem schmalgesichtigen Mann mit grauem Haar, geraden schwarzen Augenbrauen, kalten argwöhnischen Augen, welche dessen Gutgläubigkeit durch eine Brille mit goldenem Gestell infrage stellten, und mit etwas dünnen und fest zusammengepressten Lippen erwarten würde.

Er las sich wie folgt:

Sehr geehrter Herr, ich habe Ihren undatierten Brief, mit ›Sportclub Melbourne‹ adressiert, erhalten und nahm dessen Inhalt zur Kenntnis. Ich bin sehr erfreut zu hören, dass Ihr armer Vater eine so hohe Meinung von mir hatte, und ich bin mir sicher, dass ihm kein anderer eine höhere Wertschätzung entgegenbrachte als ich selbst. Ich freue mich, Sie zu sehen, und bitte Sie einen schriftlichen Termin mit mir zu machen, da ich ein viel beschäftigter Mann bin.

Bedauerlicherweise besitzen Sie kein hohes Ansehen – oder sollte ich vielleicht sagen – einen schlechten Ruf. Die Boulevardpresse, welche ängstlich das Sensationelle eher verbreitet als das Nützliche, hat kein Geheimnis über Ihre Transaktionen auf den australischen Pferderennbahnen gemacht. Solche Schlagzeilen wie Börsenspekulant ›Pallard gewinnt ein weiteres Vermögen‹ oder ›Pallard – die sensationelle Wette des Zockers‹ erbauen mich weder, noch gefallen Sie mir. Offen gesagt füllen sie mich mit einem Gefühl von Schmach und Schande aus, das jemand haben sollte, welcher einen Verwandten hat, der den schlüpfrigen Pfad der Sünde gegangen ist und in Ruin, Verzweiflung und in dem endet, der sein Glück in einer Spielerkarriere investiert. Von allen Formen zu wetten, ist meines Erachtens Pferderennsport die Abscheulichste. Dass so eine schöne Kreatur wie das Pferd, der Freund des Mannes, herabgewürdigt wird, sodass er der Feind des Mannes wird, ist erniedrigend. Dies sage ich Ihnen mit aller Ernsthaftigkeit.

Ich werde, wie gesagt, bereit sein, Sie zu treffen. Aber ich bedauere, dass ich außerstande bin, Ihnen die Gastfreundschaft meines Hauses anzubieten, welches meinen Sohn und meiner Tochter in jeder Hinsicht behütet, die allen instinktiven Widerwillen gegen jene Formen von Vergnügungen, welche Sie sich zuwenden, von ihrem Vater geerbt haben.

Hochachtungsvoll,

Peter Callander

Mr Callander las und billigte diesen Brief, hob seinen Stift, um absichtlich ein Komma hier zu setzen und einen i-Punkt dort zu setzen. Am Ende faltete und legte er ihn ordentlich in einen Umschlag. Er befeuchtete ihn, klebte eine Briefmarke in die linke obere Ecke und läutete seine Glocke.

»Bringen Sie ihn bitte zur Post«, sagte er. »Hat Mr. Horace angerufen?«

»Ja, Sir«, antwortete der Büroangestellte, der den Aufruf entgegengenommen hatte. »Er rief an und legte kurze Zeit später wieder auf. Er lässt ausrichten, dass er zurückrufen würde und Miss Callander treffen wollte.«

»Das genügt, ich danke Ihnen, Mr. Russell«, sagte Peter Callander mit einem höflichen Kopfnicken.

Stolz war eine seiner Eigenschaften. Er war ein äußerst höflicher Mensch gegenüber seinen Angehörigen. Er hob immer seinen Hut zum Gruß des Portiers, der den Eingang von Callander & Callander’s bewachte. Dem niederträchtigsten Laufburschen, der jemals Briefmarken stahl, war ein freundliches Nicken und ein freundschaftlicher Klaps auf den Hinterkopf sicher. Er sprach seine jüngeren Angestellten mit »Sir« an, und trug zum Wohlwollen aller karierte Hosen, die vortrefflich zu seinem weißen Haar passten.

Es ist wahr, dass er seine Angestellten zu einem schlechteren Tarif bezahlte und sie mehr Stunden als jeder andere Arbeitgeber seines Standes in London arbeiten ließ. Es ist wahr, dass er den Laufburschen aufsuchte, als dessen Unterschlagung mit der äußersten Härte des Gesetzes aufgedeckt wurde, und sich unnachgiebig der weinenden Mutter und dem flehenden Vater zeigte. Es ist auch wahr, dass er stets gemeine Fallen stellte, um die Ehrlichkeit der Jüngeren zu testen, zu denen er »Sir« sagte. Aber in allen Dingen war er stets höflich.

Nachdem er sich zu seiner Zufriedenheit von unmoralischen Angestellten entledigt hatte, befasste sich Mr. Callander mit wichtigeren Dingen wie der Anstieg des anglo-japanischen Kautschuks um ein Sechzehntel, der Bericht über die siamesische Eisenbahn, die russischen Troika und die ungeheuerliche Täuschung des West Suakim Gold Syndicates, so rücksichtslos, furchtlos und uneigennützig durch den sozial eingestellten Redakteur des The Gold Share Review veröffentlicht.

Es muss angeführt werden, dass dieser Mann sich beharrlich geweigert hatte, die Anzeige der W.S.G.S zu veröffentlichen, da das Syndikat hartnäckig darauf verzichtete, ihm die Anzeige zukommen zu lassen.

Mr. Callander las diesen vernichtenden Angriff mit besonderem Vergnügen. Aus einem Grund hasste er Doppelzüngigkeit und List, aus einem anderen Grund hatte er all seine West Suakims-Aktien verkauft, bevor der Wertverlust eingesetzte. Er beendete seine Zeitungsschau mit einem Kopfschütteln, was seine völlige Übereinstimmung mit dem Autor zum Ausdruck brachte und schrieb einige persönliche Transaktionen des Tages in sein privates Wirtschaftsbuch nieder, ein kleines rotes Buch mit einem Sicherheitsschloss, als sein Sohn angekündigt wurde. Zu dessen Begrüßung blickte er mit einem Lächeln auf.

Horace Callander war ein schmächtiger junger Mann von mittlerer Größe, mit einem vollen femininen Kinn, großen Augen, welche durch lange Wimpern abgedunkelt wurden, mit einem wohlproportionierten Gesicht und einer schlanken Figur. Er trug einen getrimmten Schurrbart, der so geschnitten war, als ob ihn Michelangelo gemalt hätte. Diesen Vergleich mochte Horace Callander nicht. Symmetrisch ist das Wort, welches sein Aussehen beschreibt, ehrerbietig seine Haltung. Seine Stimme war melodisch und stimmig, nicht zu laut und nicht zu leise.

Das Mädchen, welches hinter ihm den Raum betrat, wäre einem Beobachter als eigenartig aufgefallen, da dieser perfekte junge Gentleman ihr nicht die Tür geöffnet hatte und ihr es ermöglichte, vor ihm einzutreten.

Sie war schlank und groß, größer als ihr Bruder. Sie hatte eine schlanke Figur und bewegte sich mit einer Ungezwungenheit eines Menschen, welcher das Feld und die Straße liebte. Ihren Kopf trug sie auf anmutigen Schultern und krönte ihn mit herrlichem Haar, dessen Farbe zwischen Gold und Rotbraun tendierte. Zwei große graue Augen saßen in einem Gesicht von sanfter Farbe, dazu ein Paar edelmütige Lippen und eine gerade kleine Nase. Sie ähnelte ihrem Bruder nur in Bezug auf die Qualität ihrer Stimme.

»Nun, mein Lieber?«, sagte Herr Callander. Es war sein Sohn, den er in solche Tönen liebevollem Hochmuts ansprach. »So, du warst unterwegs, um deine Schwester abzuholen, nicht wahr? Und wie geht es der Gladys?«

Sie bückte sich, um seine Wange zu küssen, doch er lehnte dies ab. Es war seine Art, sie immer in der dritten Person anzusprechen. Es war ein Brauch, welcher im Scherz begann und am Ende zur Gewohnheit wurde.

»Die liebe Gladys war verärgert«, sagte Horace mit notorischer Zärtlichkeit, »und es ist wirklich sehr besorgniserregend …«

»Peinlich!« Sie wartete nicht auf die Aufforderung ihres Vaters, sondern setzte sich in einen der luxuriösen Sessel im Raum. »Es ist abscheulich, dass ein Mann, der jeden Anspruch auf Anstand erhebt, nicht nur über sich selbst spricht, sondern auch über uns.«

Mr. Callander blickte ratlos von einem zum anderen, und Horace zog eine ordentlich zusammengefaltete Abendzeitung aus der Tasche.

»Es ist Pallard«, erklärte er mit gedämpfter Stimme.

»Zum Teufel mit dem Kerl«, keuchte Mr. Callander, »was hat er getan und, wie du sagst, werde ich nicht erwähnt?«

Er nahm die Zeitung in die Hand und schlug sie auf.

Es war ein billiges Abendblatt, welches zu seiner Schande nur den allgemeinen Klatsch veröffentlichte. Die Nachrichten selbst waren lediglich aus der Morgenzeitung entnommen worden.

Mr. Callander keuchte erneut.

Zwischen einer interessanten amtlichen Untersuchung und den nicht weniger faszinierenden Einzelheiten eines Scheidungsfalls stach ein Artikel mit folgender Schlagzeile auf der Titelseite heraus:

Pallard, der Zocker, landet einen Coup.
Zwanzigtausend Pfund zur
Finanzierung seines Hauses gewonnen.
Die Karriere des großen Pferderennbahn-Spekulanten.

Und ob das und das Überseetelegramm, welches folgte, nicht schon schlimm genug wären, gab es einen hinzugefügten Abschnitt:

Mr. Brian Pallard, der in Australien Pferderennbahn-Geschichte schrieb, genoss in anderen Sportbereichen hohes Ansehen. Er gewann bei den Public-Schools-Boxwettbewerben den Titel im Mittelgewicht. Berichten zufolge ist er unglaublich reich. Er ist ein naher Verwandter von Mr. P. Callander, dem stadtbekannten Unternehmer.

»Infam!«, sagte Mr. Callander. Es sagte dies, ohne in Rage zu geraten, aber mit großer Intensität. »Ich bin mir nicht so sicher, ob dies nicht diffamierend ist, Horace.«

Horace schüttelte skeptisch seinen Kopf und brachte damit zum Ausdruck, dass er sich auch nicht sicher war.

»Es ist nicht diffamierend«, sagte das Mädchen, deren geradlinige Augenbrauen sich zu einem finsteren Blick zusammenzogen. »Aber es ist ganz schön unangenehm für uns, Vater.«

»Das ist Wahnsinn«, sagte Horace in Gedanken versunken. »Ich kenne einen Mann in der Stadt, weißt du, Vater, Willock. Er ist Vorsitzender unseres Kunstzirkels und kennt all diese Journalisten.« Mr. Callander nickte mit seinem Kopf. »Er sagt, dass solche Dinge furchtbar langweilig sind und eine der großen Tageszeitungen die Idee aufgegriffen hatte, über das Leben in den Kolonien und all die Dinge, die damit zusammenhängen, zu berichten. All die Korrespondenten berichteten, was das Zeug hielt, und es gelang Pallard zu dem Mann zu werden, über den am meisten in Melbourne geredet wurde, sodass die Berichterstatter über ihn telegrafierten.«

Mr. Callander erhob sich von seinem Schreibtisch und strich seinen Jackett glatt.

»Es ist einfach nur erbärmlich«, sagte er.

»Gott sei Dank ist er in Australien«, fügte seine Tochter mit einem Zeichen der Erleichterung hinzu.

Mr. Callander schaute sie eine Weile an.

»Er ist nicht in Australien oder nicht länger dort sein: Er kommt nach Hause zurück.«

»Er kehrt heim!«, rief Gladys vor Entsetzen, und Horace erlaubte sich zu sagen: »Verdammt!«

»Ja, er kommt nach Hause«, sagte Mr. Callander launisch. »Heute Morgen habe ich von ihm einen Brief erhalten und konnte ihn nicht deuten. ›Coup gelandet. Kosten für die Heimreise gesichert‹ – das ist England. All diese Kolonialisten sehen England als ihre Heimat an.«

»Eine infernale Frechheit!«, murmelte Horace.

»Er kommt nach Hause?«, fragte das Mädchen bestürzt. »Oh, sicher nicht!«

Wir können die Art von Mann nicht kennen, Vater. Horace und sein stolzer Vater lächelten.

Ihr werdet ihn nicht kennenlernen, meine Lieben, sagte dieser. Ich werde mich mit ihm hier allein treffen.

Er wedelte mit seiner Hand heroisch im Zimmer herum. Es war so, als ob er eine besorgniserregende Zeit mit einem Tiger voraussehen würde.

»Ich weiß, was für eine Art Mensch er ist«, sagte er. »Ich bin all diesen Typen bereits begegnet. Er ist wahrscheinlich ein dicker, ungehobelter junger Mann mit lauter Stimme, wenn ihr mir diese vulgären Ausdrücke verzeiht. Ich kenne diese trinkfesten und fluchenden Raufbolde. Ich hasse es, so über ein Kind meiner eigenen Schwester reden zu müssen, aber ich muss dies tun.« Er nahm seinen Schirm aus dem Ständer an der Wand, strich seinen glänzenden Zylinder glatt und setzte ihn sorgfältig auf. »Nun, mein Lieber, ich bin fertig«, sagte er.

Er griff nach dem Arm seines Sohnes und ging zur Tür. Bevor er diese erreichte, übergab ihm sein Prokurist ein Telegramm.

»Entschuldige«, sagte er, öffnete es und las:

+++ Bitte bestreiten Sie die Angaben in der heutigen Morgenzeitung, dass ich gestern in Flemington Geld gewonnen hätte +++ Meldung ist fingiert +++ Ich verließ Melbourne vor Wochen +++

Mr. Callander las das Telegramm noch einmal und stöhnte. Es war beschriftet mit Aufgegeben bei den Southampton Docks.

Pallard, der Zocker, ist angekommen.

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