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Der Welt-Detektiv Band 6

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Anglerpech

Anglerpech

Achtunddreißig stand da auf dem Schild. Rote Farbe auf weißem Holz. Der Auslöser oder auch einer der Widerhaken einer Touristenfalle.
Thom war sicher, dass es eben das war; eine Falle. Dem Zustand der Straßen und Häuser nach zu urteilen eine, die nicht funktionierte. Der verzweifelte und erfolglose Versuch eines gottverlassenen Küstenkaffs, ein paar Euro in die Dorfkasse zu spülen. Ins Kässchen.
»Keine Ahnung, wovon du redest, Jung«, sagte der greise Mann und pfiff dabei schwindsüchtig durch seine braunen Zähne, als er Thom die Messer und die gewaltigen Haken über die Ladentheke reichte, die aussah, als habe Klaus Störtebeker schon seinen Weinbecher auf ihr abgestellt.
»Das Schild soll die verdammten Touris fernhalten, nicht anlocken. Wir bleiben hier lieber unter uns. Was man im Fernsehen so vom Inland sieht, reicht uns voll und ganz. Was wollen sie eigentlich mit dem ganzen Zeug? Die Kaliber verkaufe ich sonst nur an Hannes, wenn der alte Sack zum Hochseefischen fährt.«
Thom grinste.
Der Greis, der einer Holztafel über seinem Laden nach Angelzubehör-Harald hieß, zog an seiner Pfeife und kniff misstrauisch das Auge zu, das keine schlechte Prothese war. »Müssen ja dolle Fische sein, auf die sie es abgesehen haben.«
»Würden Ihnen den Kopf abbeißen«, sagte Thom und zwinkerte dem neugierigen alten Mann zu. Er kramte die Sachen von der Theke in seine beiden Bundeswehrrucksäcke und schlurfte in Richtung Ladentür wie ein ägyptischer Handwerker, der einen Steinblock zum Pyramidenbau hinter sich herzieht.
»Wenn sie es auf den ganz Großen abgesehen haben, lassen Sie es!«, krächzte Angelzubehör-Harald Thom hinterher. »Oh Jung, wissen Sie was, Sie sollten es wirklich sein lassen.«

Thom betrachtete den See, der so nah am Meer gelegen war, dass man seine Autonomie auf Luftaufnahmen gar nicht erkennen konnte. Autonom und dabei groß genug, um ein Lebewesen von gewaltigen, urzeitlichen Ausmaßen in seinen Tiefen zu beherbergen. Und wenn auch nicht für lang, denn das Ufer zur Nordsee war nicht weit. Wenige Schritte für ein Lebewesen von der Größe, wie Thom es suchte. Deshalb wurde das Ungeheuer nie entdeckt. Hatte der werte Herr Doktor gesagt.
Es ist nicht immer in diesem verdammten See, verstehen Sie, Thom? So wie man von Nessie mittlerweile annimmt, dass es eigentlich in Bergen um den Loch Ness herum lebt. Begreifen Sie denn nicht, Thom?
Er hatte schon viele merkwürdige Jobs in seinem Leben gehabt. Manche davon am Rande der Legalität. Einige entwürdigend. Aber jetzt, wo er als eine Art Kopfgeldjäger eine nicht genehmigte Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter für einen überbezahlten Kryptozoologen innehatte, schien sein welliger Lebenslauf auf seinem absurden Höhepunkt angekommen zu sein.
Frank Thom. Monsterjäger. Fast fiel ihm beim Grinsen die Zigarette aus dem Mundwinkel, als er die stinkenden Schlachthausabfälle auf die Haken spießte.
Dr. Alois Winterling-John, sein Brötchengeber, ein weltfremdes, akademisches Weichei wie aus einem schlechten Film, hätte an dieser Stelle schon gekotzt. Winterling-John gehörte zu jenen, die sich bei Kerzenschein und gutem Wein darüber beklagten, dass ihre Mitmenschen so schrecklich ungebildet seien, dass man mit ihnen nicht mal ein vernünftiges Gespräch auf Latein führen konnte. Der werte Herr Doktor verachtete Thom, das hatte dieser bei ihrem Gespräch deutlich gemerkt. Aber wenn es um das Veruntreuen von Forschungsgeldern ging, brauchte man eben Geschäftspartner, von denen man sicher sein konnte, dass sie wirklich nichts außer Geld interessierte, dass kein Ballast wie Integrität sie moralisch beschwerte und daran hinderte, ganz nach oben in den Erfolgshimmel zu steigen.
Dreitausend Euro bekam Thom dafür, dass er so tat, als würde er an den Weihnachtsmann glauben. Er hatte schon für viel weniger Gerichtsverhandlungen, Geldbußen und sogar Gefängnisstrafen riskiert.
Wie ein unbegabter Laiendarsteller sah er immer wieder in die kleine Kamera, die er im Boot aufgebaut hatte, das magische Auge des Herrn Doktor, mit dem der Lakai ohne Abitur seine Forschungsergebnisse dokumentieren sollte.
Auf dem Weg hierher hatte er auf einem Autobahnrastplatz mit einer nach Schnaps stinkenden polnischen Prostituierten das Paarungsverhalten der Unterschicht dokumentiert. Er war sich noch nicht sicher, ob der den privaten Porno löschen oder dem stocksteifen Herrn Doktor damit einen Herzinfarkt bescheren sollte.
Mein lieber Schlaukopf, hier sehen wir ihren See, viel Wasser, in dem nicht das Geringste schwimmt, keine Spur von Gonzilla, aber hier, mein werter Studierter, DAS ist ein Monster, ein kondomierter Schwanz von außergewöhnlicher Stattlichkeit, der auf der Jagd nach Frischmuschi in der Nähe von Hamburg schließlich eine ungewaschene Hurenfotze gestellt hat, denn in der Not frisst der Teufel ja bekanntlich Fliegen.
Bei dem Gedanken daran, wie bescheuert er auf dem Video wirken musste, dass er sich beim Ködern eines imaginären Seeungeheuers kaputt lachte, musste er noch mehr lachen. Dieses Lachen erstarb abrupt, als der Wellengang um sein Boot herum heftiger wurde, ohne dass der Wind zugenommen hätte. Thom blickte sich um. Jetzt, wo das kleine Boot unter ihm schaukelte, stellte er sich die Frage, warum ein See wie dieser an einem Samstagnachmittag so gottverlassen war.
Weil hier Hinterwäldler leben, sagte jemand sehr Vernünftiges in seinem Kopf. Die glauben wirklich, dass in diesem Tümpel …
Am Ufer, das Thom plötzlich unendlich viele Kilometer entfernt zu sein schien, sah er einen Angler, der ihm überschwänglich zuwinkte wie die alternativ Begabten, die ihn während seines Zivildienstes den letzten Nerv gekostet hatten. Das Boot schaukelte stärker und zu all den erst jetzt in seinem Kopf aufkeimenden Fragen gesellte sich die, warum er sich nicht für ein größeres entschieden hatte. Weil du es mit dem Auto quer durch die Republik hierher, an den Arsch der Welt, transportieren musstest, klärte ihn die bereits bekannte Stimme der Vernunft auf. Außerdem, ein größeres Boot, so wie in Der weiße Hai. Wir werden ein größeres Boot brauchen. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass …
Etwas kräuselte sich an der Wasseroberfläche, zu unregelmäßig, um eine Welle zu sein. Thom begann zu paddeln, so panisch, dass er fast aufgelacht hätte bei dem Gedanken, wie albern er sich heute Abend beim Bier deswegen fühlen würde. Die unverständlichen Rufe des Anglers, dem er jetzt beim Rudern den Rücken zugewandt hatte, wurden lauter, als etwas aus dem See auftauchte und nach dem schmutzig roten Köderfleisch schnappte. Thoms Monsterschwanz machte sich selbstständig und verpasste der Cargo-Hose seines Herrn im Schritt einen neuen, dunklen Anstrich.
Für etwas, das wohl ein Reptil sein musste, hatte es entsetzlich lebendige Augen mit Iris und Pupille, nicht das emotionslose Schwarz, wie man es von Eidechsen oder Fröschen kennt. Sein offen stehender Mund schien zu grinsen. Ungekaute Stücke des Köderfleischs, eins davon ein ganzes Rinderbein, lagen darin.
Thom konnte nicht mehr rudern. Jemand schien Zement in seinen Blutkreislauf gegossen zu haben. Kalten Zement.
»Friss mich nicht«, wimmerte Thom. »Oh Gott, bitte friss mich nicht.«
Der grinsende Mund des schrecklich lebendigen Gesichts schien jeden Moment fragen zu wollen: Wieso denn nicht?
Plötzlich schossen der Kopf und der gewaltige Körper, den das Monster im Wasser hinter sich herzog, auf das Boot zu. Thom schrie, schrie und schrie, und schrie. Er schrie auch noch, nachdem der vermeintliche Angreifer bereits wieder verschwunden war. Kurz vor Erreichen des Bootes hatte es sich das Vieh scheinbar anders überlegt, war abgetaucht und wieder in der Tiefe des Sees verschwunden.

»Fickpisse, haben Sie das auch gesehen?«, fragte Thom den Angler, nachdem er sich mit schwachen Armen, die genauso gezittert hatten wie seine Stimme jetzt, zurück ans Ufer gerudert hatte.
»Klar«, antworte der Mann, dem Alter nach vermutlich ein Klassenkamerad von Angelzubehör-Harald. »Fast jeder hier hat das. Für Sie wäre es um ein Haar das Letzte gewesen, was Sie jemals zu sehen gekriegt haben. Bescheuert, in so einer Nussschale raus auf den See zu schippern. Aber wer so geschmacklos flucht wie Sie, kommt wahrscheinlich aus der Stadt, und da wundert mich dann auch schon wieder nichts mehr.«
Thom torkelte ins Dorf, die Kamera unter dem Arm. Der Angler folgte ihm.

»Es existiert! Es existiert wirklich!«, schrie er auf der Straße vor Angelzubehör Haralds Laden.
Der Krämer trat vor die Tür. »Häh?«
»Das Monster! Es lebt wirklich!«
»Natürlich lebt es«, sagte der alte Mann und sah von Thom zu dem Angler, der mit einem verblüfften Gesicht die Schultern zuckte.
»Ja, aber, das ist doch großartig! Warum haben Sie es nicht schon längst mal gefilmt oder fotografiert-«
Thom bemerkte nicht, wie Häusertüren sich öffneten und eine kleine Menschenansammlung sich in seinem Rücken zusammenfand.
»Wir wollen es nicht fotografieren. Es reicht, wenn die einen nicht herkommen, weil sie es für eine Masche halten, ihnen das Urlaubsgeld aus der Tasche zu ziehen, und die anderen wegbeleiben, weil sie hier vor lauter Angst eh’ nicht schwimmen gehen. Hauptsache, man lässt uns in Ruhe. Die Welt da draußen ist schlecht und dumm.«
»Ihr könnt mich, ihr blöden Dorfdeppen!« Thom lachte. »Wenn ihr den Reibach nicht seht, der da draußen vor eurer Nase schwimmt, Pech gehabt. Aber ich …«, er hielt triumphierend die Kamera vor sich, »Scheiße! Das Fernsehen wird hier einfallen wie die Russen in Berlin! Und eines Tages steht das Skelett dieses Urviechs in einem Museum, mit einer Plakette davor, und wessen Name wird da draufstehen? Meiner! Da wird stehen entdeckAAAAAAAAAAAAAAHH!«
Thom betrachtete ungläubig die Kamera. Obwohl sie auf den Boden gefallen war, hielt seine Hand die japanische Elektroingenieurskunst noch immer fest umklammert. Blut spritzte in seine Augen, als er den Stumpf seines rechten Unterarms vor sein Gesicht hob. Durch einen warmen, klebrig-roten Nebel sah er einen Mann neben sich stehen; groß, dick, mit unintelligentem Schielen und schiefen Zähnen. In der Hand hielt er ein Fleischerbeil. Auf seiner schmutzigen Schürze stand in schwarzen Lettern Metzgerei Johannsen – Eine schöne Schweinerei.
Etwas traf Thom am Hinterkopf, sodass ihm kurz schwarz vor Augen wurde und er zu Boden ging. Er schrie auf, weil er instinktiv die Arme zum Schutz vor sich geworfen und so den Sturz mit seinem frisch amputierten Stumpf abgefangen hatte. Er hielt sich kreischend die Wunde und sah das kleine Mädchen nicht, das angerannt kam, um ihm mit seiner Sandale ins Gesicht zu treten. Thom erblindete weiter vor Blut und Tränen. Seine Nase war gebrochen. Die Sohle eines schweren Schuhs drückte seinen Kopf nach unten, sodass er mit der Wange auf dem Asphalt lag.
»Ich hab’ ihnen doch gesagt, dass wir es hier ruhig mögen«, hörte er die Stimme von Angelzubehör-Harald oberlehrerhaft raunen. Jemand legte etwas um seinen Hals, das sich wie Stacheldraht anfühlte. Die Dorfbewohner beugten sich über Thom und verdunkelten so die Sonne.

Der Maler pustete die Farbe trocken. Er nahm seine Baseballmütze ab und wischte sich mit einem Taschentuch über die Glatze.
Achtung! Kein Schwimmen im Toremann-See! warnte sein Werk. Hier lebt das Toremann Monster! Neununddreißig Opfer bisher!

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