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Phoenix – Tochter der Asche

Im Interview, welches Julie Fritsche auf der Frankfurter Buchmesse mit Ann-Kathrin Karschnick führte, sagte die junge Autorin, dass Phoenix – Tochter der Asche ein Teslapunk-Dystopie-Krimi mit romantischen Ansätzen sei. Und was versteht man nun unter Teslapunk?
Teslapunk, nach dem Wissenschaftler und Erfinder Nikola Tesla benannt, bezieht sich auf fiktive Erzählungen von Wegbereitern des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts, welche sich von Elektrizität und elektrischen Geräten inspirieren ließen. Unter solchen Erzählungen kann man sich im Allgemeinen alternative Geschichten vorstellen, in welchen saubere und ortsungebundene elektrische Energie überall sehr billig oder kostenlos ist und alle bisherigen Energiequellen wie Holz, Kohle, Öl oder Dampf ersetzt. In einigen Geschichten sind freie Energietechnologien der heutigen Zeit weitgehend in Vergessenheit geraten, aber nur, weil sie durch irgendeine Regierung oder andere Organisationen, die die Technologien eingesetzten, geheim gehalten wurden, um die Massen zu kontrollieren oder zu schützen, wie es zum Beispiel gelegentlich in Warehouse 13 der Fall ist.
Gegenstände, die Teslapunk enthalten, kann man bei Gewehren, Robotern, Raketen und Art-Deco finden. Das »Punk«-Element im Teslapunk entsteht normalerweise als »freie Energie«, und das »elektronisch ermächtigte Massen«-Ethos fordert Energiemangel und Brennstoffmonopol heraus, wie es bereits 1900 in den Vereinigten Staaten zu beobachten war.


Das Buch

Ann-Kathrin Karschnick
Phoenix – Tochter der Asche

Teslapunk, Taschenbuch, Papierverzierer Verlag, Essen, Oktober 2013, 396 Seiten, 14, 95 Euro, ISBN 9783944544052, Covergestaltung: Timo Kümmel

Europa liegt nach einem fehlgeschlagenen Experiment im Jahr 1913 und diversen Kriegen mit Amerika in Trümmern. Mithilfe des damals führenden Wissenschaftlers Nicola Tesla bauten die Saiwalo, eine überirdische Macht, Europa langsam wieder auf. 120 Jahre später erschüttert eine Mordserie Hamburg, die sich niemand erklären kann. Leon, ein Anhänger der Saiwalo und Mitglied der Kontinentalarmee, wird auf die Fälle angesetzt und trifft bei seinen Ermittlungen auf die rätselhafte Tavi. Wer ist sie und wieso ist sie so fest von der Schuld der Saiwalo an den Morden überzeugt?


Die Autorin

Ann-Kathrin Karschnick wurde am 17. September 1985 in Reinbek bei Hamburg geboren. Bis heute ist sie dem Norden Deutschlands treu geblieben und wohnt in Schwarzenbek, wo sie arbeitet und Geschichten erfindet.
Wenn in der Reederei, in der sie neben dem Schreiben arbeitet, keine Hochkonjunktur herrscht, bleibt ihr mehr Zeit, sich neue Ideen zu fantastischen Erzählungen zu überlegen. Nebenbei gewinnt sie Inspirationen aus Lieblingsserien, Brett- und Kartenspielen und ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit beim Deutschen Roten Kreuz.
Die Autorin Ann-Kathrin Karschnick hat bereits in vielen Anthologien Kurzgeschichten veröffentlicht, mehreren Büchern das Laufen beigebracht und ist eine ausgezeichnete Vorleserin, die keine Gelegenheit auslässt, ihre eigenen Geschichten zu präsentieren. Vor Kurzem erschien zudem die von ihr herausgegebene Anthologie Krieger im Verlag Torsten Low. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Phoenix – Tochter der Asche arbeitet die Autorin bereits an der Fortsetzung sowie weiteren Projekten.


Leseprobe

Die Flucht

Das Experiment hatte alles verändert, dachte Tavi bitter und warf einen gehetzten Blick um die Hausecke. Der Straßenzug war leer – zu leer. Dunkle Wolken hingen einer Drohung gleich über der Stadt und drückten auf die trübe Stimmung Hamburgs.
Ein Surren ließ sie aufhorchen, als auch schon zwei scheibenförmige Flugobjekte mit einem mörderischen Tempo um die Kurve rasten. Scheiße, schoss es ihr durch den Kopf. Zwei Drohnen waren dicht hinter ihr.
Tavi rannte, dass ihre graublonden Haare ihr in den Nacken und auf die flache Stirn peitschten. Hektisch blickte sie sich nach einem Versteck um, eine schmale Gasse schien ihre Rettung zu sein. Erleichterung strömte mit frischem Adrenalin durch ihre Adern, als sie an einem baufälligen Altherrenhaus vorbeilief und um die Ecke bog. Mit den Händen stoppte sie den Aufprall an der linken Mauer der Gasse, dennoch ratschte sie derart hart über die zerfurchten Wände, dass sie sich die Finger aufriss. Mit der Zunge fuhr sie sich nervös über die vollen Lippen. Ein weiterer Blick über die Schulter bestätigte ihre Vermutung: Die Drohnen waren zu breit, um ihr direkt zu folgen. Zunächst schwebten sie unschlüssig vor dem Eingang auf und ab.
Tavi lachte laut auf, während sie weiter rannte. Das Levitationsfeld der Maschinen beschränkte sich auf den Boden. Sobald sie sich auf die Seite drehten, fielen sie vom Himmel wie mit einem Stein beschwerte Vögel. Vor Tavis innerem Auge blitzten Bilder verschiedener Drohnen-Baureihen auf. In den letzten zehn Jahren hatte die Kontinentalarmee deutliche technologische Fortschritte gemacht: schneller, wendiger und kleiner. Die neuen Baureihen wurden bevorzugt in den Randgebieten Europas eingesetzt. Angeblich um dort den Einmarsch der Amerikaner zu verhindern, aber Tavi wusste den wahren Grund: Mit den neuen Drohnen wurden die Flüchtlinge aufgehalten, die versuchten, aus Europa zu fliehen. Der einzige Grund, warum die Drohnen noch nicht europaweit eingesetzt wurden, war die permanente Materialknappheit.
Tavi sah über die Schulter und fluchte. Dafür trafen diese Drohnen ihre Entscheidungen schneller. Sie stiegen bereits parallel zur Hauswand des Herrenhauses auf. Innerhalb einer Sekunde verdüsterte sich Tavis Stimmung zu einem wütenden Grummeln.
»Drecksdinger. Ihr könnt mich mal!«
Bevor die Drohnen das Dach erreichten, entdeckte Tavi einen Durchgang. Eine zerschlissene Stoffdecke hing vor einem Halbbogen, der den Eingang zu dem Haus links von ihr verdeckte. Obwohl sie ahnte, dass sie vermutlich irgendeine Familie beim Abendbrot aufschreckte, rannte sie weiter. Ihre Schuhe klatschten auf den quadratisch gemusterten Boden, hallten von den leeren Wänden wider. Trotz der gebrochenen Fliesen stolperte Tavi dank ihres ausgeprägten Gleichgewichtssinns nicht.
Der Treppenaufgang in dem Mehrfamilienhaus wirkte intakt. Sie stockte, blieb kurz stehen. Selten, dachte Tavi überrascht. Wer diese Unterkunft für sich beansprucht, hat Glück. Ihre eigenen Unterkünfte der letzten Jahrzehnte kamen ihr in den Sinn. Meistens landete sie in alten Häusern oder verlassenen Fabriken, in denen niemand leben wollte.
Tavi schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich darauf, die Drohnen abzuschütteln. Mit etwas Glück war ihre Flucht ins Haus unentdeckt geblieben, dennoch musste sie so schnell wie möglich verschwinden. Riefen die blöden Metallwächter erst einmal nach Verstärkung, wären sie das geringste Übel, schließlich stattete die Kontinentalarmee sie im Gegensatz zu den Gyrokoptern eher schwach mit Munition aus.
Ihre Finger umklammerten das Geländer, während sie in die oberen Stockwerke flüchtete.
Wenn die Gyrokopter eintrafen, würde es selbst für Tavi schwer werden, unerkannt zu entkommen. Dabei habe ich nur einem Mann helfen wollen, schoss es ihr grimmig durch den Kopf. Scheiß Helfersyndrom!, ärgerte sie sich über sich selbst.
Der Geruch von Fäkalien drang an ihre empfindliche Stupsnase. Angewidert zog sie diese kraus, musste aber dennoch einatmen, denn ihre Lungen hungerten nach Sauerstoff, roch er auch noch so ekelhaft.
In einem Stockwerk brannte Licht. Wie vermutet raste sie an Familien vorbei, die in diesem Haus lebten. Verschwommen sah sie im Augenwinkel gut ein Dutzend Kinder auf dem Fußboden der weitläufigen, halb zerstörten Etage sitzen.
Sie rannte um einen Pfeiler herum, der einsam ins nächste Stockwerk ragte. Tavi fühlte die drückende Last des Gebäudes, das nur noch auf wenigen Säulen verteilt stand. Ein Erdbeben reichte wahrscheinlich aus und die Mauern stürzten zusammen. Ein Stich fuhr durch Tavis Herz. In Hamburg gab es durch die Kriege mit Amerika zu wenig Wohnraum, weil kaum jemand ausreichend Geld verdiente, um sich eines der zerbombten Grundstücke zu kaufen. Die bestehenden Häuser wurden unter allen Einwohnern aufgeteilt. Zwar besaß der Staat die Gebäude, nannte sie sogar Staatseigentum, dennoch kontrollierte niemand die Baufälligkeit der Häuser, ganz im Gegenteil. Weil die Saiwalo, wie sich ihre geisterhafte Regierung nannte, selbst keine Wohnräume benötigte, vernachlässigten sie diese für die Menschen schändlich, zumindest vermutete Tavi dies. Klugerweise tischten die Saiwalo den Bewohnern immer wieder Lügen über den Wiederaufbau auf, sobald die Bedrohung aus Amerika besiegt wäre.
Tavi linste aus dem Fenster zu ihrer Rechten, an dem die Drohnen gerade vorbeiflogen. Die halbrunde Schweißnaht in der Mitte der Maschine sah aus wie ein selbstgefälliges Grinsen. Tavis Blick richtete sich nach unten. Sie befand sich im zweiten Stock, was nicht hoch genug für einen Kampf war. Sie musste aufs Dach, in ihr Element. Dort bestand eine Chance gegen die Maschinen. Das Holz der Stufen knirschte unter ihren Schritten, nur ganz leise, aber es ließ sie aufhorchen. Ihr Instinkt riet ihr, vorsichtig zu sein, denn falls die Treppe nachgab, blieben ihr nur Sekunden für eine Reaktion. Schweiß drang ihr auf die Stirn, als das Knacken mit jedem Schritt grausamer in ihren Ohren dröhnte.
Leicht außer Atem erreichte sie die Tür zum Dach, falls man es denn so nennen konnte. Tavi bemerkte eine einfach gezimmerte Treppe, die auf das Flachdach führte. Ihre Schulterblätter kribbelten.
Tavi erreichte die letzte Stufe. Gierig sog sie die frische Luft in ihre Lungen. Von diesem Punkt aus überblickte sie einen Teil der Stadt. Aus den Stromfabriken stieg heller Rauch auf, vernebelte den Himmel und die untergehende Sonne. Die engmaschigen Begrenzungszäune der Bezirke waren das Einzige, was über die Dächer der Stadt hinausragte.
Sehnsüchtig seufzte Tavi. Hamburg, der Hafen, die Pferdekutschen in den Straßen und ihre einmaligen Bauwerke – alles vernichtet oder verkommen.
Tavi blickte sich um, entdeckte die Drohnen nur wenige Meter entfernt, aus deren einer Seite lautlos ein mechanischer Arm fuhr. Sie wusste nur zu gut, was an dessen Ende saß – eine T4, eine automatische Kanone, die gebündelte Stromkugeln erzeugte und gezielt in jede Richtung schoss. Ihr Herzschlag setzte aus, als die Spule sich auf sie richtete. Einen Augenblick lang starrte sie regungslos auf das kupferne Ende, wollte mit ihrem Blick die Flugbahn der Kugeln beeinflussen. Ihre Erfahrung brüllte ihr etwas anderes entgegen. Das Surren, das beim Laden der Waffe ertönte, holte sie aus ihren Gedanken zurück. Mit einem Hechtsprung rettete sie sich hinter den verrosteten Unterbau eines Vogelschlags. Stromkugeln schlugen um sie herum ein, brachten die Mauern des Hauses zum Schwanken. Staub bröckelte auf sie nieder, verschleierte ihre Sicht, während sie angespannt die Schüsse zählte.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Quelle:

  • Papierverzierer Verlag Essen
  • Foto der Autorin aus eigenem Archiv
  • Poster Nikola Tesla von Matthew Ridgway

(wb)