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Der Gipfel

Der Gipfel

I

Schurre musste unbedingt diesen Gipfel bezwingen. Seit er das Bild des Magnon, das Bild des höchsten Berges des Landes, im Haus Johannes Burgers gesehen hatte, ließ ihn dieser Gedanke nicht mehr los. Der Berg übte seitdem eine solche Faszination auf ihn aus, dass ihm das Vorhaben, diesen Gipfel zu erklimmen, als das Wichtigste erschien, was er in seinem Leben tun musste. Er hatte zuvor schon öfter Berge des gleichen Massivs erstiegen, und dies war ihm immer leicht gefallen, doch noch nie hatte ihn ein Gipfel so sehr gereizt wie der Magnon.
Der Magnon aber war zuvor über die Südseite, die Schurre erklimmen wollte, noch nie bezwungen worden. Eine Reihe erfahrener Bergsteiger hatte es bereits versucht. Manche von ihnen hatten mittendrin abbrechen müssen, einige waren sogar abgestürzt. Deshalb galt diese Tour mittlerweile als viel zu gefährlich, und nur sehr selten wagte es noch jemand, dort den Aufstieg zu unternehmen. Zuletzt hatten es drei Kletterer aus dem Ausland versucht. Sie waren nicht zurückgekehrt und man hatte ihre Leichen auch nicht gefunden. So galten sie bis heute als verschollen und die Geschichte der Versuche, den Magnon von Süden her zu bezwingen, war um eine weitere Episode reicher.
Wenige Tage, nachdem Schurre das Bild des Magnon in Burgers Wohnzimmer gesehen hatte, wagte er dennoch den Aufstieg an der Südseite. Kurz bevor er aber den Gipfel erreicht hatte, glitt er an einem besonders steilen Felsen ab und stürzte in die Tiefe. Der Berg hatte ein weiteres Opfer gefordert …

II

Johannes Burger fuhr mit seinem Auto ins Gebirge. Nur er kannte das verlassene kleine Tal inmitten der Bergriesen, das nun zum wiederholten Mal sein Ziel war. Als er dort angekommen war, stieg er aus dem Wagen und ging zur Wand eines Berges, der ihm am nächsten war. Er schaute sich einen Augenblick um und rieb sich dann zufrieden die Hände. Dort war es an der Wand zu sehen, wie auch die anderen Gesichter derer, die er in den Tod geschickt hatte. Neben acht anderen steinernen Gesichtern, die in den Fels gehauen nebeneinander an der Wand erschienen waren, prangte nun auch das Gesicht von Winfried Schurre, dessen Leiche man gestern zerschmettert am Fuße der Südwand des Magnon gefunden hatte.
Sein Herr hatte nun ein weiteres Menschenleben durch ihn bekommen und konnte den Beweis dafür wie üblich an der Felswand in diesem Tal sehen. Jeder außer ihm selbst, der in seinem Wohnzimmer das Bild des Magnon von seiner Südseite betrachtet hatte, war nachher nur noch von dem Willen beseelt, diesen Gipfel als erster Bergsteiger von Süden her zu bezwingen und von diesem Wahn nicht mehr abzubringen. Das magische Bild des Berges, das solche fanatischen Reaktionen bei seinen Betrachtern auslöste, hatte er von seinem Meister, dem Herrn der Finsternis, zu jenem Zweck bekommen. Er sollte ihn auf diese Weise mit Menschenleben füttern, durch welche er sein eigenes Dasein verlängerte. Mittlerweile waren es schon neun Leben, mit denen Burger seinen Meister gefüttert hatte, doch es würden sicherlich noch mehr werden. Immer dann, wenn der Herr der Finsternis ein weiteres Leben bekommen hatte, erschien das Gesicht des Toten in den Stein gehauen an jener Wand.
Burger war nicht klar, welchen Grund es hatte, dass diese Gesichter dort erschienen. Aber er fragte auch nicht weiter nach. Sein Herr hatte ihm als Gegenleistung für seine Dienste magische Kräfte verliehen. So konnte er fliegen, nachts, wenn ihn niemand dabei sah, er konnte zudem jede Frau betören, die er haben wollte, und er konnte Steine in Gold verwandeln, indem er sie mit einer Flüssigkeit benetzte, die er nach einem Rezept seines Meisters aus seltenen Ölen und Kräutern hergestellt hatte. Dieses Leben wollte Burger nicht mehr missen, und so brachte er dem Meister jedes Jahr ein weiteres Opfer, dem er das Bild in seinem Wohnzimmer zeigte. Dieses Bild hing zu anderen Zeiten verhüllt in seinem Keller und wurde nur dann hervorgeholt, wenn es wieder an der Zeit war, den Meister zu füttern.

III

Burger zeigte in den nächsten Jahren noch drei weiteren Männern das Bildnis des Magnon. Alle drei waren nicht mehr davon abzubringen, den Gipfel von Süden her zu bezwingen und stürzten bei ihrem Versuch in den Tod.
Der dritte dieser Männer aber, ein junger Kerl namens Carl Zenger, hinterließ eine junge Frau, die nach seinem Absturz nicht aufgab, zu fragen, warum ihr Mann alle Warnungen in den Wind geschlagen und trotzdem den Versuch gewagt hatte, den Magnon auf der gefährlichen Route zu erklimmen. Die Frau fragte überall, ob man ihr dieses Unglück erklären könne, bis sie schließlich an eine alte Frau in ihrem Dorf geriet, die ihr den Weg in das Tal beschrieb, in welchem die Gesichter der toten Bergsteiger an der Felswand zu sehen waren. Anschließend sagte die Alte: »Hör zu, meine liebe Lene! Es geht die Sage, dass diejenige, die der tote Kletterer geliebt hat, mit seinem steinernen Gesicht sprechen und von ihm erfahren kann, wie sein Tod zu rächen ist.«
»Danke, Mütterchen!«, sprach die junge Frau und verabschiedete sich. »Ich will es einmal versuchen!«
Am folgenden Tag suchte Lene Zenger das Tal auf, das die alte Frau ihr genannt hatte, und fand dort tatsächlich neben elf anderen das Gesicht ihres lieben Mannes in den Stein gehauen.
»Liebster, sage mir, wie ich deinen Tod rächen kann!«, sprach sie zu dem steinernen Gesicht.
Das Konterfei ihres Mannes aber rührte sich nicht.
Ob mir die alte Frau einen Bären aufgebunden hat?, fragte sich Lene. Eigentlich offensichtlich! Wie soll ein steinernes Gesicht sprechen können?
Aber als sie sich umdrehte und das Tal wieder verlassen wollte, hörte sie die Stimme ihres Liebsten in ihrem Rücken sprechen: »Lene, bleib bei mir!«
Ihr Herz pochte, als sie sich umdrehte, um das steinerne Gesicht zu betrachten. Da aber sprach ihr Mann noch einmal zu ihr: »Lene, hör mir zu! Unser alter Bekannter, Johannes Burger, du weißt schon, der, der bei den Frauen so ein Glück hat, hat dafür gesorgt, dass ich versucht habe, den Magnon von Süden zu besteigen und dabei abgestürzt bin. Er arbeitet für den Herrn der Finsternis, der dadurch, dass andere und ich unser Leben verloren, seine eigene böse Existenz verlängern kann. Er schenkte seinem Schergen für seine Dienste magische Fähigkeiten, und nur dann, wenn Burger selbst sein Leben am Gipfel des Magnon verliert, wird er aufhören, seinem Meister Menschenleben zu opfern.«
»Und wie kann man dies erreichen?«, fragte Lene.
»An der Nordseite des Magnon, dort, wo sich die Berghütte auf halbem Weg zum Gipfel befindet, stehen drei große Eichen nebeneinander. Unter deren Dach wächst ein Kräutlein namens Immerblau. Dieses Kraut musst du pflücken, zu einem Tee verarbeiten und von diesem trinken. Du kannst das Kräutlein nicht verfehlen, denn seine Stängel sind himmelblau.«
»Und was soll ich dann tun?«
»Dann musst du Burger unter irgendeinem Vorwand aufsuchen«, fuhr das steinerne Gesicht fort. »Wenn du ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehst, kannst du seine Gedanken beeinflussen. So kannst du auch in ihm den Fanatismus wecken, selbst den Magnon von der Südseite besteigen zu müssen. Hast du dies getan, so musst du ihn nur allein lassen, und er wird den Berg besteigen.«
Nach diesen Worten schwieg das steinerne Antlitz von Carl Zenger, und Lene machte sich auf den Rückweg zu ihrem Dorf, um zu tun, was ihr Mann verlangt hatte.

IV

Lene begab sich am folgenden Tag zunächst zur Nordseite des Magnon. Dort konnten Wanderer ohne Probleme bis zur Berghütte emporklettern, kein Vergleich zur Gipfelroute im Süden des Berges.
Endlich hatte sie die Hütte erreicht und fand bald darauf die drei großen Eichen. Unter ihnen wuchs tatsächlich das Kraut Immerblau, von welchem Carl gesprochen hatte. Sie pflückte einige Exemplare und kehrte anschließend nach Hause zurück, um dort einen Tee daraus zu kochen. Als dieser fertig war, trank sie davon in großen Schlucken. Er schmeckte ähnlich wie Minze, doch sie spürte keine Veränderung bei sich.
Ich sollte Carl mehr vertrauen, dachte sie bei sich und schob ihre Zweifel beiseite. Er wird mir schon nichts Falsches geraten haben!
Dann machte sie sich auf den Weg zum Haus Johannes Burgers.
Burger bat sie herein, als sie an seiner Haustür geklingelt hatte, und unterhielt sich mit ihr. Währenddessen jedoch konnte sie seine Gedanken lesen. So zogen ihr genau die Gedanken durch ihren eigenen Kopf, die Burger im selben Moment dachte. Endlich bemerkte sie, dass sie ihm ihre Gedanken aufzwingen konnte, indem sie sich wünschte, was er denken sollte. Im Nu dachte er das, was sie ihm vordachte. Sie wünschte, er möge den Gedanken haben, er solle ihr ein Glas Wasser anbieten. Er hatte sofort diesen Gedanken und tat, was sie wünschte. Noch einmal probierte sie ihre Macht aus und verlangte in Gedanken, er möge denken, dass er ihr Gebäck anbieten wolle. Auch dies dachte er im selben Moment und tat es dann.
Endlich kam sie zum Punkt und dachte: Du sollst den starken Willen verspüren, den Magnon von Süden her zu besteigen!
Da leuchtete es in seinen Augen für einen kurzen Moment auf, und er schien geistesabwesend einen Entschluss zu fassen. Anschließend schaute er sie an und war wieder ganz bei ihr. Lene verabschiedete sich nun von ihm und kehrte nach Hause zurück.

Am folgenden Nachmittag hörte sie in der Ferne Sirenen der Feuerwehr und eines Rettungswagens, die sich in Richtung Südseite des Magnon entfernten. Stunden später sah sie, wie die Wagen ohne Sirenengeheul wieder ins Dorf zurückkehrten. Auf der Straße erfuhr sie, dass Johannes Burger beim Versuch, den Magnon von Süden her zu erklimmen, in die Tiefe gestürzt war.

(hb)