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Der Hochzeitstag

Gerd Heller hatte es mal wieder eilig. Die Uhr auf seinem Schreibtisch zeigte mit 17.10 Uhr, dass er schon 40 Minuten überfällig war. Und ausgerechnet an seinem Hochzeitstag. Wenigstens einmal wollte er überaus pünktlich zu Hause sein. Er griff sich seinen Mantel vom Ständer und riss diesen dabei fast um. Seine Kollegin Beate, die mit ihm im Büro arbeitete und ihm gegenübersaß, lachte über ihn.

»He, Gerd! Du vergisst deinen Blumenstrauß.«

Schnell sah er sich um, griff sich die weißen und roten Rosen, die er in der Mittagspause besorgt hatte, aus der Vase, und verschwand durch die Tür. Nicht ohne den Mantelärmel zum wiederholten Male in der Tür einzuklemmen. Als er die Tür erneut öffnete, um den Ärmel zu befreien, sah er nicht mehr das Lächeln seiner Kollegin und das amüsierte Kopfschütteln. Sie kannte seine Tollpatschigkeit bereits seit drei Jahren. Damals begann er als Schwangerschaftsvertretung und Sachbearbeiter für Lebensversicherungen. Beate war von Beginn an der Ansicht, er sollte lieber Unfallversicherungen bearbeiten. Möglichst seine eigenen, denn da wäre er sein bester Kunde.

Gerd stürmte zum Fahrstuhl am Ende des Ganges. Ein Kollege wich dem eiligen Mann aus, bevor es zu einem Zusammenstoß kam. Gerd gelang es, die Kabine zu betreten, ohne die Rosenköpfe in der Fahrstuhltür abzuklemmen. In der Tiefgarage des Versicherungsgebäudes verließ er die Kabine und steuerte auf seinen verbeulten Mittelklassewagen zu. Der Audi sah nicht mehr gut aus. An allen möglichen und unmöglichen Stellen besaß der Wagen Beulen, Schrammen, Dellen und Kratzer. Inzwischen verzichtete er darauf, die Beulen entfernen zu lassen. Für jede ausgebeulte Delle erhielt er ruckzuck zwei Neue.

Natürlich schrammte er beim Ausparken mit dem Heck die Säule, die mit nur einem Meter neben dem Wagen die Decke stützte und damit viel zu eng am Fahrzeug stand. Der Kratzer im blauen Lack fiel jedoch nicht weiter auf, sondern gesellte sich zu den bereits vorhandenen. Bei der Ausfahrt glückte es ihm, diesmal keinen Fußgänger anzufahren oder zu behindern, weil zufällig keine da waren. Mit etwas Geschick fädelte er sich schließlich in den fließenden Verkehr ein.

Gut, die Fahrzeuge hinter ihm hupten etwas hektisch, doch weil er daran gewöhnt war, nahm er das gar nicht mehr richtig war. Auch die rote Ampel ignorierte er, war sie doch schon »fast grün«. Die Geschwindigkeit war leicht erhöht, aber er hatte es ja eilig, das würde der freundliche Polizist sicher einsehen, wenn er ihn an den Straßenrand winken würde. Zu seinem Glück stand der Polizeiwagen diesmal nicht an der üblichen Stelle. Eine viertel Stunde später bog er in seine Wohnstraße ein. Bis zu seinem kleinen Reihenhaus war es nur noch eine Rechtskurve und eine Seitenstraße weiter. Und plötzlich kam ihm ein Kind entgegen. Zwischen zwei der parkenden Wagen am rechten Straßenrand erschien ein blonder Wuschelkopf mit seinem Dreirad. Gerd konnte nicht schnell genug bremsen. Reifen radierten über den Asphalt, Bremsen quietschten. Trotzdem erwischte er das Dreirad. Es gab einen kräftigen Bums gegen den Kotflügel, und der Audi rumpelte über etwas drüber. Panik ergriff Gerd. Statt auf die Bremse zu treten, trat er das Gaspedal durch, bog an der nächsten Ecke falsch ab und fuhr eilig, jedoch ziellos durch die Stadt.

Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, um so erstaunlicher die Änderung seines Fahrstils. Gerd Heller fuhr umsichtig und getreu der STVO. Seine Gedanken jedoch hingen dem Unfall und seiner überhasteten, fehlgeleiteten Reaktion nach. Irgendwann fuhr er automatisch zurück nach Hause. Durch seine ziellose Fahrt erreichte er sein Haus diesmal aus einer anderen Richtung. Er stellte den Wagen wie üblich auf den Stellplatz neben dem Haus, griff sich automatisch die Blumen und ging zur Haustür. Als ob seine Frau es geahnt hätte, öffnete sie ihm die Tür.

Er drückte ihr die Rosen in die Hand und meinte: »Hier Liebling, alles Gute zu unserem Hochzeitstag.«

Überrascht nahm sie die Blumen entgegen und antwortete ihm mit einem leichten Lächeln: »Mein Schatz, du bist mal wieder im Irrtum. Unser Hochzeitstag ist erst morgen.«

Während er gedankenverloren den Mantel auszog, klingelte es an der Tür. Gerds Frau kam schnell in den Flur und öffnete, noch bevor Gerd sich aus dem Mantel geschält hatte. Vor der Tür stand ein Polizist. Gerd schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf, von jetzt haben sie mich bis hin zu einem unkontrollierten Fluchttrieb, den er gerade so bändigen konnte.

»Herr und Frau Heller?«, fragte der Polizist. Nachdem Frau Heller bestätigte, sagte der Ordnungshüter: »Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Ihr Sohn wurde vor Kurzem von einem Auto überfahren, der Täter ist flüchtig.«

Copyright © 2007 by Erik Schreiber