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Der Welt-Detektiv Band 6

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Liongirl – Die Herrin des Zitterns 2

Der Gott des Zorns

I

In tie­fer Nacht

Der 22. De­zem­ber.

Nur noch zwei Tage, und die christ­li­che Welt wür­de den Atem an­hal­ten, um Weih­nach­ten zu fei­ern.

Hell leuch­te­te der Baum auf dem Mark­platz von He­li­o­po­lis. Noch vor we­ni­gen Stun­den hat­ten dort Kin­der ge­sun­gen und das Schlie­ßen des Weih­nachts­mark­tes mu­si­ka­lisch be­glei­tet. Tra­di­ti­o­nell wur­den die Bu­den am 22. um Punkt 22:00 Uhr ge­schlos­sen.

Ei­nen Mo­nat hat­ten die Bür­ger ge­habt, um sich an dem Weih­nachts-Wun­der­land zu er­freu­en, wel­ches von den Ge­schäfts­leu­ten Jahr für Jahr er­rich­tet wur­de.

Ei­nen Mo­nat, um bei al­ko­ho­li­schen Ge­trän­ken, Leb­ku­chen und an­de­ren Köst­lich­kei­ten die Sor­gen zu ver­ges­sen.

Und Sor­gen hat­ten die Men­schen in Hell City wahr­lich ge­nug.

Ver­bre­chen, Dro­gen und Kor­rup­ti­on. Au­ßer­dem Ar­beits­lo­sig­keit und Ar­mut, wo­hin man schau­te.

Hell war der Fu­run­kel am Arsch von Ame­ri­ka, das Schmud­del­kind un­ter den Groß­städ­ten. Hät­ten die Bür­ger die Chan­ce ge­habt, an­ders­wo glück­lich zu wer­den, sie hät­ten den Mo­loch in Scha­ren ver­las­sen.

Aber Ame­ri­ka lag da­nie­der und nie­mand, nicht die Städ­te an der Ost­küs­te und auch nicht die Städ­te an der West­küs­te, brauch­ten Flücht­lin­ge aus He­li­o­po­lis. Bleib, wo du bist, und zieh dich aus dei­nem Elend – oder ver­re­cke da­rin.

Die Zei­ten wa­ren hart, die Men­schen wa­ren här­ter.

Ale­xand­ra Brown wuss­te, dass die Hoff­nungs­lo­sig­keit so man­chen zu il­le­ga­len Mit­teln grei­fen ließ.

Sie ver­stand es – ent­schul­dig­te es aber nicht.

Im Ge­gen­teil.

Als Li­on­girl – Her­rin des Zit­terns woll­te sie die Ver­bre­cher der Stadt das Für­chten leh­ren. Und an­ders als die Po­li­zei oder Staats­an­wäl­te frag­te sie nicht nach Durch­su­chungs­be­schlüs­sen und Haft­be­feh­len. Sie frag­te auch nicht nach Men­schen­rech­ten.

An­ders als Co­mic-Held He­ro­man – Rä­cher der Ar­men gab sie ei­nen Scheiß auf das Le­ben oder die Ge­sund­heit je­ner, die sie im Vi­sier hat­te. Ihre Waf­fen wa­ren töd­lich, ihre In­ten­ti­on kom­pro­miss­los.

Mit der Hand an der Waf­fe kau­er­te sie auf ei­nem Ei­sen­trä­ger dicht un­ter dem Dach ei­ner Hal­le im Nor­den der Stadt. Hier wuch­sen die Fab­ri­ken in die Höhe, hier schleu­der­ten rie­si­ge Schornstei­ne Dreck in die At­mo­sphä­re.

Die Ge­gend stank.

Nach Che­mi­ka­li­en, nach Ab­fall von der Müll­ver­bren­nungs­an­la­ge und nach hei­ßem Gum­mi. Es war ein Ort, an dem die Ar­bei­ter je­den Tag ihre Schich­ten ris­sen, um ehr­lich ver­dien­tes Geld nach Hau­se zu brin­gen. Män­ner und Frau­en, die zu­pack­ten und so ihre Fa­mi­li­en er­nähr­ten.

Vor ih­nen hat­te Ale­xand­ra den größ­ten Re­spekt, denn sie leis­te­ten et­was.

Aber hier, im Nor­den, wur­den auch an­de­re Ge­schäf­te ab­ge­wi­ckelt.

Es gab leer ste­hen­de Hal­len und Fab­ri­ken; alte Bau­ten, ver­ges­sen und dem Ver­fall preis­ge­ge­ben. In ih­nen wu­cher­te das Ver­bre­chen. Licht­scheue Ge­stal­ten wi­ckel­ten in den Bau­ten ihre Deals ab.

Nicht im­mer ging es um die gro­ßen Din­ge. Man­che wa­ren schon da­mit zu­frie­den, ihre Beu­te aus Raub­zü­gen ver­hö­kern zu kön­nen.

Ein­mal im Quar­tal fand ein re­gel­rech­ter Mit­ter­nachts-Floh­markt statt, auf dem man Hehler­wa­re erste­hen und ver­scher­beln konn­te.

Dann wie­der tra­fen sich Mit­glie­der der gro­ßen Ver­brecher­or­ga­ni­sa­ti­o­nen, um Dro­gen oder Al­ko­hol im gro­ßen Stil in die Stadt zu schmug­geln.

So wie in die­ser Nacht!

Der letz­te gro­ße Deal des Jah­res soll­te über die Büh­ne ge­hen. Ko­ka­in im Wert meh­re­rer Mil­li­o­nen Dol­lar war­te­te da­rauf, an die ein­zel­nen Bos­se ver­teilt zu wer­den.

Na­tür­lich wür­den die Pa­ten nicht selbst er­schei­nen. Kei­ner von de­nen mach­te sich die Fin­ger schmut­zig. Sie hat­ten ihre Hand­lan­ger, die das für sie er­le­dig­ten.

Aber je­der der fünf gro­ßen Clan­chefs wür­de sei­nen ge­rech­ten An­teil er­hal­ten. Nun, Gen­ove­se, der als Boss der Bos­se galt, wür­de wahr­schein­lich ein et­was grö­ße­res Ku­chen­stück ab­be­kom­men.

So zu­min­dest plan­ten es die Mobs­ter.

Li­on­girl hin­ge­gen hat­te völ­lig an­de­re Plä­ne.

Sie lag seit mehr als ei­ner Stun­de auf der Lau­er. Noch be­fan­den sich in der Hal­le un­ter ihr le­dig­lich die Lie­fe­ran­ten. In zwei Vans hat­ten sie das Ko­ka­in bei­ge­schafft und war­te­ten nun auf die Ab­neh­mer.

Durch Zu­fall hat­te Li­on­girl von der Sa­che er­fah­ren. Die Strei­fen­wa­gen hat­ten über Funk ei­nen un­miss­verständ­li­chen Be­fehl er­hal­ten: Hal­tet euch von dem al­ten Mil­ler-Kom­plex fern. Was im­mer ge­mel­det wird; dort gibt es nichts für euch zu tun!

Es zahl­te sich aus, dass die Crew um Ale­xand­ra Brown den Po­li­zei­funk ab­hör­te.

Es ging be­reits auf zwei zu und noch im­mer hat­te sich nie­mand bli­cken las­sen. Da die Lie­fe­ran­ten je­doch nicht un­ge­dul­dig wur­den, ver­mu­te­te Li­on­girl, dass es ei­nen be­stimm­ten Zeit­plan gab.

Wie rich­tig sie da­mit lag, zeig­te sich we­ni­ge Se­kun­den vor zwei.

Plötz­lich hiel­ten meh­re­re Li­mou­si­nen auf die Hal­le des Mil­ler-Kom­ple­xes zu. Das gro­ße Tor ging auf, Lam­pen tauch­ten den Bau in tag­hel­les Licht.

Die Wa­gen park­ten im In­ne­ren, kurz vor den Vans. Tü­ren wur­den auf­ges­to­ßen und Män­ner in schwar­zen An­zü­gen stie­gen aus. Sie wa­ren be­waff­net und schau­ten sich miss­trau­isch um.

Fünf Li­mou­si­nen, dach­te Li­on­girl. Je­der Pate hat ei­nen Wa­gen ge­schickt. Sehr schön …

»Gen­tle­men!«, rief ei­ner der Lie­fe­ran­ten. »Wie schön, wie schön. Wir ha­ben die Ware be­reits hand­lich ver­packt. Ich neh­me an, Sie möch­ten den Stoff tes­ten?«

Er ging zur Sei­te, um die Ma­fi­o­si ih­ren Job tun zu las­sen.

Jene, die sich hier tra­fen, wi­ckel­ten nicht das ers­te Ge­schäft ab.

Aber es wür­de das letz­te Mal sein, das hat­te sich Li­on­girl ge­schwo­ren.

Sie ak­ti­vier­te den Sicht­schutz ih­res Helms, dann ließ sie zwei Blend­gra­na­ten fal­len.

Nie­mand be­merk­te die ei­för­mi­gen Wurf­ge­schos­se.

Erst, als sie zwei Me­ter über dem Bo­den de­to­nier­ten und da­bei nicht nur ei­nen enorm grel­len Blitz ent­zün­de­ten, son­dern auch ei­nen na­he­zu oh­ren­be­täu­ben­den Lärm ver­ur­sach­ten, schri­en die Män­ner auf.

Man­che sack­ten in die Knie, an­de­re press­ten nur ihre Hän­de auf die Au­gen.

Mit ei­nem ele­gan­ten Sal­to sprang Li­on­girl in die Tie­fe, riss da­bei ihr Schwert her­vor und lan­de­te mit­ten un­ter den Ver­bre­chern.

Noch ehe die­se be­grif­fen, blitz­te die Klin­ge im Licht der hel­len Lam­pen.

Die Schreie wur­den gel­len­der, als der Stahl durch Kör­per schnitt. Arme und Köp­fe roll­ten, Blut spritz­te aus un­zäh­li­gen Wun­den.

»Was ist das?«, wim­mer­te ei­ner von Gen­ove­ses Män­nern. Er hielt ei­nen Arm­stumpf an sei­ne Brust ge­drückt. Noch im­mer konn­te er nichts se­hen. Blind dreh­te er den Kopf, um den An­grei­fer aus­ma­chen zu kön­nen. »Wer bist du?« Den letz­ten Satz brüll­te er in die Hal­le.

Ihm folg­te Stil­le.

Die Schreie, das Stöh­nen und Win­seln der an­de­ren wa­ren verstummt.

Nie­mand sonst leb­te noch. We­der die Lie­fe­ran­ten, noch ihre Kun­den.

Nur die­ser eine Mann kau­er­te auf dem Bo­den, die blu­ten­de Wun­de an die Brust ge­drückt. Urin durch­näss­te sei­ne Hose, Übel­keit wühl­te sei­nen Ma­gen auf. Kal­ter Schweiß rann über sein Ge­sicht.

Dann hör­te er die Schrit­te.

Sie ka­men von hin­ten. Lang­sam, be­droh­lich und si­cher.

»Wer bist du?«, frag­te er. Trä­nen lie­fen über sei­ne Wan­gen. Er merk­te, dass es ihm dünn und braun in die Hose ging. »Sag doch was.«

Kal­ter Stahl bohr­te sich in sei­nen Na­cken. Sei­ne Haa­re rich­te­ten sich auf, ob­wohl der Schmerz, als die Schwert­spit­ze in sei­ne Haut ein­drang, ver­nach­läs­sig­bar war im Ver­gleich zu der wild po­chen­den Pein, die von sei­nem Arm­stumpf aus­ging.

»Ich bin Li­on­girl, Her­rin des Zit­terns!«, er­klär­te Ale­xand­ra kalt. »All dei­ne Freun­de sind tot, nur du lebst noch.«

»Bit­te, töte mich nicht!«, wim­mer­te der Mann. »Es ist doch bald Weih­nach­ten!«

Wü­tend ver­setz­te Li­on­girl dem Mann ei­nen Tritt in die Rip­pen. »Ja, es ist Weih­nach­ten. Woll­test du den Kin­dern und Ju­gend­li­chen ein paar Gramm von der Schei­ße hier schen­ken?«, fuhr sie ihn an. »Aber nein, ich töte dich nicht. Sag dei­nem Boss, was hier ge­sche­hen ist. Sag ihm, dass Li­on­girl die Dro­gen ver­nich­tet und das Geld kon­fis­ziert hat. Ich den­ke, ich las­se es den Ar­men und Be­dürf­ti­gen zu­kom­men.«

Sie riss den Ver­letz­ten derb in die Höhe, führ­te ihn zum Aus­gang der Hal­le und gab ihm ei­nen Stoß. Hilf­los wank­te der Mann da­von. Er muss­te nur im­mer ge­ra­de­aus ge­hen, dann wür­de er frü­her oder spä­ter auf eine be­leb­te Stra­ße sto­ßen.

»Du elen­de Schlam­pe!«, rief der Ver­bre­cher mit wei­ner­li­cher Stim­me. »Du Schlamm­fot­ze. Gen­ove­se wird dir den Arsch auf­rei­ßen!«

Er blin­zel­te. Sche­men­haft konn­te er wie­der et­was er­ken­nen. Vor ihm er­streck­ten sich die Lich­ter der Stadt.

Er hat­te ge­ra­de ei­nen Ta­xi­stand er­reicht und ei­nen der Fah­rer um Hil­fe an­ge­fleht, als die Hal­le des Mil­ler-Kom­ple­xes de­to­nier­te. Der Feu­er­ball fraß sich in den Nacht­him­mel und wur­de so zu ei­nem Spek­ta­kel für jene, die noch un­ter­wegs wa­ren.

Dort, in dem Feu­er, ver­brann­te das Ko­ka­in der Ma­fi­a­bos­se.

»Ich habe ei­nen Kran­ken­wa­gen ge­ru­fen!«, er­klär­te der Ta­xi­fah­rer und schau­te mit­lei­dig auf den Schwer­ver­letz­ten. »Wer hat Ih­nen das an­ge­tan, Mann?«

»Sie war es«, wis­per­te der Ver­bre­cher, ehe er das Be­wusst­sein ver­lor. »Li­on­girl!« Dann brach er voll­ends zu­sam­men.

II

Nach­we­hen

Li­on­girls Ak­ti­on hat­te es nicht in die Mor­gen­blät­ter ge­schafft, wohl aber in die News von Ra­dio und Fern­se­hen.

Auch die Spät­aus­ga­ben der Zei­tun­gen be­rich­te­ten in al­ler Aus­führ­lich­keit über das, was sich in der Hal­le des Mil­ler-Kom­ple­xes mut­maß­lich ab­ge­spielt hat­te.

Die meis­ten Blät­ter schrie­ben zu­rück­hal­tend-neu­tral. Ein­zig der News Te­le­graph, eine Zei­tung, die zu Brown Me­dia ge­hör­te, schrieb aus­nahms­los po­si­tiv.

So, wie es Ale­xand­ra als kla­re Li­nie vor­ge­ge­ben hat­te.

Da­ran hiel­ten sich auch die an­ge­schlos­se­nen Sen­der. Die Re­dak­teu­re fan­den die pas­sen­den Wor­te, um Ab­scheu vor Ver­bre­chen, Hilf­lo­sig­keit der Bür­ger und kor­rup­te Po­li­ti­ker – al­len vo­ran der ehe­ma­li­ge Bür­ger­meis­ter der Stadt – in Wor­te zu klei­den und so auf­zu­zei­gen, dass der Frau hin­ter der Mas­ke im Grun­de gar nichts an­de­res üb­rig blieb, als zur Selbst­jus­tiz zu grei­fen.

Die Po­li­zei und auch der Staats­an­walt sa­hen dies an­ders. Sie spra­chen von bar­ba­ri­scher Selbst­jus­tiz, die sie kei­nes­falls dul­den dürf­ten. Nur der Staat und die von ihm ein­ge­setz­ten Or­ga­ne hät­ten das Recht, Ver­bre­chen zu be­stra­fen. Li­on­girl hät­te den Deal un­ter­bin­den, dann aber die Po­li­zei ru­fen und die Ver­bre­cher ver­haf­ten las­sen müs­sen. Das und sonst nichts sei der pas­sen­de Weg ge­we­sen. Die Tä­ter mit ei­nem Schwert ab­zu­schlach­ten war et­was, das Li­on­girl auf eine Stu­fe mit den Ver­bre­chern stell­te.

»Denkt hier je­mand ähn­lich?«, frag­te Ale­xand­ra, nach­dem sie die Aus­sa­gen von Edu­ard Cox, dem städ­ti­schen Ober­staats­an­walt, ge­hört hat­te. »Denkt je­mand, Li­on­girl wür­de auf ei­ner Stu­fe mit den Ver­bre­chern ste­hen?«

Sie blick­te erst zu Frank Por­ter, dann zu Ha­zel und zu Ben­ja­min Co­hen. Erst dann wan­der­te ihr Blick zu Co­coa Han­ni­gan, die auf ei­nem Ses­sel im Sa­lon saß, in der Hand ei­nen Be­cher mit kal­tem Scho­kaf­fee.

»Nein«, er­wi­der­te die Ha­cke­rin. »Man muss Feu­er mit Feu­er be­kämp­fen, will man ei­nen Wald­brand lö­schen. Das hast du ge­tan. Sei­en wir ehr­lich – die Ver­bre­cher la­chen über die Be­am­ten. Je­der Gangs­ter hat mehr Rech­te als ein Op­fer.«

Co­hen nick­te be­stä­ti­gend. »Co­coa hat recht. Du hast ge­tan, was ge­tan wer­den muss­te. Die­se Drecks­ker­le wer­den nie­mals wie­der Dro­gen ver­kau­fen. Und je­der, der für die fünf Pa­ten ar­bei­tet, muss zit­tern. Ge­nau so, wie wir es woll­ten.«

Ale­xand­ra lä­chel­te. Ihre Sa­che war nun eine Sa­che von all je­nen, die in ih­rem Sa­lon zu­sam­men­ge­kom­men wa­ren. Por­ter wuss­te eben­so wie Ha­zel, wer sich hin­ter Li­on­girl ver­barg.

Bei­de hat­ten es so­fort ak­zep­tiert; zu­mal sie be­reits für Ale­xand­ras El­tern ge­ar­bei­tet hat­ten.

Auch die Ar­bei­ter in Bad­gers Hal dach­ten sich ver­mut­lich, wozu die Er­fin­dun­gen ge­nutzt wur­den, ver­dien­ten aber der­art gu­tes Geld, dass sie die Klap­pe hiel­ten. Zu­mal je­der Ein­zel­ne von ih­nen wuss­te, um was es hier ging.

Co­hen hat­te sei­ne Mit­ar­bei­ter sehr ge­nau aus­ge­wählt.

»Was wis­sen wir über Cox?«, frag­te die Un­ter­neh­me­rin. Da­bei blick­te sie zu Co­coa. Ein war­mes Ge­fühl brei­te­te sich in ih­rem In­nern aus, wann im­mer sie den Blick der jun­gen Frau kreuz­te.

»Nach al­lem, was ich he­raus­ge­fun­den habe, ist er sau­ber. Kei­ne Schwarz­geld­kon­ten, kei­ne il­le­ga­len Kon­tak­te zu den Pa­ten der Stadt. Im Ge­gen­teil – er stand mehr­fach auf der Ab­schuss­lis­te, über­leb­te aber zwei At­ten­ta­te schwer ver­letzt. Sei­ne Leib­wäch­ter hat­ten nicht so viel Glück. Sei­ne Fa­mi­lie wur­de schon vor zwei Jah­ren aus der Stadt ge­schafft – er lebt al­lein, ist ein­sam und un­glück­lich.«

»Dann wer­de ich ihm heu­te Nacht sei­ne Ein­sam­keit ver­trei­ben.« Ale­xand­ra lä­chel­te sar­kas­tisch. »Mal se­hen, ob ein ver­nünf­ti­ges Wort mög­lich ist.«

»Sein Haus ist un­ter Ga­ran­tie per­fekt ge­si­chert!«, mahn­te Ben­ja­min Co­hen. »Pass auf, dass du nicht in eine Fal­le läufst.«

»Sein Haus ist gut ge­si­chert – aber ich konn­te mich in den Zen­tral­com­pu­ter der Alarm­an­la­ge ein­log­gen. Wenn Li­on­girl vor Ort ist, wird kei­ne Si­re­ne er­tö­nen und kein stil­ler Alarm die Po­li­zis­ten aus ih­rer Le­thar­gie rei­ßen.«

»Leib­wäch­ter?«, frag­te Frank Por­ter.

»Zwei im Haus. Li­on­girl muss sie aus­schal­ten.«

»Dann habe ich hier et­was.« Co­hen grins­te und reich­te Ale­xand­ra eine klo­bi­ge Pis­to­le. »Ein mo­di­fi­zier­ter Ta­ser. Der Strom ist in den Na­deln ge­spei­chert, so­dass sie ohne Ka­bel aus­kom­men. Ein Schuss, und die Wa­chen lie­gen für Stun­den auf dem Bo­den.«

»Per­fekt.« Ale­xand­ra schau­te auf die Uhr. »Ich möch­te heu­te an der Re­dak­ti­ons­sit­zung der News Te­le­graph teil­neh­men. Of­fen­bar gibt es ei­nen Kon­flikt zwi­schen ei­ni­gen jun­gen Re­dak­teu­ren und dem Chef­re­dak­teur?« Der letz­te Satz war eine Fra­ge an ih­ren As­sis­ten­ten.

Por­ter nick­te. »Es geht um die Fra­ge der Po­si­ti­o­nie­rung im Zeit­al­ter von Apps und In­ter­net. Es könn­te sein, dass der mo­men­ta­ne Chef­re­dak­teur ein we­nig … zu alt … da­für ist.«

»Wird nicht An­fang 2011 ein Pos­ten im Di­rek­to­ri­um von Brown Me­dia frei?«, frag­te Ale­xand­ra.

»So ist es«, be­stä­tig­te Por­ter. »Möch­ten Sie den Chef­re­dak­teur dort­hin ver­set­zen las­sen und Platz schaf­fen für ei­nen Nach­fol­ger?«

»So ma­chen wir es. Lei­ten Sie es in die Wege, aber sa­gen tue ich es ihm. Er ist ein gu­ter Mann, mein Va­ter war stets zu­frie­den mit ihm. Der News Te­le­graph be­nö­tigt eine or­dent­li­che On­li­ne-Re­dak­ti­on und je­man­den, der sich um Apps küm­mert. Ich frag­te mich schon lan­ge, war­um ich jede Zei­tung der Stadt auf dem iPad le­sen kann, mei­ne ei­ge­ne aber nicht.«

Sie wink­te und ver­ließ den Sa­lon.

Noch wäh­rend sie die Hal­le durch­maß, wur­de sie von Co­coa ein­ge­holt. »Alex?«

Die Un­ter­neh­me­rin dreh­te sich um. Wie­der spür­te sie das war­me Ge­fühl in ih­rem In­nern. Sie sah die blau­en Au­gen der Com­pu­ter­ex­per­tin, den sinn­li­chen Mund mit den wei­chen Lip­pen und er­in­ner­te sich an den Kuss, den bei­de ge­teilt hat­ten.

Je­ner eine Mo­ment hat­te ihr mehr ge­ge­ben als al­les, was sie in den letz­ten sechs Jah­ren ge­tan hat­te. Sie war auf­ge­taut, hat­te Ver­trau­en ge­fasst und spür­te et­was von der Mensch­lich­keit, die sie ver­lo­ren ge­glaubt hat­te.

Sie streck­te die Hand aus und griff nach je­ner der Ha­cke­rin. »Möch­test du mich be­glei­ten?«

Co­coa schüt­tel­te den Kopf. Sie trat dicht an Ale­xand­ra he­ran. »Nein, ich … muss dei­nen Ein­satz vor­be­rei­ten. Es … geht um et­was an­de­res.«

Sie senk­te den Blick, ihre Wan­gen rö­te­ten sich.

»Und um was?«

»Ich … woll­te dich um ei­nen Ge­fal­len bit­ten. Hof­fent­lich ver­stehst du es nicht falsch …«

»Hm?« Ale­xand­ra neig­te den Kopf zur Sei­te, führ­te die Hand der jun­gen Frau zu ih­rem Mund und hauch­te ihr ei­nen Kuss auf die Fin­ger. »Was ist es?«

Co­coa lä­chel­te ob der Ges­te. »Es … geht um mei­nen Bru­der.«

»Du hast ei­nen Bru­der?«

Die Com­pu­ter­ex­per­tin nick­te. »Er saß eine Wei­le im Ge­fäng­nis. Da­ten­spi­o­na­ge, Ein­bruch in frem­de Netz­wer­ke … Er ist gut, aber nicht so gut wie ich.«

»Und?«

»Er kommt bald auf Be­wäh­rung raus. Er ist ein gu­ter Pro­gram­mie­rer. Wenn du eine On­li­ne-Re­dak­ti­on er­öff­nen willst … Ich mei­ne … Es wäre toll, wenn du mei­nem Bru­der eine Chan­ce ge­ben könn­test.«

»Okay.«

Co­coa blin­zel­te. »Okay? Ein­fach so?«

»Soll ich es sin­gen?«, frag­te Ale­xand­ra grin­send. Sie zog Co­coa nä­her an sich. Auch wenn in die­sem Mo­ment die an­de­ren den Sa­lon ver­lie­ßen und sa­hen, was sich in der Hal­le tat. Dies war ihr Haus. Sie konn­te tun und las­sen, was sie woll­te. Ab­ge­se­hen da­von in­te­res­sier­te im Jahr 2010 nie­man­den, ob eine Frau eine Frau küss­te – oder ei­nen Mann. Sie hät­te auch ei­nen Hund küs­sen kön­nen … So lan­ge die­ser nur alt ge­nug war …

Die bei­den Frau­en schau­ten sich aus nächs­ter Nähe an, dann küss­ten sie ei­nan­der vor­sich­tig. Noch wuss­ten bei­de nicht, wie sie zu­ei­nan­der stan­den. Sie wa­ren sich hin und wie­der auf die­se Wei­se nä­her­ge­kom­men, mehr aber nicht. »Wenn du möch­test, dass ich dei­nem Bru­der eine Chan­ce gebe, dann tue ich das«, er­klär­te die Un­ter­neh­me­rin, nach­dem sie den Kuss ge­löst hat­ten.

»Weil du mir ver­traust? Oder um mir ei­nen Ge­fal­len zu tun?«

»Bei­des. Und weil …« Sie schau­te Co­coa in die Au­gen und glaub­te, in de­ren Blick zu ver­sin­ken.

»Ja?«, frag­te die Ha­cke­rin wis­pernd.

»Und weil ich dich sehr mag. Weil du mir wich­tig bist und ich dir ger­ne …« Sie schau­te zu Bo­den.

»Weil du mir ger­ne … was?« Co­coa griff Ale­xand­ra un­ter das Kinn und hob de­ren Kopf an, so­dass sie ihr wie­der in die Au­gen schau­en konn­te. »Hm? Was meinst du?«

»Weil ich dir ger­ne nahe sein möch­te!«, gab die Un­ter­neh­me­rin un­be­hol­fen zu­rück. »Nä­her als jetzt. Du bist … Ich habe noch nie so für je­man­den emp­fun­den. Die­se Ge­füh­le sind mir fremd, aber …«

»Pst.« Co­coa küss­te Ale­xand­ra wie­der. »Ich weiß, was du meinst«, gab sie dann zu. »Ich emp­fin­de nicht an­ders. Die Zeit, in der wir so eng zu­sam­men­ar­bei­te­ten und al­les auf­bau­ten … Du bist so viel mehr als das, was du je­dem zeigst.«

»Lass uns heu­te Abend da­rü­ber spre­chen«, bat Ale­xand­ra. »Wenn ich von mei­nem Aus­flug zu­rück­kom­me. Ich …« Sie küss­te Co­coa noch ein­mal, dann wand­te sie sich rasch ab und eil­te da­von.

Die Ha­cke­rin schau­te ihr nach, dreh­te sich um – und stieß fast mit Frank Por­ter zu­sam­men. Der äl­te­re Mann stand vor ihr und mus­ter­te sie auf­merk­sam.

»Was?«, frag­te Co­coa. Sie fühl­te sich un­be­hag­lich un­ter dem se­zie­ren­den Blick des Ad­ju­tan­ten.

»Ich ken­ne Miss Brown, seit sie auf der Welt ist. Ich habe sie auf­wach­sen und lei­den se­hen. Sechs Jah­re lang mied sie je­den Kon­takt und vers­tei­ner­te in­ner­lich mehr und mehr. Nun taut sie auf – auch dank dir.«

»Und?«, frag­te die Ha­cke­rin un­si­cher.

»Soll­test du ihr weh­tun oder es auf ihr Geld ab­ge­se­hen ha­ben, soll­test du sie aus­nut­zen und ver­let­zen – dann wer­de ich sehr, sehr är­ger­lich!«

»Da­rum geht es mir nicht. Ich wür­de ihr nie weh­tun. Mei­ne Ge­füh­le für sie sind echt. Auch wenn ich es nicht er­klä­ren kann, denn bis­lang … Es ist ein­fach pas­siert.«

»Gut. Dann wün­sche ich dir und ihr viel Glück und eine fro­he Zu­kunft.« Da­mit wand­te sich Por­ter ab und ging da­von.

O-kay!, dach­te Co­coa. Gut, dass ich kei­ne fal­sche Schlan­ge bin. Mit dem ist nicht zu spa­ßen!


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