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Der Welt-Detektiv Band 6

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Beowulf

Obwohl es häufig als das archetypische angelsächsische literarische Werk und als Eckpfeiler der modernen Literatur angesehen wird, hat Beowulf eine besondere Geschichte, die sowohl seine historische und kanonische Stellung in der englischen Literatur verkompliziert. Zu jener Zeit, als die Geschichte von Beowulf von einem unbekannten angelsächsischen Dichter um 700 n. Chr. geschrieben wurde, war bereits seit vielen Jahren einiges von seinem Stoff aufgrund mündlicher Überlieferungen in Umlauf gebracht worden. Angelsächsische und skandinavische Völker fielen in Britannien ein, siedelten sich dort mehrere Hundert Jahre zuvor an und brachten mehrere eng verwandte germanische Sprachen mit, aus denen sich das Old English entwickelte. Elemente der Geschichte des Beowulf – einschließlich seines Charakters und Wesens – stammen aus der Zeit vor dieser Völkerwanderung. Die Handlung des Gedichtes findet um 500 n. Chr. statt. Viele der Charaktere im Gedicht – die schwedischen und dänischen königlichen Familienmitglieder zum Beispiel – entsprechen den tatsächlichen historischen Persönlichkeiten. Eine Vielzahl an heidnischen Kriegern wurde am Ende des 6. Jahrhunderts mit einer groß angelegten Bekehrung zum Christentum durch die angelsächsischen und skandinavischen Eindringlinge konfrontiert. Obwohl Beowulf eine alte heidnische Geschichte war, wurde sie von einem christlich orientierten Dichter niedergeschrieben und erzählt. Dieser war oft bemüht, seinen Figuren christliche Gedanken und Motive zuzuschreiben, obwohl sie sich deutlich unchristlich verhielten. Die Legende von Beowulf, die wir kennen, ist daher wahrscheinlich ganz anders als der Beowulf, mit welchem das erste angelsächsische Publikum vertraut war. Das Element religiöser Spannungen ist in christlichen angelsächsischen Schriften wie zum Beispiel The Dream of the Rood durchaus üblich, aber die Kombination einer heidnischen Geschichte mit einem christlichen Erzähler ist ziemlich ungewöhnlich. Die Welt, welche Beowulf reflektiert, und der heroische Ehrenkodex, der in der Geschichte definiert wird, stellt sich als ein Relikt aus der präangelsächsischen Kultur dar. Und die Geschichte selbst spielt in Skandinavien vor der Völkerwanderung. Obwohl wir es mit einer traditionellen Geschichte als Teil germanischer mündlicher Überlieferungen zu tun haben, ist das Poem, so, wie wir es kennen, das Werk eines einzelnen Dichters. Es wurde in England (nicht in Skandinavien) verfasst, ist bei genauer Betrachtung historisch einzuordnen und vereinigt in sich Werte und Kultur einer vergangenen Ära. Viele jener Werte, einschließlich des heroischen Kodexes, in den Jahrhunderten entwickelt und immer wieder verändert, waren noch in Kraft, als das Gedicht geschrieben wurde. In der skandinavischen Welt der Geschichte scharen sich kleine Stämme der Menschen um starke Könige, die ihr Volk vor Gefahren schützen – vor allem bei Auseinandersetzungen mit anderen Stämmen. Die Krieger-Kultur, die aus dieser frühen Feudalordnung resultiert, ist für die Geschichte und das Verständnis der angelsächsischen Zivilisation überaus wichtig. Starke Könige forderten Tapferkeit und Loyalität von ihren Kriegern und belohnten sie dafür mit im Krieg erbeuteten Schätzen. Met- oder Festhallen wie zum Beispiel Heorot in Beowulf waren Orte, an denen sich die Krieger versammelten, in Anwesenheit ihres Herrn reichlich tranken, sich rühmten, Geschichten erzählten und Geschenke erhielten. Obwohl diese Met-Hallen als Heiligtum angesehen wurden, erwies sich das frühe Mittelalter als eine gefährliche Zeit, und die paranoiden Vorstellungen einer möglichen Invasion sowie die Angst davor plagte die skandinavische Gesellschaft und ist auch in Beowulf allgegenwärtig.
Aus der angelsächsischen Ära blieb nur ein einziges Manuskript von Beowulf erhalten. Für viele Jahrhunderte war das Manuskript so gut wie vergessen, und in den 1700er Jahren wurde bei einem Brand fast zerstört. Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich unter den Gelehrten und Übersetzern des Old English ein weitverbreitetes Interesse an dem Dokument. In den ersten hundert Jahren der Kenntnis von Beowulf beschränkte sich dieses Interesse an dem Gedicht in erster Linie aus historischer Sicht. Der Text wurde als eine Informationsquelle über das angelsächsische Zeitalter angesehen. Es sollte jedoch noch bis 1936 dauern, dass der Oxfordgelehrte J.R.R. Tolkien, der später The Hobbit und den The Lord of the Rings schrieb und sich bei seinen Arbeiten stark durch Beowulf beeinflussen ließ, ein bahnbrechendes Papier veröffentlichte, das Beowulf: The Monsters and the Critics betitelt und das Manuskript als ernst zu nehmendes Kunstwerk anerkannt wurde.

Altenglische Poesie
Beowulf ist nunmehr weit verbreitet und wird häufig als die erste wichtige Arbeit der englischen Literatur dargestellt. Es erweckt den Eindruck, dass Beowulf auf gewisse Weise die Quelle englischer Poesie ist. Da das Gedicht jedoch bis in die 1800er Jahre nicht gelesen und bis 1900 nicht als ein Kunstwerk angesehen worden war, konnte Beowulf auch nicht direkte Auswirkungen auf die Entwicklung der englischen Poesie ausgeübt haben. In der Tat hatte Chaucer, Shakespeare, Marlowe, Pope, Shelley, Keats und die meisten anderen wichtigen englischen Schriftsteller vor den 1930er Jahren wenig oder gar keine Kenntnisse über den Inhalt des Epos.

Beowulf wird oft als das erste wichtige Werk der Literatur in Englisch bezeichnet, obwohl es in Old English, eine alte Form der Sprache, geschrieben wurde, die nun langsam im englischen Raum wieder Einzug hält. Im Vergleich zum modernen Englisch erinnert das Old English stark an das Germanische mit etwas Einfluss aus dem Lateinischen oder Französischen. Während sich die englische Geschichte entwickelte, nachdem die französischen Normannen die Angelsachsen im Jahre 1066 besiegten, wurde das Old English allmählich durch jene Sprachen durchsetzt. Das moderne Englisch wurde aus einer Reihe von Quellen hergeleitet. Infolgedessen ist sein Vokabular reich an Synonymen. Das Wort »kingly« zum Beispiel stammt aus dem angelsächsischen Wort »cyning« und bedeutet »König«, während das Synonym »royal« von einem französischen Wort und das Synonym »regal« von einem lateinischen Wort hergeleitet wird.

Glücklicherweise lesen diejenigen, welche auf Beowulf stoßen, das Werk in der modernen englischen Übersetzung. Dennoch ermöglichen Kenntnisse über die Grundlagen der angelsächsischen Poesie ein tieferes Verständnis des Textes von Beowulf. Die alte englische Poesie ist sehr formal, aber seine Form ist ganz anders als alles im modernen Englisch. Jede Zeile der alten englischen Poesie gliedert sich in zwei Hälften, getrennt durch ein Verseinschnitt oder Unterbrechung, wie im folgenden Beispiel aufgezeigt:

Hwæt! We Gardena         in geardagum,
þeodcyninga,         þrym gefrunon,
hu ða æþelingas         ellen fremedon.
Oft Scyld Scefing         sceaþena þreatum

Weil angelsächsische Poesie in mündlicher Überlieferung lange existierte, bevor sie aufgeschrieben wurde, enthält die Versform komplizierte Regeln und einen nicht enden wollenden Umfang an Stabreimen. Sie erinnern manchen unter uns an die vielen langen Verse, welche in der Schulzeit  auswendig gelernt werden mussten. Jede der beiden Hälften einer angelsächsischen Zeile enthält zwei betonten Silben, und die Stabreimstruktur muss über den Verseinschnitt erfolgen. Jede der betonten Silben können mit Ausnahme der letzten Silbe alliterieren, d. h. den gleichen Anlaut haben, sodass die erste und zweite Silbe mit dem dritten zusammen alliterieren oder die erste und dritte allein alliterieren oder der zweite und dritte allein alliterieren können. Zum Beispiel:

lade ne letton.         Leoht eastan com

Lade, letton, leoht und eastan sind hierbei die vier betonten Worte. Zusätzlich zu diesen Regeln kennzeichnet die alte englische Poesie oft einen charakteristischen rhetorischen Aufbau. Die häufigste davon ist die sogenannte kenning, welche im gesamten Beowulf verwendet wurde. Unter einer Kenning versteht man eine metaphorische Kurzbeschreibung einer Sache anstelle der Sache selbst. So könnte zum Beispiel ein Schiff als Meer-Fahrer oder ein König als Ring-Geber bezeichnet werden Einige Übersetzungen verwenden Umschreibungen fast so häufig, wie sie im Original vorhanden sind. Andere moderieren die Verwendung der Umschreibung mit Rücksicht auf ein modernes Empfindungsvermögen. Doch die alte englische Version des Epos ist voll von ihnen und somit vielleicht das wichtigste rhetorische Werk innerhalb der alten englischen Poesie.

Quelle:

  • Podcast: Julian Harrison, Kurator von mittelalterlichen Manuskripten spricht über das Beowulf-Manuskript, British Library, London, Online Gallery

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