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Der Weg ins Unendliche

Eine lange Straße erstreckte sich vor meinen Füßen. Der Asphalt fühlte sich weder kalt noch warm an. Selbst die Luft schien weder Kälte noch Wärme zu besitzen. Am Straßenrand war nicht ein Grashalm, geschweige denn ein kleiner Baum zu sehen. Nur eine endlose Sandlandschaft, die durch diese eine Straße gespalten wurde. Es erinnerte mich ein bisschen an eine Wüste, in der man bei jedem Schritt auf einen Tropfen Wasser hoffte. Doch hier verspürte ich weder Erschöpfung, noch Hunger oder Durst. Ich schaute in den wolkenlosen Himmel. Keine Sonne, die mich blendete, kein Mond, der wie ein wachendes Auge auf mich herunter blickte. Ich lauschte in die einsame Stille, doch alles, was ich vernahm, waren die Stimmen, die in meinem Kopf umherschwirrten. Sie sagten mir, ich solle weiter die Straße heruntergehen. Sie sagten, ich würde bald an mein Ziel kommen.

Also setzte ich mich in Bewegung und tat langsam und vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ich spürte jedoch keinen Widerstand des Bodens, sondern es fühlte sich an, als würde ich diesen gar nicht berühren – als würde ich schweben. Ich strauchelte und dachte, ich würde auf den rissigen Asphalt stürzen, doch ich konnte mich fangen.

Erschrocken blieb ich einen kurzen Augenblick stehen und verharrte auf der Stelle. Ich blickte über meine Schulter. Auch hinter mir teilte diese endlos scheinende Straße die Wüste in zwei Teile.

»Wo bin ich hier? Wie komme ich hierher?«, fragte ich leise. Jedoch wurde mir schnell bewusst, dass ich auf diese Fragen keine Antworten erhalten würde. Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner Brust, welcher mich zu Boden riss. Es war das Gefühl einer gleißenden Klinge, ein Fleischermesser, welches sich ruckartig in meinen Brustkorb bohrte.

Der Schmerz war nahezu unerträglich. Ich schrie und rechnete damit, dass meine Stimme ein Echo durch die Luft wirbeln würde. Doch es blieb still. So schnell und plötzlich dieser Schmerz auch kam, so schnell verflog er wieder. Es war, als ob er gar nicht da gewesen wäre, als sei er nur ein Produkt meiner Fantasie. Ich rappelte mich wieder auf und ging weiter Richtung nirgendwo.

Ich sah, wie Sand über die Straße wehte, doch konnte ich nicht einen einzigen Windhauch spüren. Es schien, als würde die Welt stillstehen. Zeit würde keine Rolle mehr spielen. Doch es kam mir vor wie mehrere Stunden, bevor ich endlich etwas sah, womit ich nicht mehr rechnete. Trotz meines zügigen Tempos schien es, als würde ich auf der Stelle treten. Jeder Meter sah aus wie der andere. Doch plötzlich hatte eine besondere Sache meine volle Aufmerksamkeit. Ein Straßenschild prangte auf der rechten Seite des Weges.

Ich trat näher an das Schild heran. Es stand schief, als wäre es von einem Auto angefahren worden. Auf einem langen, leicht brüchigem Pfahl aus Holz steckte ein ovalförmiges Stück Metall. Bedeckt wurde es von etwas abgeblätterter weißer Farbe. In der Mitte stand in großen schwarzen Lettern das Wort »FREIHEIT« geschrieben. Ich wusste nicht, was es bedeuten sollte, also schenkte ich dem Schild keine weitere Beachtung und ging weiter. Nach ein paar Schritten blickte ich ein weiteres Mal über meine Schulter, doch das Schild war verschwunden.

Gab es dieses Schild nur in meiner Einbildung? War es ein Erzeugnis meiner Fantasie?

All das waren Fragen, die mir niemand beantworten konnte. Und so blieb ich über all das im Unklaren.

Nun fühlte ich etwas, was schlimmer war, als der Schmerz, den ich in meiner Brust spürte. Ich verspürte Angst – pure Angst.

Plötzlich zuckte ein Blitz über den Himmel, gefolgt von einem gewaltigen Donnergrollen. Jedoch erschrak ich nicht, sondern schaute einfach in den Himmel, der noch immer strahlend blau war und nicht, wie ich angenommen hatte, mit Gewitterwolken überzogen. Unbeeindruckt wanderte ich weiter den Weg herunter. Ich war nicht erschöpft, doch war ich ängstlich vor dem, was vielleicht noch passieren könnte.

»VERLIEREN«, sagte eine hektisch wirkende Stimme in meinem Kopf. Ich kniff die Augen zusammen und hielt mir mit den Händen die Ohren zu, blieb jedoch nicht stehen. »VERLIEREN«, sagte sie ein weiteres Mal. Doch sollte es nicht alles gewesen sein, was ich zu hören bekam. »DADDY«, dröhnte eine Kinderstimme in meinen Ohren. Ich öffnete meine Augen, doch ich sah noch immer nicht mehr, als die Unendlichkeit der Wüstenstraße.

Ich war zwar nicht erschöpft, dennoch setzte ich mich mitten auf die Straße und schloss die Augen, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Ein Gewirr von Stimmen schwirrte mir durch den Kopf. »SCHAFFEN«, »SINKT« und »ZURÜCKHOLEN« waren nur einige Wörter von denen, die ich verstehen konnte. Mir wurde fast schwindelig. Wie aus heiterem Himmel verstummten diese Stimmen, die mich um den Verstand bringen sollten, abrupt. Ich öffnete langsam die Augen und sah in der Ferne Rauch aufsteigen.

Ich erhob mich und ging dem entgegen, was mich in dieser Landschaft wie magisch anzog. Ich hatte das Gefühl, als seien Stunden vergangen, als ich die Quelle des Rauches erreichte. Er stieg aus einem Schornstein auf, der auf einem alten Haus angebracht war. Ich kannte dieses Haus. Ich erkannte es an der Birke rechts neben dem Küchenfenster und an den Tulpen neben dem Haupteingang. Meilenweit war kein Grashalm oder sonst irgendwelche Pflanzen zu erkennen, doch hier wuchsen sie in Hülle und Fülle.

Das Haus, das wie aus einem Bilderbuch wirkte, war mein Elternhaus. Es war das Haus, in dem ich aufgewachsen bin und es stand mitten in der Leere der Wüste. In dieser trostlosen Landschaft wirkte es verloren und ein wenig befremdlich, war es doch sonst von Nachbarhäusern umgeben.

Aus dem Augenwinkel meinte ich erkannt zu haben, wie meine Mutter in einem der Fenster erschien. Ich schaute etwas genauer und angestrengt und tatsächlich war sie es. Sie hatte ihre langen braunen Haare zu einem Dutt geformt, wie sie es früher immer getan hatte, als sie uns in der Küche das Essen machte. Sie winkte mir zu und hatte dieses unverwechselbare Lächeln in ihrem Gesicht. »Mum?«, fragte ich leise. Sie antwortete nicht, sondern winkte mir noch immer zu. Ich ging etwas näher an das Fenster neben der Haustür, hinter dem sie stand. Nun brach sie ihr Schweigen: »Komm herein, mein Sohn. Ich warte nun schon so lange auf dich. Ich habe dir Muffins mit Zitronenglasur gebacken. Alles ist so, wie du es magst.»

Ich blickte ihr in die Augen, die trotz ihres Lächelns traurig aussahen. »Mummy, du bist …«, sagte ich und brach plötzlich den Satz ab. Was ging hier nur vor? Es konnte nicht meine Mutter sein, denn diese ist bereits seit vielen Jahren an Krebs gestorben. Ich fuhr sie an: »Du bist nicht meine Mutter! Meine Mutter ist TOT!«

Kaum hatte ich den Satz beendet, verformte sich ihr Gesicht zu einer hässlichen Fratze. Ihre Haut schien zu verbrennen, wurde sie doch plötzlich schwarz und spröde wie verbranntes Papier. Ich sah, wie das Haus unter lautem Getöse auseinanderbrach. Die Bruchstücke fielen jedoch nicht zu Boden, sondern wurden in den Himmel gezogen. Ich hörte die Gestalt in dem Haus nur noch einen Satz sagen, bis mich ein gleißendes Licht blendete: »Wir sehen uns wieder.«

Ich öffnete langsam meine Augen und rechnete damit, wieder auf der Straße, die die Wüste zerteilte, aufzuwachen. Doch ich blickte direkt in die Augen eines kleinen Mädchens. Es war meine fünfjährige Tochter Cynthia. »Daddy, die haben dich wieder heile gemacht«, prustete sie heraus und strahlte über ihr ganzes Gesicht. Ich sah mich um und sah weiße Wände. An einer Wand hing ein Bild, das eine Vase mit Obst zeigte. Ich lag in einem Bett, welches mit einem weißen Laken bezogen war. Auch die Bettwäsche war in dezentem Weiß gehalten. Zu meiner Rechten war ein großes Fenster, wodurch ich den blauen Himmel sehen konnte. Eine große Wolke, die die Form eines Hasenkopfes hatte, schwebte durch die Luft und ich war froh, wieder mehr sehen zu können, als nur das unendliche Blau.

Ich versuchte mich aufzurichten, doch der reißende Schmerz in meinem Nacken und meiner Brust hinderten mich daran. Nun trat noch eine Frau in mein Blickfeld, welche sich über mein Gesicht beugte und sagte: »Schatz? Tobin, wie fühlst du dich?«

Es war meine Frau Liz. Ich wollte ihr antworten, dass mir noch etwas schwindelig war und ich Durst hätte, doch ich brachte kein einziges Wort heraus. Mein Hals war wie zugeschnürt.

Auch das Atmen fiel mir schwer. Ich nickte ihr lediglich zu, um ihr zu zeigen, dass alles in Ordnung war.

Ich nahm alle Kraft zusammen und fragte Liz, was passiert sei. Sie schickte Cynthia für einen kurzen Moment aus dem Zimmer, sah mich betroffen an und erklärte mir, was geschehen war.

»Du hattest einen Autounfall. Ein Reisebus hat dich auf der Autobahn gestreift und du bist …« Liz hielt inne.

Ich bemerkte, wie ihr eine Träne über die Wange lief und sie sich zusammenriss, nicht zu weinen. Dennoch schaffte sie es nicht, ihren Emotionen standzuhalten.

Sie drehte ihren Kopf zur Seite und wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie fortfuhr: »Du bist gegen die Leitplanke geknallt und hast dich mit dem Wagen überschlagen. Die Ärzte und der Notfallhubschrauber waren sofort zur Stelle. Du hast Glück gehabt, dass sie dich noch aus dem Auto bekommen haben. Du hast Glück, dass es alles so schnell ging. Es hatte sich ein großer Glassplitter in deinen Brustkorb gebohrt, der nicht leicht zu entfernen war. Hätte man ihn rausgezogen, wärst du …« Liz hielt einen weiteren Moment inne, um sich ihre Tränen zu verkeifen, indem sie sich auf die Unterlippe biss. »Du wärst auf der Stelle verblutet, wenn sie ihn einfach so gezogen hätten. Sie mussten ihn herausoperieren. Du hättest den Eingriff fast nicht überlebt.«

Geschockt von der erdrückenden Ehrlichkeit ihrer Erklärungen rann mir eine Träne die Wange entlang. Mir wurde schlagartig klar, dass ich fast gestorben wäre und meine Familie nie wiedergesehen hätte. Der Gedanke, dass Cynthia ohne ihren Vater aufgewachsen wäre, war für mich unerträglich.

Ich musste noch einige Zeit im Krankenhaus bleiben, bis ich wieder vollständig genesen war. Mein gesamter Aufenthalt dort betrug vier Wochen. Liz und Cynthia kamen mich jeden Tag besuchen und meine Fortschritte, wieder richtig und gleichmäßig zu atmen, wurden von Tag zu Tag besser. Anfangs war ich noch etwas wackelig auf den Beinen, doch auch dieses Problem bekam ich schnell in den Griff. Ich bin sicher, dass ich meine Mutter irgendwann wiedersehen und ein weiteres Mal am Ende der Wüstenstraße stehen werde, doch all das liegt noch in sehr weiter Ferne.

Copyright © 2008 by Jan Roever