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Paraforce Band 51

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Starke Gefühle

Die Axt steckte in Toms Brustkorb fest. Sie zog am Stiel, drehte den Axtkopf hin und her, jedoch ohne Erfolg. Hatte Tom gestöhnt? Sie legte sich mit ihrem Gewicht auf die Axt, es knackte und tatsächlich stöhnte Tom. Und dann nicht mehr. Etwas schepperte im Dunkeln. Es musste aus der Küche gewesen sein. Sie konnte kaum etwas bei der milchigen Notbeleuchtung erkennen.

»Merle? Merle, was ist los? Wo bist du?« Matthes. Matthes der Dreckskerl. Mit ihm hatte der ganze Scheiß angefangen. Mit seinen Vermutungen, weswegen sie hier waren, mit seinen Fragen. »Merle?« Er kam aus den Schlafräumen aus Trakt Zwei. Da hatten sie gar nichts zu suchen gehabt. Er näherte sich ihr. Wieder ein Geräusch aus der Küche, ein Poltern. Sie musste sich beeilen. Sie sammelte ihre Kräfte und mit einem Ruck brach sie die Axt aus Toms Körper. Sie stöhnte auf. Ihre Wunde in ihrem Oberarm blutete wieder. Sie schob Tom zur Seite, öffnete die eiserne Brandschutztür und verschwand in dem technischen Versorgungsraum.

»Merle?« Matthes war deutlich näher gekommen, sie schloss die Tür.

* * *

Er nahm einen Schluck Wasser und sah in die Runde erwartungsvoller Gesichter. Interne, hochrangige Vertreter aus den weltweiten Niederlassungen, der Aufsichtsrat, Presse und namenhafte, potenzielle Kunden aus Politik und Wirtschaft.

»… ein voller Erfolg«, beendete er seinen Satz.

»Es ist uns gelungen, den Ursprung emotionaler Information zu dechiffrieren. Auf externe Schlüsselreize konnten wir in der ersten Phase die Transmitter, Botenstoffe, bestehend aus Proteinketten, extrahieren und diese starken Gefühlen zuschreiben. In Phase 1 haben wir dezentral auf verschiedenen Standorten exakt identische Testreihen laufen lassen. Die einzige Bedingung war, dass die Probanden aus dem jeweiligen Kulturkreis vor Ort akquiriert werden mussten, um zu überprüfen, wie stark sich kulturelle Muster in das zelluläre Gedächtnis geschrieben hatten. Redundant dazu die Frage: Wird auf identische Ereignisse mit denselben starken Gefühlen reagiert?«

Er bedachte die Runde mit einem Lächeln und wollte einen Filmclip präsentieren.

»Und gab es da nicht in Phase 2 diese Probleme?«, fragte Jeffrey und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Seine Augen verengten sich. Typisch Ami. Aber woher wusste Jeffrey von den Problemen?

»Na, Jeff, es war ein kleines technisches Problem der Forschungseinrichtung, die wir in einem ehemaligen ostdeutschen Militärbunker betrieben hatten. Ein Sicherheitsleck im technischen Versorgungsraum.«

* * *

Rotes Notlicht. Sie schlich an großen und kleinen Rohren entlang. Ein stetes Brummen erfüllte den unübersichtlichen Raum. Die Axt hielt sie in beiden Händen vor sich, zum Schlag bereit. Matthes hatte das Schloss zum Versorgungsraum geknackt. Matthes und Carla. Wo war Carla? Wie lange war das her? Wie lange hatten sie keinen Kontakt mehr nach außen? Seit wann hatten sie kein Licht? Sie wusste es nicht mehr.

Matthes hatte angefangen, verrückt zu werden. Er infizierte alle mit seiner Idee, dass sie nicht aus dem Grunde hier waren, der ihnen genannt wurde.

Friedensforschung. Sozialstudien. Was auch immer, ihr war es gleich, sie brauchte das Geld, aber Matthes hatte sie alle wahnsinnig gemacht mit seiner Suche nach Kameras und weiteren Zeichen einer Verschwörung. Und dann war der Kontakt nach außen abgebrochen. Und Brian durchgedreht.

Sie hörte einen Schrei, archaisch und wild, durch die schwere Tür gedämpft. Das war Brian. Brian hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Irgendetwas hatte ihn verändert und gefährlich werden lassen. Etwas hatte sie alle verändert. Sie schluckte und Angst breitete sich in ihr aus. Ein dumpfer Schlag an der Tür. Rütteln. Sie hatte sie von innen verriegelt, aber es würde nicht lange halten. Sie musste diese beschissene Kontrollstation finden, von der Matthes erzählt hatte. Von dort musste man die Türen nach außen öffnen können, hoffte sie. Ein weiterer Schlag gegen die Tür, ein Schrei. Gerufene Wörter. Verdammt, sie musste sich beeilen. Die Rohre bogen vor ihr nach rechts ab, sie konzentrierte sich, um in dem roten Licht etwas erkennen zu können. Ein weiterer Schlag an der Tür. Sie erschrak. Aus einer Nische schälte sich eine Gestalt in den Gang, die Arme hingen am Körper herab, der Kopf war gesenkt. Sie packte die Axt fester. Die Gestalt streckte die Arme aus und kam mit unbeholfenen Schritten auf sie zu.

»Merle, hilf mir. Etwas stimmt nicht mit mir.« Es war Carla. Sie senkte die Axt. Aber nur ein wenig.

* * *

»Phase 2 führte uns zu extern induzierten Ereignissen, die emotionale Reaktionen auslösten. Von der Kultur und dem Sozialkontext unabhängig. Es waren Sozialstudien, die mit den modernsten visuellen Methoden arbeiteten. In der Breite sicherten wir uns mit mehreren Versuchsreihen und über 25.000 Einzelfallbeschreibungen ab. Unsere Ergebnisse waren phänomenal. Wir waren imstande, die körpereigenen Proteinketten zur Induktion einer emotionalen Reaktion auf ein vorherbestimmtes Ereignis zu isolieren und zu dechiffrieren. Wir können behaupten, dass es anthropologisch fünf starke Gefühle gibt. Freude, Angst, Wut, Trauer und Zweifel. Sie werden sich sicherlich fragen, was mit solchen Gefühlen wie Liebe oder Neid ist. Sie werden subsumiert. Neid ist eine emotionale Melange aus Wut, Zweifel und Angst. Liebe ist Freude, Trauer und Zweifel. Manchmal auch Angst und Wut. Aber diese fünf Gefühle sind die Säulen unseres Verhaltenskodex. Auf jedes Ereignis reagieren wir mit eben jenen fünf Gefühlen. Phase 3 unterlag der absoluten Geheimhaltung. Es ging uns darum, emotionale Reaktionen nicht durch externe Ereignisse hervorzurufen, sondern sie durch induzierte Proteine zu verursachen. Sie zu triggern, wie wir sagen. Und hier kam es zu einer technischen Panne.

* * *

»Carla! Wie bist du hierher gekommen?« Sie lachte freudig auf und umarmte sie, ohne die Axt aus den Händen zu lassen.

»Ich bin …«. Carla weinte, brach innerlich zusammen, krallte sich an Merle fest.

»Ist gut Carla, ich bin bei dir. Psch, alles wird gut.« Carlas Körper bebte bei jedem Schluchzen. Ein Knall. Ein Schlag auf die Tür und ein wildes Schreien. Carla sah hoch. Panik war in ihrem Blick. Sie wischte sich die Haare aus dem Gesicht, die Tränen aus den Augen und besann sich.

»Was war das?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Matthes und Brian. Sie wollen die Tür aufbrechen.«

»Brian?«, fragte sie ängstlich.

»Ja, Brian, er ist wieder wach geworden. Wo warst du Carla?«

»Ich habe mit Matthes zusammen Diana versorgt. Aber sie ist … Sie schluchzte, schluckte und sah Merle in die Augen.

»Sie ist tot, Merle. Brian hat sie umgebracht. Und die Schweine lassen uns hier alleine!« Ihre Stimme überschlug sich. Merle drückte Carla weg.

»Ist gut jetzt, Carla, jetzt reicht es!« Carla sah zu Boden. Ein weiterer Schlag und das schreiende Geräusch, wenn Metall an Metall zerrt.

»Wie bist du hier rein gekommen?«

Carla sah mit aufgerissenen Augen an Merle vorbei, antwortete.

»Matthes hatte sich um Brian gekümmert. Als der aber langsam wach wurde, bin ich abgehauen. Ich hatte Angst. Ich bin dann hier hin, weil hier doch irgendwo die Türen zu öffnen sein müssten. Aber dann hatte ich solche Angst, Merle. Etwas stimmt nicht mit mir und ich hatte solche Angst …«

»Halt´s Maul jetzt Carla, beruhig dich. Weißt du, wo die Kontrollstation ist, von der Matthes erzählt hat?«

Carla sah hoch. An Merle vorbei, zur Decke. Ihr Blick weitete sich, der Mund stand offen und sie zuckte. Einmal, zweimal, ihre Augen verkehrten sich nach innen, das Weiße trat nach vorne. Ihr Mund öffnete sich, sodass man ihr Gebiss und das Zahnfleisch sehen konnte, eine immens fleischige Zunge schob sich langsam aus der dunklen Höhle. Carla gurgelte.

Merle wich zurück. Sie schrie auf, ließ die Axt fallen und wollte zu Matthes rennen. Aber wer sagte ihr, dass mit Brian und Matthes nicht Ähnliches vor sich ging. Sie keuchte, hyperventilierte und zwang sich zur Ruhe. Die Zunge stand Carla eine Unterarmlänge aus dem Gesicht und immer noch schob sie sich weiter aus hervor. Carla, das Ding, machte einen Schritt vor, hatte die Arme ausgebreitet.

»MERLE!«, sagte es dumpf. Die Axt. Verdammter Dreck, sie hatte sie fallen lassen. Sie sprang aus dem Stand nach vorn, griff nach der Axt und wich Carla aus. Das Ding war grauenerregend, aber langsam. Es drehte sich zu ihr. Es hatte den Anschein, als würde der restliche Körper an der Zunge gezogen werden.

»MERLE!«, stöhnte es. Ein weiterer Schlag an die Tür. Merle holte aus und trieb die Axt mit einem wuchtigen Schlag in die Körpermitte ihrer ehemaligen Leidensgenossin. Wie eine überreife Frucht platzte der Bauch auf und Gewürm ergoss sich auf den Boden. Zuckte und wandte sich.

»MERLE!«, schrie es hohl und griff sie an. Ihr Schlag war wirkungslos geblieben. Sie wich zurück, holte Schwung und führte die Axt von schräg oben nach unten. Es krachte und Knochen brachen aus Carlas Körper hervor. Schlüsselbein, Rippenbögen. Es kam weiter auf sie zu. Sie zog und rüttelte an der Axt. Das Ding fiel um, die Arme zuckten weiter durch die Luft und griffen nach ihr. Die Axt löste sich.

»MERLE, DU HAST MIT TOM GEPOPPT!«, sagte Carla. Merle erschrak, hielt inne. Das Ding lachte, pumpte Gedärm und dunkles Blut aus seinen Wunden.

»MIT TOM GEPOPPT UND IHN GETÖTET!«

»Halt´s Maul!«, schrie sie und schlug dem Ding die Axt in den Kopf. Spaltete ihn. Es blieb liegen. Sie würgte. Die Anspannung ließ nach, sie drehte sich weg und übergab sich. Sie keuchte und vernahm ein Knarzen der sich öffnenden Tür.

»Merle du Schlampe, du hast Tom getötet!«, schrie Brian hasserfüllt. Sie nahm die Axt und suchte weiter nach der Kontrollstation.

* * *

»Die Betreiber der Bunkeranlage hatten die technische Einrichtung nur mangelhaft gewartet. Durch einen durch Überhitzung ausgelösten Kurzschluss wurde die Anlage verriegelt und der Kontakt und vor allem die Überwachung unterbrochen.«

Jeffrey nickte und sah ihn wissend an.

»Verstehe«, antwortete er und kratzte sich hinter dem Ohr. Scheiß Ami, dachte er nur.

* * *

»Was ist mit Matthes«, schrie sie zurück und lief den Gang entlang. Tische, Pulte, Bildschirme, Steuerelemente, ihr Herz sprang vor Freude, als sich der Gang vor ihr öffnete und zur Kontrollstation führte.

»Weiß nicht«, rief er. »Wir haben uns geprügelt.«

»Lebt er noch? Oder hast du ihn wie Diana getötet, du Schwein!«

»Das war ein Unfall und das weißt du, du Schlampe.«

Sie hörte, dass er wütender wurde. Und schneller. Sie sah sich um, konnte sich aber keinen Überblick verschaffen, der sie zu einer Lösung führte. Sie saß in der Falle.

»Du hast Tom mit der Axt erschlagen!«, schrie er.

»Er wollte mich töten. Erst vergewaltigen und dann töten!« Sie erinnerte sich und Tränen schossen ihr hoch. Tom war total wahnsinnig geworden. Er hätte sie umgebracht. Sie hörte Brian schreien. Hasserfüllt. »CARLA! … Was hast du mit ihr gemacht?« Sie musste sich eingestehen, dass eine weitere Antwort unglaubwürdig geklungen hätte, also verzichtete sie darauf.

»Ich bring dich um, du Hure!«, brüllte er wie ein tollwütiges Tier.

Ihr Herz pochte und ihr Verstand raste. Was sollte sie tun? Brian würde sich nicht beruhigen lassen. Er hatte Diana erschlagen und Matthes würde es ähnlich ergangen sein.

»Das haben die mit uns gemacht! Matthes hatte recht! Hörst du, Brian?« Sie hörte ihn laufen. Sie sah seinen Schatten, als er um die Ecke bog.

»HURE!« Mit Anlauf rannte er auf sie zu.

»Brian!«, warnte sie ihn.

»Du hast Carla umgebracht!« Seine Augen glühten, er stieß Dampf aus. Er senkte den Kopf und wollte sie auf die Hörner nehmen. Sie holte aus und jagte ihm die Axt in den Rumpf. Sie rächte sich für Matthes, für Diana. Schlug und schlug, bis sie nicht mehr konnte. Sie keuchte und ließ die Axt fallen. Schweiß rann ihr in die Augen. Sie beruhigte sich und setzte sich neben ihn auf den zweiten Stuhl. Suchte nach einer Option. Offenbar hatte Brian eine Möglichkeit gefunden. Wie konnte das denn sein? Er hatte sie doch eben erst angegriffen. Egal. Sie nahm seine Hand von den Bedienelementen, studierte die Beschriftungen. Dann wusste sie, wie es gehen konnte.

* * *

Er sah betreten und anteilnehmend aus dem Fenster.

»Tja, durch die Überhitzung ist ein Feuer ausgebrochen. Der Betreiber hat nicht rechtzeitig reagiert, fahrlässig gehandelt.« Er machte eine Pause der Wirkung wegen, nickte tadelnd mit dem Kopf. »Und somit den Tod aller fünf Probanden verschuldet.« Er hielt inne, ließ die Worte wirken, aber nicht zu lang.

»Unsere Ergebnisse aber sind von dem Feuer verschont geblieben und zeigen, dass wir auch Phase 3 überaus erfolgreich beenden konnten. Derzeit verifizieren wir unsere Ergebnisse in die Breite und ich kann hoffnungsvoll verkünden, dass wir in naher Zukunft imstande sein werden, sogenannte Emocodes ohne Nebenwirkungen und mit absolut zeitlicher Präzision verabreichen zu können. Dieses wird alle psychopharmakologischen Produkte obsolet werden lassen.« Er nickte in die Runde und analysierte die Atmosphäre. Er hatte ein gutes Gefühl. Proband Nummer 6 hatte er verschwiegen.

* * *

Proband Nummer 6 war sich sicher, dass sie verfolgt wurde. Und, dass Matthes recht hatte. Sie war sich nicht sicher, welche Rolle sie dabei spielte. Sie wusste nicht, dass Proband Nummer 6 ein Versuch außerhalb der Norm war. Belastete Proteinketten, extrahiert aus emotionalen Reaktionen psychisch Erkrankter. Sie wusste aber, dass die Joggerin damit zu tun hatte, die den Pfad entlang gelaufen kam. Merle trat auf den Weg und lächelte. Dann holte sie aus.

Copyright © 2010 by Vincent Voss