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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter – 8.8

Das Komplott der Eisernen – Teil 8

Während unter ihm der Dschungel dahinglitt – eine schier endlose grüne Fläche, die sich senkte und wieder hob und an manchen Stellen einzelne Riesenbäume wie Krallenhände zum Himmel streckte – hing Steele seinen Gedanken nach. Die Urwälder dieser Erde waren ihm vertraut. Für bombastische Überschriften wie Grüne Hölle hatte er nur ein verachtungsvolles Schulterzucken übrig. In diesen Wäldern lebten Menschen, hatten sich stabile Gesellschaften entwickelt, die noch Jahrtausende überstehen konnten, wenn man sie nur ließ. Wenn man ihr Gebiet nicht mit goldgierigem Abschaum der Großstädte überschwemmte, mit Missionaren, landhungrigen Bauern, Minengesellschaften, Pocken und anderen Krankheiten, Transistorradios, Feminismus und der übelsten Pest von allen, dem verständnissinnigen Ethnologen. Man konnte in diesem Wald gut überleben, wenn man sich an die Regeln hielt. Er war weniger gefährlich als bestimmte Viertel von Los Angeles, Moskau oder Sao Paulo.

Aber jetzt erschien diese grüne Decke unter ihm als etwas anderes. Sie war eine dünne Oberfläche, eine täuschende Folie über verborgenen Kräften. Mit jeder Anhöhe schienen sich diese Energien zu ballen, sich in jeder Senke zu verbergen, sie waren in jeder Sekunde aktiv und lebendig, warteten auf ihre Zeit, um dieses grüne Fell abzuschütteln, so wie ein Werwolf bei Vollmond aus seiner Haut platzt.

Es war, als hätte sich das Geraune, das Getuschel, die Gerüchte, die sich um dieses Gebiet rankten, in eine Hefe verwandelt, die auftrieb und wucherte, sich ausbreitete und anschwoll.

 

Die Tagelöhner, mit denen er gesprochen hatte, hatten Steele von Erd- oder Schlammmenschen erzählt, die Arbeiter überfallen, beraubt und getötet hätten. Bisher hatte Steele diese Geschichten nicht ernst genommen. Seine Gewährsleute waren Analphabeten oder zumindest Vertreter der gesellschaftlichen Unterschicht oder sie hatten Indianerblut in den Adern. Ihr Leben war voller abergläubischer Vorstellungen. Außerdem, was lag näher als einen Gringo, der eine Runde Schnaps springen ließ, mit abenteuerlichen Erzählungen bei Laune zu halten? Das Gegenargument hatte Steele bisher verdrängt. Es lautete: Warum erzählen Männer, die sich nicht kennen, unabhängig voneinander dieselben Geschichten?

Natürlich unterschieden sich diese Geschichten, es gab mehr oder weniger spannende Varianten, die von der Stimmungslage des Erzählers abhingen. Und natürlich handelte es sich um Hörensagen, um Geflüster unter der Hand, das man offen nicht aussprechen mochte. Der Kern blieb aber immer derselbe. Das Gebiet war nicht geheuer, es gab dort Überfälle, Menschen verschwanden und tauchten nie wieder auf, in der Nacht hörte man Signale und Rufe in fremden Sprachen, hinter jedem Busch schien ein Paar feindseliger Augen die Eindringlinge zu beobachten, Spuren zeigten an, dass die unbekannten Beobachter bis in die Camps vordrangen, ohne dass irgendeine Wache Alarm geschlagen hätte. Dort, wo man sie zu Gesicht bekam – und überlebte, um davon zu erzählen – war von kleinen, hageren Männern die Rede, die von Kopf bis Fuß von Schlamm bedeckt waren und direkt aus der Erde zu wachsen schienen.

Vielleicht war alles ja nur eine Maskerade, mit denen die Drogenkartelle auf unblutige Weise ihr Gebiet reinigen wollten. Obwohl das Vergießen von Blut bisher etwas war, das von den Drogenbossen und ihren Helfern gern und reichlich durchgeführt wurde. Also war diese Option eher unwahrscheinlich.

 

Eine unerwartete Thermik packte den Hubschrauber und schüttelte ihn. Der Motor heulte auf, als die Sikorsky wie ein Aufzug hochstieg, um im nächsten Augenblick das Doppelte an Höhe zu verlieren.

Die Bäume waren plötzlich gefährlich nah, die Heuschreckenbeine des Fahrwerks frästen eine Schneise durch einige hochragende Wipfel. Die Äste polterten am Rumpf entlang und rüttelten die Maschine.

Mit einem leisen Fluch stabilisierte Steele die Sikorsky und zog sie in die Höhe. Dieser Helikopter war eine Reminiszenz an die heroische Zeit der Drehflügler, für den Piloten bedeutete sie aber so viel Vergnügen wie eine Fahrt mit einem Oldtimer mitten durch die Rushhour einer Großstadt. Wenn inzwischen die Huey schon als altes Hündchen gehandelt wurde, so war diese Sikorsky S-55 ein Zombie. Sie war träge und bockig, jede Feinheit der Steuerbewegungen ging in dem klappernden Gestänge verloren und der Motor sang ein Lied der Sehnsucht nach dem nächsten Schrottplatz. Auf der anderen Seite konnte Steele von Glück sagen, dass er diese Mühle überhaupt bekommen hatte. Sie stand vergessen in einem Hangar eines Flugfeldes und erinnerte daran, dass die US-Marines auch schon Ende der 50er oder Anfang der 60er Jahre einen kleinen Geschäftsbesuch in diesen Dschungelregionen gemacht hatten. Für den Piloten dieses Hubschraubers war der Einsatz nicht erfolgreich gewesen, jedenfalls schloss Steele von der eingetrockneten Mischung aus Blut und Kot, die den Sitz verschmiert hatte, dass durch eines der Einschusslöcher im Rumpf die Kugel gekommen war, die den Unterleib des Piloten zerfetzt hatte. Einen Vorteil hatte dieses vergessene Wrack aber gehabt: Niemand wurde aufmerksam, wenn sich ein verrückter amerikanischer Sammler das Ding unter den Nagel riss. Wenn Steele bei den einschlägigen Stellen nach einer Huey oder einer Black Hawk gefragt hätte, dann hätte man ihm geantwortet: kein Problem, sofern die Knete stimmt. Aber sagen Sie mal – wozu brauchen Sie denn den Chopper?

Und genau das musste Steele vermeiden. Mit einem sarkastischen Lächeln musste er sich jetzt bestätigen, dass Geld eben doch nicht alles war. Es gab noch andere Faktoren.

 

Hinter ihm bewegte sich etwas. Little zwängte sich durch den schmalen Durchlass in die Kabine und ließ sich auf den zweiten Sitz fallen.

»Was macht unser Passagier?«, fragte Steele. Er musste seine Stimme fast zum Schreien erheben, um das Motorengeräusch, das Knattern des Rotors und die pfeifenden Windgeräusche zu übertönen.

»Er fand den Durchsacker eben nicht sehr witzig. Ich habe ihn mit einer Tüte versorgt, die er jetzt ausgiebig füllt.«

»Die Luft ist unruhiger, als ich gedacht hatte«, bemühte sich Steele um eine Erklärung. »Und dieses Gerät reagiert ziemlich träge.«

»Warum fliegen wir dann nicht einfach höher?«, fragte Little mit unschuldigem Gesichtsausdruck.

»Weil wir Treibstoff sparen müssen. Und weil ich niemandem die Gelegenheit geben will, uns in aller Ruhe ins Visier zu nehmen. Da harke ich lieber ab und zu durch das Gestrüpp, auch wenn die Eleganz dabei verloren geht.«

Little blickte zur Seite. Durch das zerkratzte Fenster sah er zwischen grünem Laub das silbrige Blinken eines Wasserlaufes. Es dauerte nur eine Sekunde, dann war alles wieder unter der immer gleichen Hülle von Wipfeln und Baumkronen verschwunden.

 

Steele änderte den Kurs ein wenig. Nun huschten die Schatten der Rotorblätter durch die Kabine und vermittelten eine Atmosphäre von nervöser Hektik.

 

Mit einem Räuspern deutete Little auf das Instrumentenbrett. Es war eine improvisierte Zusammenstellung von Anzeigegeräten, die auf einer Sperrholzunterlage montiert waren. Einige Drähte ragten nutzlos aus den Tiefen der Verkleidung.

»Muss das so sein, dass alle diese Zeiger im roten Bereich sind?«, fragte Little.

»Nicht wirklich.«

»Sollte ich dann vorsichtshalber schon mal anfangen, in Panik zu geraten?«

»Nicht wirklich«, wiederholte Steele seine Antwort. Er warf einen uninteressierten Blick auf die Anzeige und ließ sich dann zu einer weitergehenden Erklärung herab. »Der Motor ist zwar ein Haufen Schrott, aber er läuft ziemlich zuverlässig und kann eine Menge vertragen. Solange ich nichts höre oder rieche, sind mir die Instrumentenanzeigen schnuppe.«

Hier sog Little prüfend die Luft ein. Es war ein ziemlich betäubendes Gemisch aus Benzin, überhitztem Öl und schlecht verbrannten Abgasen. Außerdem war eindeutig zu registrieren, dass sich Dorkas immer noch heftig um die Entleerung seines Magens bemühte. Und das Motorengeräusch? Laut. Nichts als ein lautes Brüllen und Klappern, in dem Little keine Differenzierungen vornehmen konnte.

 

Unter ihnen riss für einen Moment die grüne Fläche auf. Lang gezogene, mit Blättern gedeckte Hütten reihten sich aneinander, Lastwagen standen im Schatten der Bäume. Für einen Augenblick glaubte Steele, die Umrisse eines Hubschraubers unter einem Tarnnetz zu erkennen. Der Schatten ihres eigenen Helikopters huschte über Dächer und Fahrzeuge, Stapel von blauen Tonnen, jagte über die rötliche, blanke Erde zwischen den Hütten. Männer liefen aus dem Schatten und wandten ihnen die hellen Flächen ihrer Gesichter zu. Am Rand des Areals stand ein Wachtturm, an den Stamm eines Urwaldriesen gelehnt. Steele bemerkte dort eine Bewegung, zwei Männer schwenkten einen Lauf, ein Patronengurt schlenkerte bei der heftigen Bewegung. Dann war alles wie ein Spuk verschwunden, weggewischt von dem grünen Tuch.

»Die Leute da unten wirkten ein wenig verbiestert«, bemerkte Little.

»Sie sind vorsichtig, das ist alles.«

 

Steele dachte an den Hubschrauber. Wenn die Männer im Dschungel wirklich üble Laune hatten und dieses Gerät zur Verfolgung einsetzten, hatte er mit seiner Sikorsky schlechte Karten. Sie brauchten einige Minuten, um das Tarnnetz zu entfernen, die Turbinen zu starten und warm laufen zu lassen. Aber dieser Zeitverlust wurde durch ihre höhere Geschwindigkeit mehr als ausgeglichen. Sie konnten die Sikorsky abschießen wie eine Tontaube.

Steele schwankte einen Moment. Sollte er den Kurs ändern, sollte er versuchen, sich in einem Flusstal zu verstecken? Dann verwarf er den Gedanken wieder. Die Thermik barg unwägbare Risiken, außerdem mischte sich soeben in das Motorengedröhn ein helleres Klingeln, das Steele überhaupt nicht gefiel. Er selbst hatte den Sternmotor so weit es ging wieder instand gesetzt und wusste, wo die Schwachstellen waren. Und jetzt schien auch der Motor selbst davon erfahren zu haben. Es gab nur noch eines: Augen zu und durch.

»Es heißt, dass die Drogenkartelle auseinander geplatzt sind«, sagte Little plötzlich.

»Wer behauptet so was?«

»Leute an der Botschaft. Ich habe den Eindruck, dass zwei Drittel von denen eigentlich von der DEA bezahlt werden. Und dann natürlich die Virginia Farmboys, immer in Konkurrenz zu allen anderen Geheimdiensten. Es ist ziemlich unübersichtlich.«

»Das hätte ich auch schon vorher sagen können, ohne mit Schlipsträgern Schampus zu saufen«, blaffte Steele.

Little nahm ihm diese Bemerkung nicht übel.

»Sicherlich«, sagte er grinsend. »Das ist der Informationsstand, den der durchschnittliche westliche Journalist hat und mit dem er seine Leitartikel schreibt. Stimmt ja auch. Aber ein wenig mehr habe ich denn doch rausgefunden.«

»Dass sich die Kartelle neu formieren.«

»Dass die Globalisierung auch den guten alten Drogenbossen den Spaß am Geschäft verdirbt. Also kommt die nächste Generation, die natürlich alles besser weiß.«

»Das ist mir nicht originell genug, um zu applaudieren«, sagte Steele. Er hörte nur mit einem Ohr zu. Mit dem anderen lauschte er auf das verstärkte Klingeln, das aus dem Motorenbereich unter ihnen erklang. Der Hubschrauber lag merklich unruhiger in der Luft. Neue Vibrationen übertrugen sich auf die Hebel, die Steele umfasst hielt, und zwangen ihn zu verstärktem Zupacken. An seinen Unterarmen schwollen die Adern an.

»Seit die Taliban zurückgedrängt sind, ist Afghanistan wieder stark im Kommen. Drogenmäßig, meine ich. Es gibt so etwas wie einen Kampf um den Absatzmarkt USA. In der Botschaft ist man der Meinung, dass im Hintergrund auch Leute sitzen, denen es nicht um Geld geht, sondern um einen möglichst großen Schaden für die westliche Gesellschaft, besonders für die USA.«

»Die sollten dem Westen nur zehn Jahre Zeit geben«, knurrte Steele, »dann hat er sich selbst aufgefressen. Dazu braucht man keine Billigdrogen.«

»Nun, die Leute an der Botschaft sahen das etwas optimistischer. Ach ja, man sollte auch die Guerillagruppen nicht vergessen. Die mischen auch tüchtig im Drogengeschäft mit. Sie klauen den Kartellen den Stoff oder bauen ihn selbst an. Es ist ein munteres Spiel, bei dem man nicht fragen muss, wer Freund oder wer Feind ist, weil es Freunde nicht gibt.«

»Und was sagt uns das? Ich bin nicht zur Eheanbahnung in dieser Mühle unterwegs.«

»Es sagt uns immerhin, dass wir mitten in ein Minenfeld springen«, legte Little nach.

»Danke, ich werde mir einen Doppelknoten in die Schuhbänder machen.«

 

Vor ihnen tauchte eine Hügelkette auf. Grauer Dunst lag über der Landschaft, er schluckte alle Umrisse und vermischte die Farben zu einem matten Oliv, als wollten sich die Hügel tarnen.

»Dort müssen wir hin.« Während Steele das sagte, beugte er sich vor, um nach unten zu schauen – dorthin, wo der Auspuff aus dem Motorraum ragte. In das helle Blau der Abgase mischte sich schmutzig-weißer Dampf. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis der Motor aussetzte. Die Hoffnung, mithilfe der Segelstellung der Rotoren zu so etwas wie einer sanften Landung zu kommen, hatte Steele nicht. Sie würden wie eine Bombe in die Bäume krachen und konnten nur hoffen, dass die Struktur des Rumpfes fester war, als sie wirkte und die Äste Aufprallenergie absorbieren würden.

»Mich würde viel mehr interessieren, was mit Flinger und dem Zeug ist, das er ausgräbt«, stellte Steele plötzlich fest. Flinger war ihm herzlich egal. Aber es war angenehmer, sich über dieses Thema zu unterhalten, als dem Motor zuzuhören, wie er sich langsam innerlich zerlegte.

»Die Sache ist nicht ohne Reiz«, sprang Little sofort an. »Es scheint so, als würde Flinger sozusagen illegal graben. Offiziell ist er als Botaniker hier. Man wollte ihm eigentlich keine Erlaubnis geben, in dieses Gebiet zu reisen, aber damit hätten die Institutionen zugestanden, dass sie das Gebiet nicht mehr unter Kontrolle haben. Und das können sie sich auf internationaler Ebene nicht erlauben. Das Seltsame ist, dass anscheinend einige US-Unis nicht wollen, dass überhaupt in dieser Gegend archäologisch geforscht wird. Entweder, sie haben selbst den Daumen auf der Sache und wollen den Ruhm alleine einheimsen oder …«

 

Das Scheppern unter ihnen wurde von einem deutlichen Ruck begleitet. Für einen Moment setzte das Motorengeräusch aus, um dann sofort wieder weiterzudröhnen. Es war die Zeit eines Lidschlages, gerade ausreichend, um die Unterbrechung zu registrieren.

»Oder was?«, wollte Steele wissen.

»Nun, wenn ein Mathematiker beweisen würde, dass 1+1=3 ist, dann würde man ihm keinen Preis verleihen, sondern ihn steinigen, weil er das ganze System des Wissens auf den Kopf gestellt hat.«

»Und Flinger könnte also so ein Wissensrevoluzzer sein?«

Little zuckte die Schultern.

»Je mehr harte Sachen bei den Partys getrunken wurden, je später es wurde, desto sicherer waren sich einige Leute, dass der Dschungel noch Überraschungen birgt, die die bisherigen Weisheiten ins Schwanken bringen können. Waren sie am nächsten Tag wieder nüchtern, hörte sich das alles anders an.«

»Aber Flinger wurde doch zumindest halboffiziell unterstützt«, erkundigte sich Steele.

»Das schon«, bestätigte Little. »Aber mir wurde bald klar, wie das System läuft. Man verscherbelt Fundstücke oder stellt sie sich aufs Regal, aber auf jeden Fall verhindert man, dass diese Sachen von einem wirklichen Experten untersucht werden. Und sollte einer den Finger heben und sagen Das passt aber nicht mit unserer bisherigen Sichtweise zusammen, dann kann man ihn runtermachen, indem man auf mangelnde wissenschaftliche Dokumentation des Fundortes und der Ausgrabung und diesen ganzen Kram abzielt.«

»So ganz scheint das Prinzip nicht zu funktionieren, sonst wären wir jetzt nicht hier.«

»Das ist die Regel von der Ausnahme von der Regel.«

 

Wieder erschütterte eine Folge von Fehlzündungen den Hubschrauber.

»Mein Angebot mit der Panik gilt noch immer«, quetschte Little zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Sehr zuvorkommend, ich werde es bei passender Gelegenheit nutzen.«

Unter ihnen wichen die Bäume plötzlich zurück und gaben den Blick auf eine breite Schlucht frei. Auf ihrem Grund wälzte sich ein Fluss von unappetitlich brauner Färbung. Die Ufer stiegen als glatt polierte Felsen steil aus dem Wasser.

Kurz entschlossen steuerte Steele die Sikorsky in die Schlucht. Das Risiko war hoch, aber im Falle eines endgültigen Motorversagens erschien es ihm besser, im Fluss zu landen als in den Baumkronen. Der Sinkflug erinnerte an eine Schussfahrt mit der Achterbahn. Beide Männer wurden aus ihren Sitzen gehoben. Von hinten erklangen lautes Stöhnen und Würgen.

 

Wenige Meter über dem Grund gelang es Steele, die Maschine wieder abzufangen. Der Rotordruck peitschte das Wasser zu schmutzigen Schaumkränzen, die eilig dem Ufer entgegenzogen. Gepackt von wechselnden Winden tanzte die Maschine nervös und verlangte die volle Aufmerksamkeit des Piloten.

Jetzt musste sich Steele für eine Richtung entscheiden. Die Koordinaten, nach denen er sich bisher gerichtet hatte, konnten ihm nun nicht weiterhelfen.

Er entschied sich dafür, stromaufwärts zu fliegen. Es war leichter, mit einem improvisierten Floß der Strömung zu folgen, als sich gegen diese Strömung fortzubewegen.

Aber nach kurzer Zeit erkannte Steele, dass sie in der Falle saßen.

»Ich will ja nicht negativ wirken«, erklang die Stimme Littles neben ihm, »aber mir kommt das da vorn ziemlich eng vor.«

»Willkommen im Klub.«

Die Stelle war nicht nur ziemlich, sondern sehr eng. Die Ufer drängten sich aneinander, stauten den Fluss auf und ließen ihn als gischtende brodelnde Masse zurück in die Freiheit. Unter dem Hubschrauber tobte der kochende Fluss. Oberhalb der Uferfelsen reckten sich Bäume in die Spalte und verengten sie noch weiter.

»Vielleicht sollten wir einfach ein wenig höher fliegen«, meldete sich Little zurück.

»Dann würde ich sagen, steig aus und schieb an, Superman. Ansonsten kommt diese Kiste nämlich keinen Meter mehr hoch.«

 

Die Motorleistung hatte rapide abgenommen. Wahrscheinlich waren die restlichen arbeitenden Zylinder vollauf damit beschäftigt, ihre streikenden und von durchwässertem Altöl schmatzenden Kollegen mitzuziehen und konnten keine Energie mehr an den Rotor abgeben.

Dazu kamen Fallwinde, die den Hubschrauber immer wieder durchrüttelten und ihn zu Boden drücken wollten. Nach Steeles Einschätzung war es allerdings gerade die Nähe des Bodens, die den Hubschrauber noch auf geringer Höhe hielt, weil er auf einem Luftpolster glitt.

Die Spalte kam unaufhaltsam näher. Je geringer die Entfernung wurde, desto unwahrscheinlicher schien es, dass die Rotoren zwischen den Felsen oder Ästen Platz finden konnten. Es war der Versuch, einen Lastzug zu parken, wo schon ein Kleinwagenbesitzer ins Grübeln geraten musste.

Little warf einen schnellen Blick auf den Piloten. Steele wirkte konzentriert, ohne eine Spur von Anspannung. Nur der Schweißtropfen auf seiner Stirn passte nicht in dieses Bild. Die näher rückenden Ufer warfen das Rotorgeräusch knallend zurück, verstärkten es durch ihr Echo zu einem schmerzhaften Dröhnen, das sich mit dem überanstrengten Lärmen des Motors mischte. Little spürte, wie sich sein Körper versteifte, wie sich jeder Muskel, jede Sehne in Panik und in Erwartung des Schlimmsten zusammenzog, wie sein Bewusstsein zu einem bloßen Passagier dieser animalischen Anhäufung panikerfüllter Zellen wurde. Der Rumpf wurde von harten Schlägen erschüttert, wankte, taumelte, stabilisierte sich und vibrierte, als wollte er sich selbst zerlegen. Ein Schmerz zeigte Little, das er sich die Fingernägel in die Handfläche grub.

Die Engstelle raste näher. Warum dreht dieser Idiot neben mir nicht einfach um?, fuhr es Little durch den Kopf. Warum nehmen wir nicht die andere Richtung?

Little registrierte jede Einzelheit, sah einen Vogelschwarm aus dem Laub davonspritzen, bemerkte die Spiegelung des Laubs auf dem Wasser, das matte Licht in der Schlucht.

 

Neben ihm war eine Bewegung. Steele riss die Maschine im letzten Moment hoch. Der Motor kreischte Ohren zerfetzend, der Hubschrauber schüttelte sich, als würde er von allen Seiten mit Bohrhämmern bearbeitet. Aber er stieg, langsam, träge, unwillig, aber dennoch er stieg. Es reichte, um die Rotoren über den Bereich der Felsen zu heben. Die Spitzen hackten durch das Laub, schleuderten einen Wirbel von Blattwerk und Zweigen in ihren Luftstrom, der dann in Spiralen auf das Wasser niederregnete.

Unter ihnen lag der Fluss jetzt breit und friedlich, mit brauner, blank polierter Oberfläche, die von keinem Strudel gestört wurde.

»Da war was«, rief Little plötzlich.

»Ja, eine verteufelt enge Stelle.«

»Nein, nein, ich meine was anders.«

Little deutete nach hinten, konnten aber in seiner Aufregung nicht formulieren, was er gesehen hatte. Zwischen den Bäumen, von ihnen zum Teil zerstört und überwachsen, waren Mauerreste, als hätte man in früherer Zeit diese Engstelle als Befestigung genutzt. Bevor er einen klaren Satz herausgebracht hatte, sah Little schon etwas anders und deutete aufgeregt nach vorne.

»Ich sehe es, ein Kiesstrand«, sagte Steele.

»Nein, dahinter, dieser steile Felsen mit dem Einschnitt.«

Für Steele war der Kiesstrand im Augenblick wichtiger. Er steuerte auf die Fläche von weißen und bräunlichen Steinen zu. Zu eng eigentlich, zu wenig Platz. Aber es musste sein. Es war die letztmögliche Endhaltestelle für die betagte Sikorsky, die sich nur noch wie durch ein Wunder in die Luft krallte und doch bei jedem Peitschenhieb der Rotorflügel weiter durchsackte.

 

Der Hubschrauber setzte hart auf. Ein Schuss ertönte und ließ Steele zur Waffe greifen. Dann entspannte er sich.

»Der linke Vorderreifen ist geplatzt«, erklärte er.

»Schade, war doch das Einzige, was noch richtig funktionierte«, gab Little zurück.

Der Motorenlärm erstarb mit einem letzten, bösen Aufkreischen, die Rotoren liefen leise flappend aus und hingen dann wie die Flügel eines nass gewordenen Insektes herab. Erhitztes Metall knackte beim Abkühlen. In ihren Ohren rauschte das Echo des Dröhnens, das ihnen in den letzten Stunden wie eine akustische Maske übergestülpt worden war.

Nach einer Weile erst drangen die Geräusche des Waldes auf sie ein. Sie konnten das Rauschen des Wildwassers hinter der Verengung vernehmen und das friedliche Murmeln, mit dem der Fluss an ihren Landeplatz stieß. Vögel kieksten und flöteten, der Wind hauchte in den Wipfeln und über allem lag das metallische Sirren unzähliger Insekten.

»Wir sollten hier raus. Es ist nicht gut, beim Hubschrauber zu bleiben«, sagte Steele. Seine Stimme war so laut, dass er selbst zusammenzuckte. Er hatte seine Lautstärke immer noch dem dröhnenden Flug angepasst.

 

Sie kletterten aus der Kanzel und fanden im Frachtraum ein seltsames zweibeiniges Wesen mit einer feuchten Papierschnauze. Dorkas hatte den Kopf in die Tüte gesteckt und bisher nicht gewagt, ihn von dort zu entfernen.

Ohne weitere Umstände schickte Steele ihn mit einem Handtuch und einem Stück Seife zu einem kleinen, kristallklaren Bach, der in der Nähe den Uferfelsen herabrann.

Während sich Dorkas in einen halbwegs zivilisierten Zustand zurückversetzte, wuchteten die beiden anderen das Gepäck aus dem Hubschrauber und brachten es in die Deckung des Waldrandes.

Dann machten sie sich an die Untersuchung des Einschnittes in den Felsen. Ganz offensichtlich war dieser Spalt durch natürliche Ursachen entstanden. Und ebenso offensichtlich hatte Menschenhand seine Form verändert und korrigiert. Die Wände waren glatt, wie poliert, die Kanten sauber und gerade. Wenn sich Steele in die Spalte stellte, konnte er mit ausgebreiteten Armen gerade noch beide Wände berühren. Der Weg führte steil vom Ufer hinauf in den Wald. Little wühlte ein wenig unter modernden Blättern und fand an der steilsten Stelle einige Treppenstufen in den Fels gehauen.

Zurück am Kiesstrand fanden sie Dorkas als Häufchen Elend am Ufer hocken. Zuerst dachte sie, ihm wäre noch schlecht, aber es stellte sich heraus, dass Dorkas sich fast zu Tode schämte.

»Es tut mir leid, die Umstände, die ich mache … und überhaupt, die schöne Tüte …«

Auf Dorkas Gesicht kämpften die weiß-grüne Übelkeitsfarbe und die rote Peinlichkeitsfarbe um die Vorherrschaft und einigten sich auf eine kränklich graue Kompromissfarbe.

»Ich habe harte Jungs erlebt, die sich den Fliegeroverall vollgekotzt haben«, erklärte Steele, »und nachher tropfte ihnen die Suppe aus den Hosenbeinen. Da ist eine Tüte geradezu kultiviert. Außerdem war das ja auch kein Erste-Klasse-Flug.«

Dorkas ließ sich durch die Beispiele der harten Jungs nicht recht beruhigen. Wahrscheinlich waren sie seinem Weltbild ebenso fern wie Kannibalen oder Diskothekengäste.

Schließlich sprach Little das rettende Wort. Er deutete mit dem Daumen hinter sich auf den Einschnitt im Felsen.

»Wenn Sie sich das mal bitte anschauen würden. Es gibt eindeutige Spuren menschlicher Bearbeitung und ich glaube sogar, links neben den Eingang ein Relief erkannt zu haben.«

»Tatsächlich? Hier? Spuren einer Zivilisation?«

 

Dorkas war sofort auf Empfang und watschelte auf wackeligen, aber tapferen Beinen durch den Kies auf den Felsen zu. Dort war er vollauf beschäftigt, während Steele das Marschgepäck zusammenstellte. Es bestand aus Nahrungskonzentrat, einigen medizinischen Überlebenshilfen, Trinkwasser und Unmengen von Munition, die das Hauptgewicht der Fracht ausmachte.

»Ich nehme an, wir werden die Schlacht von Dien Bien Phu nachstellen«, merkte Little an, als er das ihm zugedachte Kontingent anhob.

»Wir wollen die mittelamerikanischen Machos wenigstens etwas beeindrucken«, antwortete Steele mit einem kritischen Blick in die Runde. Ihre Position war nicht besonders günstig. Von der Gegenseite aus waren sie ohne besondere Kunstfertigkeit zu erlegen. Er warf sich den Rucksack über, packte eine weitere Munitionskiste darauf und schritt zur Felsspalte. Sein Instinkt wehrte sich dagegen, derart auf dem Präsentierteller zu sitzen. Er wollte in den Wald, der ihm Deckung bot.

Die aufgeregte Stimme von Dorkas klang ihnen entgegen. Auf den Zehenspitzen stehend wischte der Wissenschaftler eifrig und ohne Rücksicht auf seine Kleidung Moos und Flechten von der Felswand.

Little hatte sich nicht getäuscht. Es gab tatsächlich ein Relief, das Dorkas nun freizumachen versuchte. Nachdem er verschmutzt und das Relief gereinigt war, trat Dorkas schwitzend zurück.

»Meine Herren, das ist eine Sensation«, erklärte er mit vor Rührung kehliger Stimme. »Bisher war von einer indianischen Hochkultur in diesem Gebiet nichts bekannt. So wie ich es sehe, zeigen diese beiden Figuren eindeutig indianische Darstellungsweise. Allerdings …« damit trat Dorkas nervös näher an den Fels heran, um sogleich wieder zurückzuzappeln.

»Ich nehme an, der Rauschebart ist nicht so original indianisch«, kommentierte Steele. Dann schaute er sich zu Little um. Der achtete nicht auf die beiden anderen, sondern drehte sich, den Kopf erhoben, im Kreis, als müsste er eine Antenne ausrichten.

Und tatsächlich glaubte Little, etwas zu empfangen. Signale, die er in ihrer Fremdartigkeit nicht zu deuten wusste, die aber nicht geeignet waren, seine Stimmung zu heben.

 

Vielleicht war es ja der Dschungel selbst, dessen Impulse er registrierte. Dieses wuselnde Gebären und Sterben, dieses Paaren, Jagen, Fressen und Gefressenwerden, ein ständiger rasender Wechsel, ein sich in jedem Moment selbst überholendes Rad der Vernichtung und Erschaffung, der Fruchtbarkeit und der Lebensgier und der Lebensangst. Für ihn wirkte das alles wie ein rasender Wirbel, in dessen stiller Mitte er stand. Dann aber war sich Little sicher, dass er etwas anderes empfing. Etwas, das mit diesem Dschungel nichts zu tun hatte. Etwas völlig Fremdartiges, das hier lebte, ohne wirklich hier zu sein. Er schüttelte den Kopf. Das alles war zu vage, nichts als eine blasse Empfindung, um die er sich besser nicht kümmerte, solange er sich ihrer nicht sicherer war.

»Genau das ist«, hörte er Dorkas neben sich rufen. »Diese Haartracht wirkt eigentlich eher assyrisch. Und auch dieser Gestus, diese erhobene Hand mit dem Stab. Aber das gibt natürlich keinen Sinn … zeitlich ist das nicht in eine Linie zu bringen, da klaffen Jahrtausende zwischen. Ich weiß wirklich nicht.«

Damit verstummte er und betrachtete das Relief mit verschränkten Armen.

Steele drängte zum Aufbruch, und so stapften sie den Anstieg hoch und befanden sich mitten im Urwald. Jetzt erst, als sie die Frische des Ufers verlassen hatten, brach ihnen der Schweiß aus. Die Luft war heiß und schwül, angefüllt mit Gerüchen von Moder und Feuchtigkeit und nassen Blättern. Sie legte sich schwer auf die Lunge und machte das Atmen zu einer mühsamen Arbeit.

 

Schon als Steele von Weitem den Dunst über diesen Hügeln erblickt hatte, war er sicher gewesen, dass dies ein böser Ort war. Mit jedem Schritt, den er sich nun über den weichen Boden tiefer in den Wald arbeitete, spürte er die Boshaftigkeit stärker. Sie war überall, aber wenn man versuchte, sie zu fassen, war sie verschwunden und man sah nichts als einen feucht schimmernden Baumstamm, dessen Rinde seltsame Fratzen zu schneiden schien oder ein Gebüsch, in dem einzelne Sonnenstrahlen auf feuchten Blättern funkelten, als wären es lauernde Augen.

Sie folgten einem deutlich sichtbaren Pfad, der von der Felsspalte in die Tiefe des Waldes führte und dabei in weiten Schlangenlinien den Hügel erklomm.

Es war nur natürlich, dass sie diese Möglichkeit nutzten und es gab sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass dieser Pfad sie zu Flinger leiten würde. Aber er konnte ebenso gut mitten in eine Drogenküche führen. Diese ganze Aktion, das wurde Steele einmal mehr klar, war nichts als ein Tanz auf Messers Schneide. Sie konnte gelingen, aber sie konnte ebenso zu einem katastrophalen Misserfolg werden, der ihnen allen das Leben kostete.

Zwischen den hoch aufragenden Stämmen herrschte Halbdunkel. Nur manchmal senkte sich ein Sonnenstrahl bis zum Boden, aber meist war es nicht einmal möglich, durch das Laubdach den Schimmer des Himmels zu erkennen.

 

Obwohl Dorkas nur seine Verpflegung zu tragen hatte, befand er sich bald am Rand der Erschöpfung. Er bemühte sich tapfer, konnte aber nicht Schritt halten und zwang die beiden anderen immer wieder zum Warten.

Schließlich nahm Steele ihm das Gepäck ab und Little hakte sich bei Dorkas unter und zog ihn mit. Mühsam drangen sie weiter vor. Der Boden war glitschig und brachte sie ins Straucheln, immer wieder verloren sie in dem Dämmerlicht den Weg, mussten anhalten, suchen, mussten sogar zurück, um die falsche Abzweigung, die sie auf eine Tierfährte geführt hatte, zu finden. Dorkas verlor jedes Zeitgefühl. Er dachte nur noch an den nächsten Schritt, zu dem er sich auf irgendeine Weise aufraffen musste. Wenn Little weiter an seinem Arm zerrte, machte Dorkas dann noch einen Schritt, aber manchmal stand er mit hängenden Schultern herum und dampfte vor Schweiß und Erschöpfung und atmete japsend die stinkende Luft ein und glaubte, in jedem Moment vor Müdigkeit zusammenzubrechen.

 

Der Pfad überschritt den Hügelkamm und führte in eine Senke. Nun war das Gehen leichter, aber dennoch waren zumindest Little und Dorkas nur noch zu einem Abwärtsstolpern, einer Art von verlängertem Zusammenbruch fähig.

»Wir brauchen eine Pause, sonst können Sie uns gleich an den Füßen hinter sich herschleifen«, keuchte Little.

Steele schüttelte nur den Kopf und lauschte. In der Nähe war ein Vogel mit lautem Kreischen aufgeflogen. Waren sie es gewesen, die diese Flucht provoziert hatten? Und wenn nicht sie, wer hatte das Tier aufgeschreckt? Ein anderes Tier?

»Gut, Pause!« Steele war vorangegangen und hatte oberhalb des Weges ein kleines Plateau an der Bergwand entdeckt. Der Ort schien geeignet, denn an der Felswand war ein von Pflanzen überwucherter Unterstand zu erkennen, der aus zwei senkrechten Steinplatten von etwa drei Meter Höhe und einem Deckstein bestand. Eine Strecke aus fast unsichtbaren Stufen führte hinauf. Stelle winkte den anderen, ihm zu folgen.

Oben angekommen stellte er seine Gepäckladung ab. Dorkas kam herangeschnauft, von hinten angeschoben von Boo Little, dessen Gesicht rot und schweißüberströmt war. Die beiden Männer sahen wirklich erholungsbedürftig aus. Dorkas setzte sich aufstöhnend auf einen Erdhügel. Steele brachte es nicht übers Herz, ihn sofort wieder aufzuscheuchen. Aber er wusste, dass die Ameisen, die diesen Hügel angehäuft hatten, von harmloser Natur waren und dass ihr Gift auch in größeren Mengen eher kreislaufanregend als tödlich war.

»Erholen Sie sich – und trinken Sie Wasser! Ich gehe, die restliche Munition holen. Es ist mir nicht recht, wenn sie beim Hubschrauber bleibt. Ich bin – sagen wir – in zwei Stunden wieder hier.« Er streckte seinen Körper, turnte dann die Stufen wieder hinunter und war nach wenigen Augenblicken aus der Sicht der Zurückbleibenden verschwunden.

 

Little witterte wie ein flämendes Pferd in die Luft. Er spürte etwas, und es störte ihn, dass er nicht erkennen konnte, was es war. Er war bemüht, sich stärker zu konzentrieren, aber da erhob Dorkas seine Stimme, weil er jetzt, wo er etwas zu Atem gekommen war, ein Kommunikationsbedürfnis verspürte. Dieses sollte mit einem kurzen Bulletin über sein eigenes Befinden beginnen.

»Ich fühle, wie sich meine Glieder beleben. Überall kribbelt es, das ist sehr angenehm. Wussten Sie, dass es durchaus Belege dafür gibt, dass in der Antike Reisen von Asien nach Südamerika durchgeführt wurden? Zum Beispiel …«

Er kam nicht mehr dazu, sein Beispiel auszuführen. Am Rand der Platte, auf der sie rasteten, bewegte sich plötzlich ein Mensch. Er war so graugrün wie die gesamte Umgebung, und weder Little noch Dorkas hätten sagen können, ob er die ganze Zeit dort stillgestanden hatte, oder ob er gerade eben erst aus dem Boden herausgekommen war.

 

Die Person war sehr klein, vielleicht einen Meter vierzig hoch, Körper und Kopf waren gänzlich von einer Lehmmasse überdeckt, sodass man keine Kleidung sehen konnte. Dorkas war so erschrocken, dass er instinktiv versuchte, aufzustehen und zu flüchten, und Little erschnupperte noch einen leisen, pfefferminzartigen Hauch in der Luft, als es ringsumher zu prasseln begann und mehrere der der kleinen Leute herbeisprangen, kurze Speere erhoben und sie drohend auf die beiden Männer schwangen.

Es gab keinen Laut. Dorkas, der seinen Mund aufklappte, wurde mit einem kurzen Zucken eines der Kurzspeere zum Schweigen gebracht. Dann huschte eine der Gestalten heran und machte sich am Gepäck von Dorkas zu schaffen. Dorkas besaß einen kleinen Rucksack, in dem er seinen Wasservorrat, eine stattliche Menge von Schokoriegeln, eine Portion wasserdicht abgepackte Teeblätter, seine Zahnbürste, einige persönliche Gegenstände und etwas Wäsche – und den Schädel aus San Francisco mit sich führte. Der kleine Lehmkerl hatte keine Augen für die Schokolade. Er pellte den Schädel aus dem Durcheinander des Rucksackinhaltes.

In diesem Moment entdeckte Dorkas, dass aus seinem Ärmel einige hässliche, rote Ameisen auf seine Hand liefen, dort umkehrten und wieder in seinem Ärmel verschwanden. Dorkas zuckte zusammen. Die Ameisen, bedrängt zwischen Manschette und Handgelenk, quittierten das mit einigen Bissen.

Dorkas begann, als hätte er einen elektrischen Stromschlag erhalten, im selben Moment mit einem furiosen Springtanz, den er mit schrillen Schreien begleitete, während er gleichzeitig begann, sich die Kleider vom Leib zu reißen. Von diesem Ausbruch aufs Allerhöchste erschrocken verschwanden die Angreifer von einem auf den anderen Moment.

 

Little nutzte die Gunst des Augenblicks. In der vorhergegangenen Stille hatte er auf der Suche nach einem Ausweg aus der Gefahrensituation gespürt, dass hinter dem Unterstand ein Raum war, er hatte es vor seinem geistigen Auge regelrecht gesehen. Der Eingang war zugewachsen, und dorthin drängte er nun den tanzenden und halb nackten Dorkas, der von roten Pünktchen übersät war und sich nichts mehr wünschte, als sich im Gebüsch zu wälzen und seine unliebsamen Körpergäste abzustreifen. Dirigiert von Little kämpfte sich Dorkas, wobei sein Geschrei in ein recht heftiges Geschimpfe umschlug, durch den Bewuchs, der den Eingang zum Unterstand zugewuchert hatte. So brachten sie in kurzer Zeit einen Durchgang zustande. Dahinter gab es einen kühlen, etwas feuchten Raum mit Steinwänden, in den sie sich mitsamt Gepäck zurückzogen. Little nestelte aus einem Futteral an Steeles Rucksack eines der Kampfmesser. Dann schob er das Gebüsch, so gut es ging, wieder zusammen und spähte dahinter verborgen nach draußen.

Aber Dorkas’ Darbietung war wohl nachhaltig eindrucksvoll gewesen, denn die Lehmmänner ließen sich nicht mehr blicken.

Nach einiger Weile hatte auch Dorkas seine ungebetenen Gäste vertrieben, trauerte ausgiebig über einen Riss in seinem Hemd und fragte Little angelegentlich, ob es gelungen sei, den Schädel zu retten.

Aber das wusste Little leider nicht.

Fortsetzung folgt …