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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter – 8.3

Das Komplott der Eisernen – Teil 3

Dorkas brauchte keine zwei Minuten, um sich völlig zu verirren. Um sich dieser Tatsache bewusst zu werden, brauchte er zwar wesentlich länger, als es aber soweit war, störte es ihn nicht wesentlich. Einerseits war die Faszination dieser fremden Welt so gewaltig, mit ihren Farben, die bald aufgeregt und schreiend bunt an der Fassade eines kleinen Tempels daherkamen und bald die milchige Sanftheit eines Herbstmorgens hatten, wenn er sich über ein kleines Aquarell in einem Schaufenster beugte; mit ihren Gerüchen aus Restaurants, Garküchen, Imbissständen, mit ihren Geräuschen aus kleinen Werkstätten und dem fremdartigen Geschnatter alter Damen, die vor einem Lebensmittelladen plauderten, aus dem es wiederum zugleich gefährlich würzig und anziehend süßlich duftete. Andererseits bewegte sich Dorkas immerhin in einer Stadt. Sie lag zwar gänzlich falsch, wenn man es global betrachtete, aber es war eine Stadt und somit fast so etwas wie ein vertrautes Gebiet. Und über allem lag die Gewissheit, nur bergab gehen zu müssen, um wieder an die Bucht zu gelangen, wo sich ein Taxi finden ließe, dessen Fahrer ihn zum Hotel bringen könnte.

 

So schritt Dorkas wacker fürbass, guten Mutes und immer der Nase nach dorthin, wo sich etwas Interessantes erblicken ließ. Er befand sich in einem Labyrinth aus Gassen, die in Gässchen mündeten, die sich zu Sträßchen öffneten oder in Sackgassen endeten, in denen sich Abfallsäcke vor einer Mauer auftürmten.

Einige Male geriet er in Gassen, die nichts anderes als die Hinterzimmer der anliegenden Wohnungen zu sein schienen. Einige alte Frauen saßen dort auf Hockern und beaufsichtigten tratschend und lachend ihre Enkel und Urenkel, die auf dem Pflaster Spielzeugautos hin und herschoben. Die Großväter hockten vor einem kleinen Fernseher, in dem eine Baseball-Übertragung lief. Auf einem wackeligen Lacktischchen lag ein Haufen Geldscheine und bei jeder neuen Spielsituation wurde lautstark palavert, gichtige Hände wedelten mit Geldscheinen, schrille Greisenstimmen überschrieen sich gegenseitig und man gestikulierte mit dürren Ärmchen, neue Wetten wurden abgeschlossen und alte Gewinne eingestrichen und neu gesetzt. Nach einem solchen vulkanischen Ausbruch von Wetteifer starrte alles für einige Sekunden gebannt auf den Bildschirm, beobachtete atemlos den Spielzug, ähnelte für den Moment meditierenden Buddhas und brach sofort in eine neue Eruption dämonischen Temperaments aus.

 

Im Hintergrund saß eine Frau an einer Nähmaschine mit Fußantrieb und bearbeitete, völlig auf ihre Aufgabe konzentriert und ohne sich im geringsten um den Lärm nebenan zu kümmern, die Naht einer Ballrobe.

Dorkas verbeugte sich leicht verwirrt, grüßte und zog sich rückwärts wieder zurück. Südchinesen, dachte er, bestimmt sind das Südchinesen, die sind berüchtigt für ihr Temperament. Seltsam, dass immer die Leute aus dem Süden solch heißes Blut haben, das kann doch nicht nur mit dem Klima zu tun haben, es sei denn, die Sonne kocht sich die Menschen gar. Seltsamer Gedanke, allerdings ist es …

Leider verpasste er unter seinen Überlegungen den richtigen Durchgang, stolperte im Halbdunkel eine steile Treppe hinunter und fand sich in einem schmalen Einschnitt zwischen zwei hohen Häusern wieder. Das wenige Licht, das hier bis zum Boden dringen wollte, wurde von Wäsche abgehalten, die von zwischen den Wänden gespannten Leinen hing. Die Situation war Dorkas äußerst unbehaglich. Er machte sich nicht die Mühe, seine Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen und tastete sich vorwärts. Seltsame Geräusche drangen an sein Ohr – ein Keuchen und ein Flattern, das er nicht einzuordnen wusste, das ihm jedoch einen Schauer über den Rücken jagte. Er zögerte, war hin- und hergerissen zwischen Rückzug und Flucht nach vorne. Schließlich drang er weiter vor, registrierte eine zuckende Bewegung vor sich. In diesem Moment wurde eine Tür aufgerissen und ein heller Lichtstrahl durchschnitt das Halbdunkel und erleuchtete die Szenerie. Ein schriller Schrei ertönte. Eine zahnlose Greisin raffte den rosa Morgenrock, der ihr einziges Kleidungsstück zu sein schien, über der hageren Brust zusammen. Um diese Geste angemessener Schamhaftigkeit zu vollführen, musste sie den Hahn, den sie gerade gerupft hatte, fahren lassen. Das Tier, dessen Schnabel zugebundenen war, nutzte die Chance, flatterte gegen Dorkas’ Bauch und trudelte dann mit schwerer Schlagseite, mit den halb gerupften Flügeln schlagend, in die Finsternis.

Dorkas murmelte etwas wie Einen schönen Tag, Madam, und stürzte instinktiv auf die offene Tür zu. Er stand in einem gefliesten Gang, betrat eine Küche – eine Hitzehölle und ein Duftparadies zugleich, Bratendunst, Kochschwaden, Fettrauch, schemenhafte Gestalten, die schreiend mit Löffeln hantierten – passierte einen halbnackten Koch mit Piratentuch um die Glatze, der mit einem Riesenmesser ein Gemüse in Kleinstteile zermetzelte, erwischte den Durchgang in den Speiseraum, drängte sich zwischen die eng besetzten Tische, nach allen Seiten freundlich grüßend und Entschuldigungen murmelnd und gewann die Straße. Mit hochrotem Kopf legte Dorkas so etwas wie einen Spurt ein und bog um die Ecke, wo er sich sicher fühlte und erst eine Weile, an eine Hauswand gelehnt, zu Atem kommen musste.

 

Nie zuvor hatte Dorkas das Gefühl gehabt, tief im innersten Inneren einer Stadt zu sein. Die weiten Straßenfluchten, die Parks und architektonischen Perspektiven, die sich in seiner Heimatstadt eröffneten, waren hier undenkbar. Hier bewegte er sich wie ein Stück Nahrung im Geschlinge des Gassengedärms, beengend war es hier, aber auch schützend und heimatlich und Dorkas erschien es als eine paradiesische Vorstellung, in einer dieser Gassen eine kleine Studierstube zu besitzen, in der er sein Leben dem Studium, der Forschung und der Erkenntnis widmen könnte.

Aber die Verhältnisse, die waren nicht so und mit dieser peinigenden Erkenntnis erinnerten ihn seine schmerzenden Füße an die zurückgelegte Wegstrecke. Humpelnd schaffte er es zu einem Teehaus, schleppte sich in die Gaststube im ersten Stock, wo er aufseufzend zwischen japanischen Touristen und brettspielenden Chinesen auf dem letzten freien Platz zusammenbrach. Zu seiner Freude musste er keinerlei Kenntnisse der chinesischen Sprache beweisen, um sich sein Lebenselixier zu bestellen. Während er wartete, beobachtete Dorkas fasziniert die enge Gasse. Er besaß einen prachtvollen Logenplatz, denn sein Stuhl stand direkt neben einem der heraufgeklappten Fenster, er konnte einen Arm auf die Brüstung legen und die Blicke auf geschäftig vorbeieilenden jungen Chinesen mit Handy am Ohr, würdig schreitenden alten Chinesen und neugierig daherschlurfenden Besuchern ruhen lassen.

Es war ein Bild, das – sofern Dorkas die Touristen ausblendete, wozu er gerne bereit war – in dieser Art auch schon vor zweitausend Jahren in China zu sehen gewesen war. Nun ja, gestand sich der begeisterte Dorkas etwas ernüchtert, damals waren Funktelefone bei jungen Chinesen wohl eher eine Ausnahme. Dennoch bereitete es ihm Freude, diesem Strom von Menschen zuzuschauen, der ebenso unterhaltsam und ebenso einschläfernd war wie der Blick in einen Fluss. Die Stimmung stellte eine ganz eigene Mischung von Aktienbörse vor einem Crash und Mediationsraum dar. Eine Hupe erklang aus der Ferne und plötzlich änderte sich diese Atmosphäre. Genussvoll seinen Tee schlürfend registrierte Dorkas eine gewittrige Hektik, eine fiebrige Unrast, die jeden Chinesen auf der Gasse erfasste. Der weißbärtige Greis in seinem langen traditionellen Gewand, der so aussah, als wäre er einem Aquarell mit dem Titel Taoistischer Weiser vor den fünf Gipfeln der Glückseligkeit entsprungen, raffte den Rock und hüpfte mit ungeahnter Behändigkeit drei Stufen hoch in einen Hauseingang. Dort hatten sich schon einige Chinesen versammelt, die dem Alten respektvoll Platz machten, während die Nachkommenden sich auf einer Treppenstufe zusammendrängen musste. Für Dorkas wirkte es so, als erwarte man eine Flutwelle. Wieder erklang die Hupe, fordernd und ungeduldig und nun schon wesentlich näher.

 

»Der weiße Drache kommt, mögen seine verfluchten Ahnen in der siebten Hölle schmoren«, erklang eine Stimme von unten. Eine Frau schoß aus einer Tür und packte ein Kind, das auf der Gasse mit einer Katze gespielt hatte, riss es hoch und eilte zurück. Die Katze bekam vorher noch einen Tritt, der sie fauchend und mit Flaschenbürstenschwanz eine Regenrinne hochspritzen ließ. Das sah so kurios und putzig aus, dass Dorkas endlich verstand, was sich hier abspielte. Eine Touristenshow! Nein, keine Show, eine Parade! Die Amerikaner machten hier irgendeine Parade, um sich zu feiern und die Touristen zu unterhalten. Das konnte ja lustig werden. Eifrig schüttete sich Dorkas die Teeschale voll, nahm einen Schluck und beugte sich ein wenig über die Fensterbrüstung. Die Leute mussten professionelle Schauspieler sein, so wie sie die aufkommende Panik spielen konnten.

»Der weiße Drache kommt!«, erklang es wieder.

Das Hupen war nun schon ganz nahe, die Gasse war menschenleer, dafür drückten sich Passanten in den Türeingängen und auf den Treppen. Ein letzter verwirrter Tourist wurde energisch am Arm gepackt und auf eine Treppe gezogen, wo er mit gebeugten Knien unter einem Kinderwagen, den zwei Männer samt quäkendem Inhalt auf den Köpfen balancierten, noch einen Platz bezog. Die japanischen Touristen neben Dorkas unterhielten sich immer noch, aber die chinesischen Spieler ließen keinen Ton mehr vernehmen. Ihr Lachen und ihre lauten Ausrufe waren wie mit dem Messer abgeschnitten. Dorkas schluckte und fragte sich, ob die Show mit dem weißen Drachen nicht vielleicht doch allzu realistisch gemacht war. Zumindest für seinen Geschmack.

Für einen Moment war die ganze Welt in zitternder Erwartung erstarrt wie eine Mücke im Bernstein. Die Gasse lag still und leer. Die Menschen waren wie durch Zauber verstummt und gebannt. Dann glitt fast lautlos ein Wagen heran. Es war eine Limousine, wie sie Dorkas noch nie gesehen hatte – weiß, mit tiefdunkel getönten Scheiben, in denen sich die angstvollen Gesichter der Umstehenden verzerrt widerspiegelten. Der Wagen war endlos lang, er war so breit, dass seine beiden Außenspiegel fast an den Hauswänden kratzten, und er hatte vorn wie hinten eine Motorhaube. Der kommt hier doch nie um eine Ecke herum, fuhr es Dorkas durch den Kopf. Dann zuckte er schuldbewusst zusammen, als könne jemand den Gedanken hören und darüber erzürnen. Auf beiden Motorhauben war als Kühlerfigur ein goldener Drache angebracht, auf den Kotflügeln wiegten sich blau-goldene Lampen und schüttelten sanft die farbigen Troddel, die als Zierde herabhingen. Der Wagen wurde langsamer. Man konnte förmlich das entsetzte Stöhnen hören, mit dem die zusammengedrängten Menschen diese Verminderung der Fahrgeschwindigkeit registrierten.

 

Im Schritttempo näherte sich der Wagen. Mit einem schnell wachsenden Kloß im Hals verspürte Dorkas die lauernde, unüberwindbar selbstsichere Aufmerksamkeit, die von der Limousine ausging wie von dem Schleichen eines hungrigen Raubtieres. In der Gasse schien es eiskalt zu werden. Vor dem Teehaus hielt der Wagen an. In der völligen Stille war nun das leise, heisere Brabbeln des offenbar riesigen Motors zu hören. Nichts geschah. Die Luft schien vor banger Erwartung zu knistern, als müsste sie sich in der nächsten Sekunde in einem Blitz entladen. Ein leises Surren ertönte. Ein Teil des Wagendachs senkte sich und fuhr dann zurück. Sie gab den Blick auf den Insassen frei. Er trug einen weißen Anzug zu einem schwarz schimmernden Seidenhemd und einer roten Krawatte. Er saß auf einer Art von weich gepolstertem Thron. Seine linke Hand ruhte entspannt auf der Sessellehne und ließ einige große Ringe von kaum schätzbarem Wert sehen. Die rechte Hand umschloss den Knauf eines etwas dandyhaft wirkenden Spazierstocks. Das Gesicht der Person war nicht erkennbar, nur das volle Haar schimmerte blauschwarz wie Rabengefieder. Dorkas schaute über den Rand seiner Teeschale hinweg, zugleich überkam ihn das Bedürfnis, die Schale müsste ein Mauer sein, hinter der er sich einschließen könne.

Sein Herz begann zu poltern, als der Mann dort unten eine langsame Bewegung machte. Er hob den Kopf, unendlich langsam und gelassen. Und Dorkas’ schlimmster Albtraum wurde war. Das Gesicht des Chinesen wandte sich ihm zu – nicht bloß seiner Richtung, sondern ihm selbst, Dorkas ganz persönlich. Nein, das war kein zufälliges Anschauen, wenn man das Auge schweifen lässt und es zufällig auf irgendeinem Objekt verweilt. Dieser Mann meinte ihn. Und er meinte ihn, weil er ihn kannte. Besser vielleicht, als sich Dorkas selbst kannte.

Obwohl er kurz davor stand, vor Panik zu schreien und zugleich gebannt war wie ein Kaninchen vor der Schlange und merkte, wie in ihm das Entsetzen wuchs als würde es seine Haut sprengen, rettete sich Dorkas in die Rolle des unbeteilgten Beobachters. Er ließ seinen Körper zurück, ignorierte die Umwelt und konzentrierte sich allein auf seine Beobachtungen. Früher hatte er so reagiert, wenn in assyrischen Kriegstexten allzu ausführlich geschildert wurde, wie man mit den Bewohnern eroberter Städte verfuhr. Jetzt war das Kaninchen Dorkas der trockene Beobachter der Schlange, die das Kaninchen hypnotisierte.

 

Dorkas stellte fest, dass in diesem Gesicht einige Eigenschaften derart offensichtlich erkennbar waren, als wären sie mit roter Tinte auf die Haut geschrieben. Der Mann mochte Mitte zwanzig sein. Er sah fantastisch aus mit seinem vollen schwarzen Haar, das ihm bis zum Kinn fiel, einer Nase, die für einen Chinesen eigentlich zu groß und zu kühn gebogen war, mit klaren, fein geschnittenen Gesichtszügen, einer hohen Stirn über kräftigen, schön geschwungenen Brauen, die schwarze Augen bewachten. Zugleich war sich Dorkas hundertprozentig sicher, dass dieser Mann um seine Wirkung wusste. Er war eitel wie ein Pfau, intelligent und arrogant, herrschsüchtig, hochfahrend, vergnügungsgierig, machtbesessen, hochgebildet und – das ergab sich aus den vorigen Beobachtungen als logische Schlussfolgerung – er war ohne jedweden Skrupel. Die chinesische Variante von Cesare Borgia, fuhr es Dorkas durch den Kopf. Dann brach ihm Schweiß aus. Der Blick aus diesen schwarzen Augen, in denen keine Spur von Weiß zu erkennen war, lastete auf ihm wie die stählerne Sonde eines boshaften Arztes. Er erinnerte sich daran, dass er in der Londoner Galerie schon einmal solche Augen sehen hatte – bei der Angestellten, die ihn und Tony Tanner des Mordes und Vergewaltigung bezichtigte.

In seinem Kopf rauschte es, er spürte das Hämmern des Blutes in einer geschwollenen Stirnader. Dennoch vermochte Dorkas äußerlich ruhig zu bleiben. Er vollführte seine ganz private Teezeremonie, ließ den Tee mit einem ungeduldigen Heben der Schale in seinen Mund rinnen und goss nach. Dann schaute er auf die Gasse und traf wieder auf diesen Blick, der ihn erneut aufspießte wie die Stecknadel den Schmetterling. Dorkas wusste nicht, wie lange er es noch aushalten würde. Er schob den Moment, in dem er sich schreiend unter dem Tisch werfen müsste, immer einen Atemzug weiter und widerstand.

Der Chinese senkte ruckartig den Kopf. Durch die Stille ertönte seine befehlsgewohnte, helle Stimme. Das Dach fuhr zu, zugleich startete ein Motor, röhrte heiser und gewaltlüstern auf und der Wagen schoß mit einer plötzlichen Beschleunigung den Weg zurück, aus dem er gekommen war.

Noch ein, zwei Atemzüge herrschte gespannte Stille. Dann brach das unterbrochene Leben wieder los, sprang rumorend aus der Eierschale seiner Erstarrung. Die Menschen besetzen die Gasse und verfolgten ihre geplanten Wege, Stimmen erklangen, Gespräche, Rufe, Gelächter, das Geräusch vieler Schritte schwoll an und füllte den engen Raum zwischen den Häusern. Erleichtert blies Dorkas die Backen auf.

 

Im nächsten Moment bemerkte, dass fast jeder der unten Vorbeihastenden einen Blick auf das Teehaus warf und dass er es war, den die vielen fremden Augen suchten. Er zog sich vom Fenster zurück und bemerkte die Bedienung, die auf ihn zusteuerte. Das passte sehr gut, denn er wollte sich noch eine Kanne bestellen.

Aber die junge Frau nahm mit versteinertem Gesicht neben ihm Aufstellung und erklärte, er müsse jetzt bezahlen.

»Aber ich würde gerne noch einmal bestellen«, antwortete Dorkas verschüchtert.

»Nein, wir brauchen den Platz.«

»Aber ich könnte den Platz wechseln«, antwortete Dorkas und bekam unwillkürlich einen bittenden Unterton. Denn jetzt, als die Erleichterung schwand, erkannte er mit eisigem Schrecken, dass er in Gefahr schwebte. In tödlicher Gefahr, und er wunderte sich selbst über seine Dummheit, die ihn diesen Fakt auch nur für eine Minute vergessen ließ. Sobald er den Fuß aus diesem Teehaus setzte, war er verloren. Bestimmt war er nicht einmal unter den Gästen des Teehauses sicher, aber dort draußen, in diesem Labyrinth von Gassen, in denen er nicht einmal den Weg wusste, herrschte sein Feind. Denn das war die eigentliche Erkenntnis, die in der treuherzigen Seele des Wissenschaftlers brannte. Er hatte einen Feind, der ihm schaden wollte und der ihm schaden konnte und der ihm schaden würde.

»Darf ich vielleicht nicht doch noch – ein kleines Kännchen … in der Küche vielleicht …«, bettelte Dorkas und erntete ein steinhartes Kopfschütteln.

 

Inzwischen waren erneut alle Gespräche verstummt und er wusste sich im Mittelpunkt allen Interesses. Ein Untertan ihrer Majestät hatte die Haltung zu wahren, selbst wenn er sich aktuell vor Angst in die Hosen machte. Mit zitternden Händen und hochrotem Kopf stand Dorkas auf, fummelte einen Geldschein aus der Tasche und warf ihn auf den Tisch. Dann straffte er sich und ging schlotternd und doch würdevoll durch den Raum dem Ausgang zu, während alle Köpfe, wie von einer gemeinsamen Mechanik bewegt, den einsamen Mann verfolgten.

Dorkas hatte das Gefühl, seine Beine wären steif wie Holzstöcke. Und das war gut so, denn ansonsten müssten seine puddingweichen Knie nachgeben, und er würde wie eine Qualle auf dem Sandstrand hier im Teehaus zusammenbrechen und sein Leben aushauchen. Er dachte an die temperamentvollen Südchinesen. Und den halbnackten Koch mit dem Messer. Beide Bilder vereinigten sich zu der peinigenden Vision eines Dorkas, der von Südchinesen umtobt auf einem Küchentisch lag, während ein halbnackter Pirat sein berüchtigtes Messer schärfte und die Südchinesen Wetten darüber abschlossen, wie viele Scheibchen die feiste Langnase ergeben würde.

Auf der Treppe polterten Schritte. Hastig, sich gegenseitig vorwärts schiebend, drängten sich einige Gestalten nach oben in den Gastraum. Der Erste war ein junger Chinese. Gut gekleidet, geschmeidig, durchtrainiert. Er ließ seinen Blick blitzschnell über die Anwesenden streifen. Dann erkannte er Dorkas. In seinen Augen blitzte es auf, als er einen schnellen Schritt hin zu dem bleichen Fremden machte. Dorkas erwartete sein Ende mit stummer Ergebung.
***

 

Little ließ das Taxi bis vor den Haupteingang von Orca Empire of the Sea fahren, bezahlte eine ganze Menge Dollars, kaufte sich eine Eintrittskarte und betrat die Anlage. Mit klopfendem Herzen bemerkte er den Geruch von Seewasser und Fisch, der sich zwischen Hot-Dogs-Fahnen und den künstlichen Sonnencreme- und Parfümduft mischte, der über dem Gelände lag. Aus dem Hintergrund erklangen Musik, die erklärende Stimme eines Ansagers und das Prasseln von Beifall zusammen mit dem Rauschen von Wasser.

Orca Empire konnte sich nicht über Besuchermangel beklagen. Schon am Eingang hatte sich Little in eine Warteschlange einreihen müssen, nun befand er sich zwischen Horden von Schulkindern, die von entnervtem Lehrpersonal und im Stimmbruch kieksenden Vertrauensschülern ihrem Ziel zugetrieben wurden, während ebenfalls genervte Mütter mit hüpfenden Brüsten unter dem T-Shirt hinter den gerade ausgebüxten Kindern herspurteten und entnervte Väter versuchten, anderen Kindern das verkleckerte Eis vom Hemd zu wischen. Neben diesen Extremformen familiärer Ausflugsseligkeit gab es die milderen Ausprägungen, die beispielsweise aus Kindern bestanden, die sich – in aberwitzigem Winkel schräg gegen den Boden gestemmt – abmühten wie ein Hafenschlepper, den mütterlichen Riesentanker, dessen Hand sie umklammerte, auf den gewünschten Kurs zu bringen.

 

Boshaft grinsend stellte Little fest, dass Blagen eine instinktive Fähigkeit haben, ihren Eltern bestimmte Orte zur Hölle zu machen, wobei erwähnte Erwachsenen ohne die erwähnten Blagen um nichts in der Welt auch nur einen Fuß in diese Orte setzen würden. Zugleich stellte er fest, dass Kinder die Attraktivität eines weiblichen Wesens auf null reduzieren. Der hübscheste Popo verlor an Reiz, wurde er einem entgegenstreckt, weil sich die Inhaberin vorbeugte, um einem Rotzlöffel die Nase zu putzen.

Bald wurde Little es müde, sich an seiner Privatsatire zu ergötzen und er wendete sich den Bereichen zu, die dem Publikum weniger aufregend erschienen und die daher kaum Besucher hatten.

 

Das weitläufige Gelände war in mehrere Bereiche unterteilt. Es gab ein futuristisch anmutendes Glaskuppelgebäude, in dem Ausstellungen mit pädagogischem Anspruch gezeigt wurden. Dies war sozusagen das seriöse Lockfutter, mit dem ganze Schulen vor die Kassen gelockt wurden. Daran anschließend gab es einen großen, sehr schön gestalteten Aquariumsbereich, in dem die Besucher in verglasten Tunneln durch die Becken wandern und das Unterwasserleben bestaunen konnten. Die Haifischfütterungen waren eine bekannte Attraktion. Ebenso hübsch war allerdings das nachgebaute Wrack eines deutschen U-Bootes mit knalligem Hakenkreuz auf dem Turm, vor dem sich bunte Fischschwärme tummelten. Es gab das Wrack des Piratenschiffes, zu dem von Zeit zu Zeit ein Helmtaucher herabstieg, um an einer Schatzkiste zu zerren. Da in dieser Kiste leckerer Fisch war, umkreisten ihn stets eine Anzahl Haie und boten ein schauerlich-spannendes Szeneario, vor allem, wenn der Taucher die Kiste öffnete und die Haie heranschossen. Dies waren die Favoriten bei Kindern und Müttern, während männliche Besucher in jedem Fall die Nixe bevorzugten, die auf einem Stein saß, mit dem goldenen Fischunterleib winkte, ihr goldenes Haar strich und ab und zu ein Häppchen Luft aus einem Blasen blubbernden Schlauch nahm.

 

Neben dem Aquarium lag das große Showbecken, neben dem sich steil die Zuschauertribünen erhoben. Dorthin ging Little. Ihn interessierte die stündliche Show nicht, aber er wusste, dass neben dem großen Becken mehrere kleinere lagen, in denen sich Delfine tummelten. Diese kleinen Becken hatten über Unterwassertunnel oder offene Kanäle Verbindung zu dem eingezäunten Arbeitsbereich mit weiteren Trainingsbecken, Verwaltungsgebäuden und Lagerschuppen. Manchmal wurden die Schleusen geöffnet, um den Tieren Gelegenheit zu geben, ihre natürliche Neugier und ihren Bewegungsdrang auszuleben.

Was Little erhofft hatte, traf zu. Einige Besucher lehnten am Beckenrand, und ein Kind deutete aufgeregt kreischend in das Wasser. Da sah Little schon die schemenhaften Gestalten, die mit unglaublichem Tempo durch das Wasser kreisten. Auch er beugte sich über den Rand und schaute zu, wie die Delfine mit müheloser Eleganz beschleunigten, hochschossen, eingehüllt in einen Schleier silbriger Tropfen in der Luft standen und zurückfielen – nein, nicht fielen, sondern zurückwollten, sich entschlossen, in ihr Element zurückzukehren, als ob sie immer weiter in der Luft schweben könnten, wenn sie es nur wollten.

 

Traurigkeit befiel Littles Gemüt wie ein plötzliches Unwetter. Hier sah er sein Leben, das richtige Leben, das Leben eines jungen, neugierigen, forschenden, mutigen Little, als müsste er sich selbst auf einer alten Fotografie wiederfinden. Und er verspürte unter den Mollklängen seiner eigenen Trauer und Verwirrung andere Klänge – Impulse von aufschießender Fröhlichkeit, die abstürzten in die Tiefen klagender, hoffnungsloser Verlorenheit. Little schaute auf die Delfine. Nun wusste er, was in den Seelen dieser Tiere vorging.

»Mamiiiii, was macht der Mann da?«, fragte ein Kind und zerrte an der Bluse seiner Mutter wie ein ungeduldiger Fürst am Klingelstrang, der den Diener herbeiruft.

Auf den ersten Blick sah es so aus, als wolle sich der Mann ins Wasser stürzen. Little hatte sich weit nach vorne gebeugt, sodass seine Beine in der Luft schwebten, um die Balance zu halten. Mit einer Hand umklammerte er den Beckenrand, mit der anderen konnte er gerade eben das Wasser erreichen. Es war eine völlig irrwitzige Aktion, geradezu geschaffen, um den Ordnungsdienst herbeizurufen, aber er musste es tun. Musste einfach, ohne selbst zu wissen warum.

Littles Finger berührten das kühle Wasser. Die ungewohnte und doch so vertraute Empfindung erschütterte ihn. Wie eine Injektion raste es durch seine Nervenbahnen, ließ seine Haut in einem Prickeln aufplatzen wie Champagnerblasen. Eine Vielzahl von Erinnerungen stürzte wasserfallartig auf ihn ein. Viele waren schmerzlich, aber Little konnte den Glanz der schönen Erinnerungen in dem vorüberschießenden Strom erkennen und sie festhalten, während die übrigen vorbeirauschten und sich auflösten.

»Mamiiiiiiiiiiiii, schau doch mal«, klang die aufgeregt kreischende Kinderstimme an Littles Ohr. Das Mädchen hatte es zuerst gemerkt.

 

Die Delfine hatten ihre hastige Runde beendet. Sie trieben nun eng aneinander gedrängt auf der gegenüberliegenden Beckenseite, den Kopf in Richtung Little gewendet. Die Tiere wirkten verstört und eingeschüchtert.

Inzwischen hatte Littles seltsames Verhalten die Aufmerksamkeit weiterer vorbeiflanierender Besucher erweckt. Und nicht nur das ihre, denn jetzt klemmten sich zwei stiernackige, rundköpfige Schwarze, die die halbmilitärische Uniform mit dem Emblem von Orca Empire und der Schrift Security – for you trugen, die Daumen unter das Koppelschloss und setzten sich in Bewegung. Sie gingen langsam und gelassen, ein wenig schwankend von der unterdrückten Kraft, die unter der üppigen Fettschicht nur darauf wartete, abgerufen zu werden.

Aus der Gruppe der Delfine löste sich langsam ein Tier. Mit sachten Flossenschlägen, förmlich auf Flossenspitzen, schob es sich vorwärts. Es schwamm direkt unter der Oberfläche, sodass sich das Wasser leicht kräuselte. In der Stille, die sich plötzlich über das Becken gesenkt hatte, konnte man die Wellen an den Betonrand plätschern hören.

Die beiden Sicherheitsleute waren bei Little angelangt. Der eine hob die Pratze, um Little mit dem angemessenen Nachdruck vom Rand herunterzuziehen. Aber bevor er zugreifen konnte, hatte sein Kollege einen Blick in das Becken geworfen. Er schob die Hand des anderen zur Seite und machte eine abwehrende Geste, dann lehnten sie sich beide zwischen die anderen Zuschauer auf den Beckenrand.

Immer noch langsam und zögernd durchquerte der Delfin das Becken, erreichte schließlich die Stelle, an der Littles Fingerspitzen das Wasser berührten, verhielt reglos und schob dann seinen Kopf unter Littles Hand. Es dauerte nur einen Herzschlag lang, plötzlich schäumte das Becken, weil sich mit einem Mal die anderen Delfine vorwärtspeitschten und sich um die Menschenhand drängten, um sie zu berühren, als gäbe es eine Segnung zu erhaschen.

Dann formierten sich die Tiere und stürmten förmlich in den Verbindungskanal, um das nächste Becken zu erreichen. Sie waren nur noch eine zusammengepresste Masse kraftvoller Leiber, um die das Wasser weiß gischtete. Die Zuschauer am Beckenrand brachen in spontanen Applaus und begeisterte Bravorufe aus.

 

Eine Gestalt, die auf einer Verbindungsbrücke im abgesperrten Bereich gestanden und die Szene beobachtet hatte, zuckte zusammen und krümmte sich, als einige der Delfine aus dem Wasser schossen und über ihn hinwegsetzten.

Der eine Sicherheitsmann legte seine breite Hand auf Littles Schulter und half ihm von der Umrandung zurück auf die Beine.

»Gute Show, Mann«, lobte er lässig, »aber das nächste Mal wird die Security vorher informiert, ihr Artisten solltet nicht immer einen auf spontan machen und uns nix sagen.«

»Alles klar«, grinste Little zurück. »Da ist irgendwo was steckengeblieben auf dem Dienstweg. Soll nicht wieder vorkommen.«

Während er sprach, drehte er dem Becken den Rücken zu.

So sah er auch nicht den Mann, der auf der anderen Seite jetzt aus der Deckung trat und, ohne auf seine völlig durchnässten Kleider zu achten, Little aufmerksam fixierte.

Little plauderte noch ein wenig mit den beiden Sicherheitsmännern und schlenderte dann weiter über das Gelände.

Aber nun hatte er einen Begleiter. Der Mann mit der nassen Kleidung heftete sich an Littles Fersen. Er blieb immer in Deckung, verschwand hinter Besuchergruppen, wenn er in Gefahr geriet, in Littles Blickfeld zu kommen, nutzte Hot-Dogs-Stände und Hinweistafeln, um unsichtbar zu bleiben. So beobachtete er Little, schätzte ihn ein, taxierte jede seiner Bewegungen, und als er die Zeit für gekommen hielt, trat er hervor und näherte sich von hinten, mit leisen, entschlossenen Schritten dem völlig ahnungslosen Little.

Fortsetzung folgt …