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Tony Tanner – Agent der Weißen Vaeter 7.11

Die Hyleg-Schädel – Teil 11

»Was zum Teufel ist das!«

Steele hatte es zuerst gesehen und starrte mit weit aufgerissenen Augen zur Seite.

Tony Tanner zuckte aus einem Halbschlaf, in dem er die letzten Stunden ihrer Fahrt ver­bracht hatte. Er tauchte aus einem Albtraum auf, in dem ihm irgendjemand ein Telegramm in die Hand drücken wollte. Tony kannte den Inhalt der Meldung, die da lautete Dein Vater ist tot, aber er wusste auch, dass sein Vater erst tot war, wenn er das Telegramm entgegen nähme. Und so presste er die Fingernägel in die Handfläche und weigerte sich, die Botschaft zu akzeptieren, während der gesichtslose Überbringer seinerseits bemüht war, mit einer furchtbaren, schicksalhaften, unbesiegbaren Hartnäckigkeit ihm das Telegramm zu überge­ben.

Unbewusst registrierte Tony den Unterton von Panik in Steeles Stimme. Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber seine Lider waren verklebt und er kämpfte einen höllischen Moment lang, noch halb im Traum, mit dem gesichtslosen Boten, der ihm das Papier auf die Augen legen wollte. Endlich schimmerte Licht durch seine Wimpern, seine Augen standen offen, aber Tony brauchte noch weitere Sekunden, um sich klar zu werden, dass er eingeschlafen war, einen Albtraum gehabt hatte, dass die Realität anders war.

Neben ihm knurrte Häuptling Koala, der benfalls eingedöst war: »Was ist los, Käsearsch? Kannst Du nicht mal mehr diese stinkende Blechkiste fahren?«

Steele hatte soeben, begleitet von einem wilden Fluch, den Motor abgewürgt.

Dann erkannte Tony Tanner, was Steele schon vor ihnen bemerkt hatte. Oder vielmehr ES traf auf Tony Tanner. Zuerst war es nur ein leises Heulen, das wie das Geräusch einer sehr weit entfernten Sirene klang. Es war kaum wahrnehmbar, aber es wirkte dennoch furchterre­gend wie das Menetekel einer Katastrophe. Dann legte sich ein Grollen und Donnern über den schrillen Grundton und der wandelte sich ebenfalls zu einer hysterischen Melodie von Kreischen und Winseln.

»Nein, das darf nicht sein«, kam es stöhnend über Koalas aufgesprungene Lippen. »Das gehört nicht hierhin.«

»Aha, ein Naturschauspiel-Käsearsch«, giftete Steele, der sich wieder völlig im Griff hatte.

Dafür gerieten die beiden anderen an den Rand der Panik, während das dumpfe Grollen lauter wurde und die Luft in Schwingungen versetzte, die wie die Berührung von Fingern auf der Haut spürbar wurde.

Tony stierte durch die Frontscheibe und bemerkte, wie sich aus seinem ausgetrockneten Körper kalter Schweiß durch die Poren drückte. Vor ihnen war eine Wand – eine gigantische rötliche Wand, die den Raum von Horizont zu Horizont umfasste, bis an den Himmel reichte und die schnell näher kam. Bis ihm klar wurde, dass es sich nicht um eine wandernde Felswand handelte, brauchte Tony eine Weile. Es war aufgewirbelter Wüstenstaub. Ein Sturm. Eine Sturmfront, die den Staub aufsaugte und ihn bis in die Flughöhe der Passagierjets schleuder­te.

Jetzt konnte Tony die Bewegung in der Wand erkennen. Es war ein ständiges rasendes Wirbeln und Kreiseln, das vor den Augen flimmerte und zugleich den Eindruck völliger Kompaktheit und zerquetschender Massivität erweckte.

Es wurde dunkel, ein fahles, schwefelgelbes Licht legte sich über die Landschaft. Die Mauer rückte immer näher, schob sich unaufhaltsam heran. Jetzt war ihre obere Begrenzung durch die Oberkante der Frontscheibe verdeckt, jetzt nahm sie auf beiden Seiten die Sicht, als wollte sie den Wagen umzingeln, jetzt brachte das Grollen den Wagen zum Vibrieren und das schrille Heulen schnitt in die Trommelfelle.

Die drei Männer starrten auf die herangleitende Wand. Sie waren erstarrt. Jeder Fluchtimpuls erlosch und die Angst schien ihre Muskeln mit Blei auszugießen. Bei jedem Schlag ihrer pochenden Herzen glaubten sie, die Wand wäre da, aber jede Sekunde schob das Zusammentreffen von sich, verlängerte die Folter, vergrößerte die Furcht. Es war nun, als würden sie mit einem Flugzeug im senkrechten Sturzflug dem Boden zurasen.

Steele krallte sich an das Lenkrad. Keine Panik, keine Panik, die Panik ist der Feind, die Angst ist der Gegner, hämmerte es durch seinen Kopf, aber es waren Meldungen in einer Sprache, die er nicht mehr verstand, während seine Hände mit leichenweißen Fingerknöcheln um das Plastik würgten.

 

Für Tony Tanner war diese Wirklichkeit nur die Neuauflage seines Traumes. Irgendwo in seinem von Panik durchblitzten Hirn trommelte die Nachricht: Glaub einfach nicht daran, dann trifft es nicht ein … und zugleich kreischte es in seinen Ohren und der Klang formte sich zu Bildern dämonischer Fratzen, die aus der Sandmauer auf ihn schauten, mit offenen, ver­zerrten Mündern, aus denen jeder Hass und jedes Leid der Welt in schrillen Klängen entwich und mit Geiergier und Skelettkrallen auf Tony zustürzte.

Häuptling Koala setzte zu einem Lied an. Seine Stimme versagte, er räusperte sich, begann aufs Neue und sang mit einer Stimme, die leise begann und sich dann zu einem Widerspruch gegen das Inferno des Sturmes steigerte. Er ist jetzt endgültig durchgeknallt, fuhr es Tony durch den Kopf, als der alte Mann mit geballten Fäusten, vorgebeugt, seine Worte herausbrüllte. Aber Koala hörte nicht auf, sondern wurde lauter und lauter und schien auf dem Toben der Elemente emporzusteigen.

Die Wand war direkt vor ihnen, aber vielleicht war sie mit ihrer riesigen Größe auch noch meilenweit entfernt, vieleicht noch diese Sekunde oder diese oder dann diese …

Plötzlich zersplitterte für Tony die Zeit, zerlegte sich in Einzelstücke, als würde in seinen Augenhöhlen eine Hochgeschwindigkeitskamera arbeiten. Er registrierte, wie die ersten Sandkörner die Motorhaube erreichten, er bemerkte deutlich, wie der stumpfe Lack abge­schliffen wurde und das blanke Blech im Schwefellicht aufglomm. Er sah, wie sich die Sandfront über die Motorhaube schob, wie sie die Frontscheibe berührte und deren unteren Teil zu einer undurchsichtigen Fläche zerschmirgelte.

Dann warf sich Tony blitzschnell zur Seite, legte seine Hand auf das Gesicht Koalas, ver­schloss mit seinen Fingern dessen aufgerissenen Mund und die flache Nase und riss den alten Mann zur Seite, drückte ihn unter sich und warf sich schützend über ihn. Zugleich legte er sich die freie Hand über das eigene Gesicht und bemerkte, dass er sich tatsächlich die Handfläche blutig aufgeschunden hatte. Tony presste sich in den Rücken Koalas, Steele warf sich über ihn und dann war es da und Tony dachte nur noch: Das war’s dann wohl und ver­flucht noch mal, Lucille, einmal in diesem Leben hätte ich so gerne noch einmal deine Haut gespürt und Verzeihung, Mama, dass dein Sohn derartige Gedanken hat, wenn er stirbt.

Der Sturm traf den Wagen mit einer Wucht, die jedes Verstehen aus den Köpfen der drei Männer wischte. Jeder der drei spürte den Anprall, als wäre der Wagen mit hoher Geschwindigkeit gegen eine Mauer geknallt, und mit dem nächsten Herzschlag war ihr Bewusstsein nichts als ein weißes Blatt, auf dem die rasenden Elemente ihren Schrecken schrieben.

Der Wagen wurde mit der Motorhaube hochgehoben, stieg fast senkrecht auf, wollte nach hinten kippen und krachte dann doch wieder nach vorne. Er schwankte, taumelte, vibrierte, schien mit unglaublicher Geschwindigkeit weiter vorwärts zu stürmen.

Von allen Kanten des Wagens tönte schrilles Pfeifen, unerträgliches Winseln, ein pene­trantes Jaulen, untermischt mit dem dumpfen Dröhnen und Donnern, das die gesamte Atmosphäre füllte.

Tony Tanner spürte, wie dieser Höllenlärm ihn mit jeder Sekunde näher an den Abgrund des Irrsinns trieb. Die Geräusche umspülten ihn wie eine Säure, drangen in ihn, stachen ihn. Der Lärm hatte die Gestalt feiner Sandkörner, er stach in Tonys Haut, er rieselte in Tonys Ohren, er presste sich unter Tonys Lider, er pinselte den Geschmack von grauer Asche auf Tonys Zunge.

Über ihm lag starr der Körper Steeles, unter sich konnte Tony das Zittern des Eingeborenenhäuptlings Koala spüren. Einen Augenblick lang blitzte ihm das Bild pompeja­nischer Vulkanopfer durch den Sinn – graue, versteinerte, ineinander verkrallte Überreste von Menschen, die sich in eine furchterfüllte Gemeinsamkeit geflüchtet hatten, bevor die Gewalt der Natur ihre Existenz auslöschte. Vielleicht würde man sie irgendwann auch so finden, drei hitzegedörrte, sandbedeckte Mumien, die schon durch ihren Anblick die drei Männer, die sie einmal gewesen waren, lächerlich machten, als müssten sie sich ihres irdischen Lebens schä­men.

Bei jedem Atemzug geriet feiner Sand in Tonys Nase und brannte auf den Schleimhäuten. Das Kreischen des Windes wurde jetzt zur großen Stille, aber es war keine wirkliche Stille, sondern ein Gewicht, das über seinem Scheitel schwebte und das ihn zerquetschen wollte, würde er auch nur mit einer Wimper zucken. Tony spürte den hirnzerschmetternden Lärm wie einen Feind im Nacken, er durfte sich nicht umdrehen und ihm ins Gesicht sehen, dann wäre alles vorbei, aber er konnte auch nicht reglos bleiben und den stummen Atem des Gegners spüren. Es gab keinen Ausweg.

Doch, es gab einen Ausweg. Tony konnte den letzten Rest an Tony Tanner fortwerfen wie alte Klamotten und den letzten Schritt in den Abgrund tun. Dort war Ruhe, dort wartete Frieden. Es musste köstlich sein.

Etwas Hartes ritzte Tonys Haut. Die Empfindung war so verschieden von dem Prickeln und Rieseln der Sandkörner, dass Tony instinktiv stutzte. Was konnte das sein? Diese Härte hatte etwas von Auflehnung, von Widerstand, etwas, das sich dem Toben des Sturms nicht beugte. Mühsam versuchte Tony, seine Gedanken zu sammeln. Es musste sein Ring sein. Oder besser, es musste der Ring Benevoglios sein, den Tony Tanner nun trug. Die Erinnerung an Benevoglio stieg langsam auf, näherte sich, wie eine Kerze, die durch einen dunklen Gang herangetragen wird.

Plötzlich bemerkte Tony eine Änderung in dem Toben und Tosen des Sturms. Mühsam suchte er nach der Ursache dieser Änderung, langsam nur wurde sie ihm deutlich. Die Stille war nur noch Stille, der Lärm war nichts als ein Echo, das er wie einen Propfen in seinen Ohren trug.

Tony richtete sich auf, musste dabei Steele zur Seite drücken und versuchte, die Augen zu öffnen. Sie waren von einer verhärteten Mischung aus Sand und Tränen verklebt. Nur mit Mühe konnte er schließlich blinzeln. Er wollte sich mit den Händen die Kruste von den Augenrändern fortreiben und bemerkte im letzten Moment, dass auch seine Hände völlig sandbedeckt waren.

Der Sturm war vergangen wie ein Albtraum nach dem Erwachen. Nur ein feiner Dunst von Sand, der immer noch in der Luft schwebte und das Atmen schwer machte, blieb als letz­tes Zeugnis des Geschehens.

Sand war in Tonys Gehörgängen, knirschte zwischen den Zähnen, saß wie ein Korken in Nase und Hals, rieselte aus seinem Haar, rieb zwischen seinen Fingern, scheuerte an seinem verschwitzten Rücken. Er zog Häuptling Koala aus dem Sand hervor, der die halbe Fahrerkabine füllte, und arbeitete sich dann durch die Tür nach draußen. Er sank bis zu den Knöcheln in denm feinen Sand ein, hatte einen Augenblick lang sogar Angst, er könne wie in Treibsand vollständig versinken. Dann drückte sich Tony Tanner den Daumen gegen den Nasenflügel und blies sich einen Propfen aus der Nase und stemmte dann die Hände auf die Knie und würgte Sand aus der Kehle. Die beiden anderen machten dasselbe. Es bot sich ein Bild als müssten sich einige übereifrige Säufer vor einer Kneipe erleichtern.

Als sie sich wieder aufrichteten und sich anschauten, erschraken sie. Der Sand bedeckte ihre Gesichter wie eine Maske, die alle individuellen Züge gelöscht hatte. Die Augen schie­nen wie in Panik aus der rötlichen Haut hervorzuleuchten.

Nach kurzem Überlegen ging Steele zum Wagen, riss den Fahrersitz aus der Verankerung und begann, die durchgesessene Polsterung zu zerfetzen.

Die Aktion war so absurd, dass Tony sicher war, Steele habe jetzt den Verstand verloren. Die Vorstellung war ebenso erschreckend wie der Gedanke an die Wiederkehr des Sturmes. Steele war die Stütze des Unternehmens, ohne ihn waren sie verloren. Schlimmer noch. Ein durchgeknallter Steele war ebenso lebensgefährlich wie eine Stange Dynamit mit brennender Lunte. In Tonys Kopf wirbelten die Gedanken. Er musste sich von hinten an ihm heranschlei­chen, ihn niederschlagen und irgendwie fesseln. So war er wenigstens keine Gefahr mehr für Koala und ihn.

Wie eine mechanische Puppe stakte Tony vorwärts, bis er im Rücken von Steele war. Der achtete nicht auf ihn, sondern wühlte, ein armer Irrer mit zerfetzten Nerven in der Polsterung des Sitzes herum. Tony trat näher und suchte sich den Punkt in Steeles Nacken aus, den er treffen musste. Koala stand abseits und schauten den beiden anderen zu.

Tony sog die aschig schmeckende Luft ein und spannte die Muskeln.

»Das sollte es sein«, sagte Steele und holte einen Knäuel gelblicher Kunststoffflocken aus dem Sitz. Er drehte sich zu Tony Tanner um, der direkt hinter ihm stand und ihn anstarrte.

»Ich brauche den Wasserkanister«, krächzte Steele. Der Blick seiner blauen Augen war kühl und gelassen wie immer und zeigte nichts von dem Funkeln des Wahnsinns, das Tony erwartet hatte. Er zog es vor, den Wasserkanister zu holen und Steele gewähren zu lassen.

»Hier, vorsichtig!«, befahl Steele und hielt in der einen Hand den Kunststoffballen, die Fingerspitzen der anderen hielt er genau darunter.

Jetzt verstand Tony. Er goss vorsichtig etwas von der Flüssigkeit, die für sie jetzt wertvol­ler als Gold war, auf den Ballen. Der saugte sich voll, zugleich konnte Steele unter minima­lem Wasserverbrauch seine Fingerspitzen reinigen.

»Dann darf ich mal«, sagte Steele und begann, den Sand von Tonys Augen, Lippen und Nase zu entfernen. Es war eine Wohltat, und Tony merkte, dass er erst jetzt wieder klar sehen konnte.

»Sieht bescheuert aus«, kommentierte Steele, nachdem er mit der Vorsicht einer geübten Krankenschwester sein Werk beendet hatte. »Und jetzt bin ich dran.«

Gehorsam übernahm Tony nun Steeles Part. Es sah tatsächlich etwas seltsam aus, so als hätten sie die Mützen übergestreift, mit denen sich Polarforscher gegen die Kälte schützen.

»Ich schaue mir den Motor an«, sagte Steele, als er fertig bearbeitet war, womit er zugleich entschied, dass sich Tony um Koala zu kümmern hatte.

»Darf ich?«, fragte Tony vorsichtig, als er sich Häuptling Koala mit dem neu angefeuch­teten improvisierten Kosmetikschwämmchen näherte. Der Aborigine schien in einem Schockzustand zu sein, denn er antwortete nicht und ließ die Prozedur der Reinigung wie ein gehorsames Kind über sich ergehen. Es war für Tony etwas seltsam, diesem bockigen, wider­borstigen alten Mann in dieser geradezu intimen Situation gegenüberzustehen. So nahe war er nur Lucille gekommen, und das schien endlos lange her zu sein, oder Francine, aber das gehörte zu einer Vergangenheit, die sich von ihm abschälte wie alte Haut.

»Alles klar?«, fragte er, nur um etwas zu sagen und trat einen Schritt zurück.

»Es war der Atem der Ameise!«

»Wie bitte?«

»Es war der Atem der grünen Ameise!«, wiederholte Koala leise, als würde er nur zu sich selbst sprechen.

»Gehört das zu den Geschichten der Traumzeit?«

Koala riss die Augen auf und schob sein Kinn vor.

»DAS ist meine Geschichte aus der Traumzeit, du Käsearsch«, brüllte er unvermittelt los. »Die Ahnen haben zu mir gesprochen. Ich hörte ihre Stimmen in dem Heulen des Sturmes. Sie haben mir diese Wahrheit gesagt, ich werde sie weitertragen, damit sie in Erinnerung bleibt.«

»Wer soll sie in Erinnerung behalten und wer soll sie weitertragen?«, fragte Steele sarkas­tisch vom Wagen her. »Wenn die grüne Ameise aus der Erde kommt, ist sowieso alles im Arsch, hast du doch selbst gesagt.«

»Es war ja nur von dem Atem der grünen Ameise die Rede. Conte Saloviva sprach übri­gens auch von außergewöhnlichen meteorologischen Phänomenen in der Nähe entstehender Hylegs – Überschwemmungen, heiße Sommer …«

»Politiker, die gequirlte Scheiße labern, ein Fernsehprogramm, das nur blöde ist und Werbung, die Scheiße als Butter verkauft und geglaubt wird. Ich weiß, ich weiß!« In Steeles Stimme vibrierte eine Wut, die seine Worte in Tonys Ohren wie Sägezähne schmerzen ließen. Steele starrte auf die Motorhaube, blieb einen Moment starr, bebend vor Wut, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er ließ die Motorhaube zukrachen.

»Wandertag, Mädels«, sagte er.

Das kam so schnell und trocken wie ein Fausthieb in Tonys Magengrube, und der brauch­te einige Sekunden, bis er die Wirkung spürte.

»Heißt das, wir sollen … wir müssen …«

Steele hob die Hände und umfasste die ganze Weite der endlosen roten Wüste.

»Taxi, Taxi«, brüllte er dann mit voller Lautstärke. »Scheint keines zu kommen«, fuhr er einen Moment später sarkastisch fort. »Und da ich zumindest hier auch keine Schienen ent­decken kann, halte ich es für überoptimistisch und Zeitverschwendung, auf den nächsten Zug zu warten. Also werden wir wandern. Denn der Motor ist im Eimer. Die schönste Mischung aus Sand und Öl und Kugellager, die ich je in meinem Leben betrachten durfte.«

»Wir stecken ganz schön in der Tinte«, sagte Tony, nachdem er den Schock überwunden hatte.

»Eher im Sand. Ist aber so. Wir haben noch einen guten Wasservorrat, an Proviant neh­men wir nur das Nötigste. Ich würde sagen, wir sind nicht gänzlich ohne Chance, aber eine Lebensversicherung würde uns auch keiner verkaufen.«

 

Der Aufbruch fand dann erstaunlich schnell statt. Sie verteilten die Wasserkanister und den Proviant – Koala wurde ungehalten, als er merkte, dass ihn die beiden anderen entlasten wollten, und bestand darauf, dasselbe Gewicht zu schleppen. Die Laune des Häuptlings hatte sich seltsamerweise gebessert. Er deutete in eine Richtung.

»Der alte Weg schwindet. Ich kann ihn nur noch in Teilen erkennen, aber er wird uns den­noch leiten.«

Damit stapfte er los.

Tony und Steele folgten ihm. Sie versanken bis zu den Knien im Sand und kamen nur mühsam vorwärts, bis Koala sie auf eine rippenförmige Sanddüne leitete. Das Laufen war noch immer anstrengend, aber jetzt saugte nicht jeder Schritt an ihrer Kraft wie an einem ver­endenden Akku.

Tonys Hoffnung, dass sich der Sand von ihrer Haut lösen würde, erfüllte sich nicht. Die feine rötliche Masse steckte in jeder Pore, als wäre sie mit einer Tätowiernadel aufgetragen worden. Seine Zehen rieben aneinander wie Sandpapier, es begann zu schmerzen, dann drück­ten sich Blasen aus der Haut und irgendwann später platzten diese Blasen und Tony spürte, wie der Sand über das rohe Fleisch scheuerte und die Hautfetzen sich bei jeder Bewegung an der Schuhkappe rieben. Seine Füße schienen in einem Topf mit kochendem Wasser zu ste­cken. Bei jedem Schritt musste sich Tony überwinden und die Zähne sandknirschend zusam­menbeißen. So seltsam es war, begrüßte er diesen Zustand sogar heimlich. Er hielt ihn davon ab, über ihre Situation nachzudenken – drei Männer in der Mitte von nirgendwo, mit einem recht beschränkten Wasservorrat und einer äußerst bescheidenen Vorstellung von ihrem Ziel.

Koala schienen die Strapazen am wenigsten auszumachen. Er marschierte bedächtig, aber ausdauernd, lief manchmal sogar ein Stück oder bestieg eine höhere Düne, um Umschau zu halten. Steele ließ sich nichts anmerken, aber auch er hatte sich die Füße wund gelaufen, wie Tony an manchen Bewegungen des anderen erkennen konnte.

Sie liefen bis zur Dämmerung und warfen sich dann an der Stelle, wo sie standen, in den Sand. Als Tony seine Schuhe auszog, war er sicher, seine Füße nie wieder in diese Hülle zurückstecken zu können. Sie opferten etwas Wasser, um die Wunden zu reinigen, tranken ihre Ration und kauten einige harte Nudeln.

Dann lag Tony trotz seiner brennenden Füße auch schon in einem Halbschlaf oder eher in einer Form von Erschöpfungsohnmacht. Durch die Schleier seiner Müdigkeit hörte er die Stimme des Häuptlings Koala, der sagte: »Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Er lebt in Melbourne als Bauarbeiter. Ich glaube, er würde sich zu Tode schämen, wenn er jemandem gestehen müsste, dass sein Vater als stinkiger Abo nach Art der Ahnen lebt …« Es folgte eine lange Stille, dann erklang Steele Stimme. »Es gibt viele Arten, seine Kinder zu verlieren. Aber diese ist sicherlich die Grausamste.«

Als Tony hochfuhr, schien Steeles Stimme eben erst verklungen zu sein. Es war völlig dunkel, kein Stern stand am Himmel. Die Luft war empfindlich kalt, aber der Sand strahlte immer noch eine dumpfe Wärme aus. Tony Tanner brauchte eine Weile, um sich zurechtzufinden. Schließlich erinnerte er sich daran, wo er war und warum er hier war. Und jetzt fiel ihm auch wieder ein, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Es war ein sehr weit entferntes Geräusch, das sich in seinen Traum geschoben hatte. Als Tony darüber nachdachte, war er sicher, dass es das Rotorengeräusch von Hubschraubern war. Diesen Klang erkannte er inzwi­schen schon im Schlaf.

Er lauschte und konnte nichts hören außer dem ruhigen Atem von Häuptling Koala, der eine Armlänge entfernt neben ihm lag. Von der anderen Seite kam ein leises Rascheln. Steele war also auch wach geworden.

»Hubschrauber, was?«, flüsterte Steele.

Tony nickte, dann wurde er sich klar, dass Steele dies nicht erkennen konnte und er flüs­terte: »Ich glaube ja, aber ich bin mir nicht sicher.«

»Sie sind irgendwo in der Nähe, vielleicht suchen Sie uns.«

Darüber, wer sie waren, herrschte Einigkeit. Der Gedanke hatte für Tony keinerlei Reiz, und obwohl er ihn für unwahrscheinlich hielt, ließ er sich nicht verdrängen, steckte in seinem Kopf fest und hinderte ihn am schlafen.

Hellwach und zugleich todmüde und erschöpft wartete Tony Tanner auf den kommenden Tag. Er war wohl doch wieder eingedöst, denn er schrak hoch, als sich beim ersten Anzeichen der Morgendämmerung eine Gestalt neben ihm bewegte und im nächsten Moment mit der Dunkelheit, die in einer Kuppe lagerte, verschmolz. Der Platz von Koala war leer. Hatte sich der Alte abgesetzt? Wollte er sie hier allein lassen? Der Gedanke machte Tony ebenso frös­teln wie die eisige Luft.

Zumindest die Kälte schwand mit den ersten Sonnenstrahlen und wandelte sich innerhalb einer halben Stunde in Hitze, die bei steigendem Sonnenstand die Luft zum Kochen brachte.

Koala blieb verschwunden. Steele und Tony kamen überein, dass sie auf ihn warten wür­den – für einige Stunden wenigstens. Sie verzogen sich in den Hang einer kleinen Düne, wo es etwas Schatten gab und gruben sich in den Sand.

»Warum hat sich Koala verzogen«, murmelte Tony mehr zu sich selbst.

»Wird schon Gründe haben«, kam die unerwartete Antwort von Steeles Seite.

»Hoffentlich wissen wir diese Gründe auch zu schätzen.«

Damit war alles gesagt. Tony hatte viel Zeit nachzudenken. Er schwankte zwischen Zorn über Koala und Sorge. Was er sich auch immer an Gründen für das Verschwinden des Alten denken mochte, er fand keinen, der ihn wirklich zufriedenstellen konnte. Vielleicht war Koala ja schlicht durchgedreht oder er war ein Verräter oder … oder … oder

Die Hitze trieb solche Gedanken hervor wie den Schweiß, der aus den Poren trat und mit dem Sand eine rötliche Schicht bildete.

Die Zeit verrann zäh. Inzwischen bedeckte grauer Dunst den Himmel und nahm ihm die Möglichkeit, die Tageszeit am Sonnenstand zu erkennen. Ein Geruch von kalter Asche lag in der Luft, jeder Atemzug erweckte in Tony Bilder von rauchenden Ruinen, die in der Nähe lagen. Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Aber er fand keine Ruhe, sobald seine Aufmerksamkeit nachließ und er einzudösen schien, nutzten tausend unerfreuliche Gedanken diese Gelegenheit, aus ihren nun geöffneten Zellen zu entwischen und ihn zu bestürmen. Warum gehen wir noch weiter, fragten sie, was sollen wir überhaupt bewirken, welches Risiko gehen wir ein, nur um behaupten zu können, wir hätten es bis zum Ende versucht … Tony wischte das lästige Gedankengesocks ärgerlich zur Seite und beschloss, sich auf die Vision eines kühlen Bieres zu konzentrieren. Und dies half ihm auch ganz gut. Innerlich stieß er mit Pillbury an – und musste verzweifelt grinsen.

Weder Steele noch Tony nahmen Koalas Rückkehr wahr. Sie zuckten erst zusammen, als der Alte plötzlich neben ihn war.

Koala nahm vor ihnen Aufstellung, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Füße her, Käseärsche«, herrschte er sie im Kasernenhofton an. Er trug einen improvisier­ten Behälter aus Rindenstreifen, in dem Tony einige Wurzeln und Blätter erkennen konnte.

Der Aborigine ließ sich nicht dazu herab, ihnen sein Verschwinden zu erklären – es erklär­te sich im Grunde selbst, als er seine Beute aus dem Behälter holte.

Er hielt Tony und Steele ein holziges Gewächs mit langen dünnen Wurzeln vor die Nase.

»Los, kauen, die Wurzel. Nicht runterschlucken, giftig, spuckt mir das Zeug in die Hände.«

Tony starrte den Häuptling nur an und versuchte, eine freundliche Formulierung für etwas wie Leck mich doch zu finden. Zu seinem Erstaunen brach Steele ohne Zögern einen Teil seiner Wurzel ab und steckte sie in den Mund. Dass sie scheußlich schmeckte, war seiner Miene deutlich anzusehen. Und Tony konnte es selbst merken, als er mit einem Seufzen Steeles Beispiel folgte. Die Wurzel hatte einen leichten Lakritzgeschmack, der sofort von einer ätzenden Bitterkeit überdeckt wurde, als würde Säure den Mund füllen. Nack kurzem Kauen zerfiel die harte Wurzel zu einer ekelhaft mehligen Masse, die Tony in die erwartungs­voll hingehalteten Hände Koalas spuckte. Der rieb die Masse zwischen den Handflächen, bis sie wieder zäh geworden war, dann drückte er sie auf die wunden Stellen an Tonys und Steeles Füßen. Es brannte wie Feuer, und nur mit Mühe konnte sich Tony davon abhalten, schreiend aufzuspringen. Aber dann verschwand das Brennen und eine wohl tuende Kühle breitete sich aus.

Nachdem Koala alle Wundstellen entsprechend behandelt hatte, drückte er Streifen von Blättern über die Masse.

»Es dauert eine Weile, dann werden eure Füße nicht mehr geschwollen sein«, erklärte er.

»Und um dieses Zeug zu holen, bist du stundenlang durch die Wüste gestapft?«, sagte Steele anerkennend.

»Ich kann euch zwei fetten Käseärsche ja nicht tragen«, schnappte Koala und verzog sich in eine Kuhle in ihrer Nähe. Nach einer Weile wurde er unruhig und kam wieder zum Vorschein.

»Wir sollten gehen«, sagte er. »Ich kann nicht richtig abschätzen, wie hoch die Sonne steht, aber wir sollten trotzdem aufbrechen.«

Tony war das nur recht. Das Warten zehrte an den Nerven, und bei der stickigen Hitze herumzuliegen, hatte keinerlei Erholungswert. Sie nahmen ihr Gepäck und zogen los. Der Wasserkanister, den Tony mit zwei improvisierten Riemen auf dem Rücken trug, war merk­lich leichter geworden. Sie hatten sich nach einer kurzen Beratung entschlossen, ihre Wasservorräte nicht zu rationieren. Steele war der Meinung, dass es keinen Sinn machte, halb verdurstet durch die Wüste zu schwanken und dann im entscheidenden Moment zu schwach und zu verwirrt zu sein, um effektiv eingreifen zu können. So hatte Tony zwar Hunger, der ließ sich jedoch noch ganz gut aushalten, aber keinen Durst. Zugleich wusste er bei jedem Schluck, den er im Laufe des Marsches trank, dass nicht nur dieser Kanister spätestens am nächsten Tag leer sein würde. Wenn Koala dann nicht in der Lage war, irgendwo Wasser auf­zutreiben – und das erschien Tony in dieser schier endlosen rötlichen Sandödnis höchst unwahrscheinlich, dann war diese hier nichts als eine weitere Variante einer Kamikazeaktion. Aber Koala hatte Pflanzenzeugs gefunden, und wo Pflanzenzeugs war, da war höchst wahr­scheinlich auch Wasser.

»Habt ihr das gehört?«

Tony, aus seinen trüben Gedanken aufgefahren, blieb stehen und hob lauschend den Kopf. Deutlich hatte er etwas gehört. Es klang wie fernes Donnern, schien aber zugleich ganz nah zu sein, als würde es direkt neben seinem Ohr erzeugt. Ein hartes, krachendes, kollerndes Geräusch, bei dem er sofort an niederstürzende Felsbrocken denken musste.

Steele zuckte nur die Achseln und stapfte unbeirrt weiter. Koala, der an der Spitze ging, drehte sich um und schaute Tony misstrauisch an.

Sie haben es also nicht gehört, dachte Tony, und nun denken sie, ich würde langsam durchknallen. Verärgert biss er die Zähne zusammen und beschleunigte den Schritt, bis er wieder direkt hinter Steele war. Er war sicher, sich nicht getäuscht zu haben, auch wenn er anscheinend als Einziger das Krachen vernommen hatte. Die Narben an seiner Schulter began­nen zu schmerzen.

Wie lange sie so weitergingen, konnte Tony nicht mehr sagen. Die graue Farbe des Himmels hatte an Intensität gewonnen. Der Dunst war so dicht geworden zu sein, dass das Sonnenlicht nur noch trübe hindurch sickerte. Auch auf dem Boden nahm ihnen der Dunst die Sicht und schien sie wie eine Glocke zu bedecken. Es war windstill, nur manchmal trieb eine Böe rötlichen Sand von den Dünenkämmen und ließ ihn als waagerechten Schleier in der Luft tanzen oder packte ihn auch, wie von plötzlicher Wut besessen und wirbelte ihn zu Sandhosen auf, die wie Kreisel mit großer Geschwindigkeit über die Wüste jagten und sich im nächsten Moment in einer Staubwolke auflösten.

Kein Laut war zu hören, wenn man von dem Geräusch der Schritte im Sand absah, einem Schnaufen oder dem leisen Gesang, der manchmal von Koalas Lippen kam. Der alte Häuptling wirkte seltsam unkonzentriert. Sein Gesang brach plötzlich ab, dann setze er mit neuer Melodie neu ein, als hätte der Alte den Text vergessen.

Das Donnern ließ Tony zusammenfahren. Es war fast schmerzhaft laut, es erschütterte jede Zelle seines Körpers wie eine Explosion und dennoch wusste er, dass es von weit herkam. Es war nicht einmal die Lautstärke, die so furchterregend wirkte, sondern die Mitteilung eines Berstens, von Zerreißen, Zerschmettern und Zerstören, die in diesen Klängen enthalten war und die Tony fast den Atem raubte. Er musste stehen bleiben und die plötzliche Panik abschütteln, die ihn überkam. Seine Schulternarben sandten mit einem Mal wilden Schmerz durch seine Nerven, das Bild von Speeren oder Pfeilen, die ihn getroffen hatten, war so wirk­lich, dass er herumfuhr und suchend nach dem Angreifer stierte.

Steele war unterdessen ungerührt weitergegangen. Koala allerdings hatte den Kopf etwas geneigt, während sein Gesang abgebrochen war und er hatte sich umgedreht und auf Tony geschaut.

Die Hitze wurde fast unerträglich. Es war das trockene, alles verderbende Glühen eines riesigen Schmelzofens, das ihnen die letzte Kraft aus dem Körper sog. Die Luft wurde immer trüber, sie verdickte sich zu Schlieren, die in der Nähe vorbeiglitten wie Gespenster und sich aufzulösen schienen, wenn man sie genauer zu erkennen versuchte.

»Es gibt kein Lied mehr«, brüllte Koala plötzlich mit sich überschlagender Stimme. Er hob die Arme gegen den grauen Dunsthimmel und schüttelte, wutkreischend und mit den Füßen trampelnd, dass er sofort in dem aufwölkenden Staub fast verschwand, den Speer.

»Es gibt kein Lied mehr, der Weg ist zerstört und das Ende der Lieder ist gekommen, es …« Koala verfiel in seine Muttersprache, dann konnten die Worte seinem Zorn und seiner Verzweiflung keine Form mehr geben und er brach in ein wortloses, tierisches Gebrüll aus.

Hilflos sah Steele diesem Ausbruch zu. In diesem Moment wusste er, dass Koala recht hatte. Auf eine ganz fundamentale, nicht durch Gedanken erfassbare Weise hatte der alte Häuptling recht mit dem, was er tat, und mit einer Mischung aus Erschrecken und Bewunderung erkannte Steele, dass es das Land, das er unter den Füßen hatte, diese endlose rote Wüste, diese Wälder, diese Felsen, diese Tiere, all das, was in Jahrmillionen erwachsen war und sich zu einer Gestalt geformt hatte, zu einem lebendigen Wesen, einem Kontinent, der mit den Berufenen sprechen konnte, ihnen Träume senden, ihnen Lieder und Tänze und Malereien eingeben – dass all das sich Koala ausgewählt hatte, um seinen Zorn, seinen Schmerz, seine Empörung, seine Verzweiflung hinauszuschreien, als wäre dieser alte dunkel­häutige Mann, der jetzt vor ihm stand, den Kopf in den Nacken gelegt, die Arme wie in Krämpfen gegen den Himmel zuckend, mit offenem Mund brüllend, kreischend, schreiend, mit zerfetzenden Stimmbändern schreiend, immer heiserer werdend, das letzte Sicherheitsventil oder der letzte Zeuge oder der letzte Ankläger.

Und jetzt drehte auch noch Tony Tanner durch! Steele hatte während der ganzen Zeit das ungute Gefühl gehabt, dass sein Begleiter seelisch angeknackst war. Und nun wurde es offen­sichtlich, nun fing auch Tony Tanner an zu brüllen und wirbelte um die eigene Achse, als stün­de jemand hinter ihm. Dann ließ er seinen Kanister fallen und rannte los. Bevor Steele ein­greifen konnte, war Tony an ihm vorbei gespurtet, mit einer Geschwindigkeit, die nach den Anstrengungen der jüngsten Zeit völlig überraschend war. Steele schrie ihn an, aber Tony ach­tete nicht darauf, hatte es vielleicht in dem inzwischen zum krächzenden Klagegeheul gewor­denen Geschrei Koalas nicht einmal gehört. Steele schaute hinter Tony her, der den Kamm einer flachen Düne überquerte, für einen Moment außer Sicht geriet und dann auf der ande­ren Seite die nächste Düne hochrannte. Jetzt spätestens musste ihm die Lunge schmerzen, jetzt mussten die Schenkel wie Feuer brennen. Kühl und gelassen beobachtete Steele die Szene. Er hatte seine Berechnungen gemacht und wartete darauf, dass Tony in dem nachge­benden Sand der Dünenflanke einknicken würde. Aber Tony Tanner rannte weiter, wühlte sich zum Kamm hoch, während er mit jedem Schritt Sandlawinen lostrat, die die steile Böschung herabrieselten. Er gewann den Kamm und verschwand erneut außer Sicht.

Steele stieß eine unterdrückte Verwünschung aus. Seine Berechnungen waren wertlos gewesen. Nichts stimmte mehr, gar nichts. Er fingerte die Schnalle des Gürtels los, der ihm als Traghilfe diente. Hinter ihm fiel der Kanister in den Sand. Er gab ein dumpfes Geräusch von sich, als der Wasserrest gegen die Innenwand schwappte. Steele rannte los. Nach einigen Sprüngen hatte er Koala erreichte, packte den Alten bei den Schultern und schüttelte ihn.

»Es reicht«, brüllte Steele den Häuptling an. Dann hetzte er hinter Tony Tanner her. Der Sand brachte ihn ins Straucheln, Steele fiel auf den Bauch und rutschte in die Mulde zwischen den Dünen. Sofort war er wieder hoch, aber als er nun die Dünenflanke hochrannte, wurde ihm klar, dass seine Berechnungen nicht einmal für ihn selbst stimmten. Seine Beine versag­ten, er musste sich mühsam, Schritt für Schritt hocharbeiten, war fast am Ende seiner Kraft, als er oben angelangt war. Das Gebrüll hinter ihm hatte aufgehört. Koala begann nun eben­falls in Steeles Richtung zu gehen. Keuchend erreichte Steele den Kamm. Der Dunst vor ihm schien sich zu verdichten, war zu einem Nebel geworden, der näher kam und jede Sicht nahm. Einmal noch konnte Steele die inzwischen ferne Gestalt Tonys erkennen, der mit unvermin­derter Geschwindigkeit in den Nebel hineinrannte.

Schwer atmend folgte ihm Steele. Er mäßigte nun sein Tempo und passte seine Schritte dem Untergrund besser an. Auf diese Weise kam er mit weniger Anstrengung schneller vor­wärts. Dennoch wurde er von Koala eingeholt und sogar überholt. Der alte Häuptling tauch­te keuchend hinter Steele auf und, statt die Düne hinunterzulaufen, warf er sich wie ein Klippenspringer nach vorn und rutschte in einer Sandlawine in die Mulde. Noch diese Düne, fuhr es Steele durch den Kopf, und dann kann ich nicht mehr. Die Erkenntnis machte ihn wütend und zugleich war er zu erschöpft, um wirklich wütend zu sein.

Halb betäubt vor Erschöpfung erreichte Steele hinter dem vorstürmenden Koala den Dünenkamm. Er sah aus den Augenwinkeln, dass der alte Häuptling zurückprallte, als wäre er gegen eine Mauer gerannt. Dann war Steele oben. Er sah Tony Tanner, der reglos einige Schritte vor ihm stand und dann erkannte er, dass sie an ihrem Ziel angekommen waren.

Die Luft in dem Gang roch modrig. Sie legte sich schwer auf die Lungen, sie brachte einen schlechten Geschmack auf die Zunge und sie wirkte bedrückend wie eine böse Vorahnung. Wenn Dorkas seine Empfindungen genau prüfte, und er hatte Zeit dazu, denn Troiger war noch weit von jeder Form von Ansprechbarkeit entfernt, dann musste er sie als Resignation bezeichnen. Es war eine schlaffe, matte Mutlosigkeit, die bereit war, alles zu ertragen, weil ihr jede eigene Entscheidung genommen war. Dorkas spürte, wie sich trotz der Kühle Schweißperlen auf seiner Stirn sammelten und wie der Schweiß höchst unerfreulich aus seinem Nacken den Rücken herabrann.

Sich um Troiger zu kümmern, schien ihm unangebracht. Der hinfällige Greis mochte das als Aufdringlichkeit empfinden, und so schaute Dorkas auf den Boden, kratzte mit der Schuhspitze über den morschen Beton und ging einige Schritte hin und her. Im trüben Schein der nackten Glühbirnen konnte er gerade eben noch die Treppe, die sie heruntergekommen waren, und einige Meter Gang zu beiden Seiten erkennen. Wenn er zur einen Seite ging, ver­nahm er aus dem Dunkel das Echo seiner eigenen Schritte, was Dorkas zu der Vermutung ver­anlasste, dieser Teil des Ganges sei vermauert, verschüttet oder ein toter Stollen. Wenn er zur anderen Seite ging, glaubte er dagegen einen leisen Luftzug zu verspüren, der ihn sicher machte, dass sich der Weg in die Dunkelheit fortsetzen werde.

Troiger machte eine schwache Bewegung mit der Hand und Dorkas trat zu ihm.

»Gehen Sie dort entlang«, hörte er Troiger flüstern. »Auf der rechten Seite ist ein Schaltkasten. Sie müssen ihn öffnen und den Schalter nach unten legen. Zu dumm, dass ich nicht an eine Taschenlampe gedacht habe. Als ich das letzte Mal hier unten war, hatte ich eine dabei und konnte den Kasten richtig verschließen … Er hat einen drehbaren Verschluss mit einem Griff. Sie müssen den Griff abheben und den Verschluss dann drehen, dann lässt sich der Kasten öffnen … Haben Sie mich verstanden, mein Freund?«

Dorkas murmelte eine Zustimmung, obwohl er von den Anweisungem weniger als die Hälfte verstanden hatte, weil ihm zu viele Begriffe völlig unbekannt waren. Für einen Moment hatte er den Wunsch, den Auftrag an Little weiterzugeben. Dieser stand etwas abseits, in der Zone, wo das Licht in die Dunkelheit des Stollens verrann, und schien über etwas nachzusinnen. Dann wies Dorkas diesen Gedanken von sich. Er wäre so gern ein Feigling gewesen, weil das seiner eigentlichen Natur vollkommen entsprach, aber er wollte alles vermeiden, was Troiger zusätzlich belasten könnte.

Also machte sich Dorkas mit kleinen Schritten auf den Weg, trat in die Dunkelheit und ließ seine rechte Hand an der feuchten Wand entlang gleiten. Jeder Schritt führte in tiefer in die lastende Finsternis. Wenn er sich umdrehte, lag der beleuchtete Teil des Ganges schon weit hinter ihm und die Gestalten Troigers und Littles wirkten klein und unnatürlich wie Modellfiguren in einer Vitrine.

Während er sich umschaute, lief Dorkas weiter, und als er sich zurückdrehte, prallte er gegen einen Widerstand. Ein Kasten gab ein lautes blechernes Scheppern von sich, Dorkas war mit der Stirn dagegen gelaufen und sah im ersten Moment Sterne. Mit dem eingeübten Reflex des Brillenträgers rückte Dorkas seine Sehhilfe zurecht und bemerkte zu seiner Erleichterung, dass das lebensnotwendige Nasengestell nicht verbogen war.

»Ist alles klar?«, klang die Stimme Littles von hinten.

»Ja, danke der Nachfrage, ich habe den Kasten gefunden!«

Letztere Bestätigung war angesichts des weithin hallenden Schepperns, dessen Echo sich in dem Gang verlor, ziemlich überflüssig.

Nach einigem Tasten fand Dorkas den Drehgriff, suchte nach der richtigen Position, ruckelte und versuchte es weiter. Als die Tür des Kastens endlich aufging, wäre Dorkas fast rückwärts gestürzt, weil er inzwischen schon mehr mit Kraft als mit Feingefühl agiert hatte. Der Gedanke, dass er vor sich einen Schaltkasten voller blank liegender elektrischer Anschlüsse hatte, ließ Dorkas zögern. Dann war er sich sicher, dass ihn Troiger gewarnt hätte, würde eine Gefahr bestehen. Dann überlegte er sich, dass Troiger in seinem Zustand der völ­ligen Erschöpfung eine Warnung durchaus vergessen haben könnte. Endlich kam er zu dem Ergebnis, dass er in Gefahr geriet, hier Wurzeln zu schlagen und so tastete er nach dem Schalter. Seine Fingerspitzen berührten glattes Holz, umfassten einen Griff und mit Schwung zog Dorkas den Schalter in die untere Position. Blaue Funken sprühten ihm entgegen und blendeten ihn, es gab einen Knall und ein Geruch von Ozon stieg auf. Aber an der Decke leuchtete eine Lampe und plötzlich war der Gang von einer Seite zur anderen in Licht getaucht.

Zumindest für die an die Dunkelheit gewöhnten Augen von Dorkas schien es so, auch wenn tatsächlich die Beleuchtung alles andere als überzeugend war und durch den Ausfall einiger Lampen, die in Abständen von zwei Metern unter der Decke hingen, wurde der Zustand auch nicht besser.

»Warten Sie, wir kommen schon!«, rief Little. Er hatte seinen Arm unter denjenigen Troigers geschoben, der entweder zu verdutzt oder zu schwach war, um Widerstand zu leis­ten und bewegte sich nun langsam auf Dorkas zu. Der fand Zeit, sich umzusehen. Dem Schaltkasten genau gegenüber befand sich ein Gang, der nach einigen Metern an einer schlampig aufgeschichteten Ziegelmauer endete. Offensichtlich war dies früher der eigentli­che Eingang zu dem Gängesystem gewesen. Denn um ein solches handelte es sich, wie die vielen Abzweigungen auf beiden Seiten zeigten.

Die Wände zeigten Reste von weißer Kalkfarbe, und als Dorkas einen Schritt zurücktrat, konnte er auch noch die Beschriftung entziffern, die an die Wand gemalt war.

Schutzraum 1 stand dort über einem schwarzen Pfeil, der nach links wies. Dann gab es noch eine  … mm … tur und ein Bef … um Lu … lage, die beide in derselben Richtung lagen.

»Das hier war das Befehlszentrum für die Luftabwehr«, erklärte Troiger, als er in Begleitung Littles herangekommen war. Die kurze Rast hatte dem alten Mann gut getan. Seine Stimme klang fester und sein Atem ging nicht mehr so mühsam und rasselnd wie noch eben.

Dorkas trat wie selbstverständlich neben Troiger und fasste hilfreich dessen Arm, ohne zu registrieren, dass er Little dabei ein wenig zur Seite drückte. Der blieb stehen, schaute dem fortschlurfenden Paar nach und empfand plötzlich, dass tief in seinem Inneren einen Blase von kochender Wut aufstieg und an die Oberfläche drängte. Die aufschäumende Wut ließ ihn erzittern, sie nahm Littles Denken und Fühlen vollkommen in Besitz. Automatisch formten seine Lippen eine Folge von leise geflüsterten vulgären Beschimpfungen. Erst ein Schmerz führte ihn aus dieser Benommenheit zurück. Verwundert betrachtete Little seine blutenden Handflächen – er sich bei geballten Fäusten die Fingernägel in das eigene Fleisch gestoßen. Was war mit ihm los? Was war das, was sich in ihm eingenistet hatte, in einer dunklen Ecke kauerte und ihn aus dem Hinterhalt des Unbewussten anzuspringen schien? Little wusste nicht, wie lange er gestanden hatte, völlig mit sich selbst beschäftigt und verzweifelt darum bemüht, so etwas wie ein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Als er nun aufschaute, bemerkte er Dorkas und Troiger, die ein ganzes Stück weitergekommen waren und sich nun zu ihm umgedreht hatten. Little ging auf sie zu und empfand es als Segen, dass ihm seine Beine gehorchten.

»Ist etwas? War Ihnen nicht gut?«, fragte Dorkas. Little bemerkte in der Stimme des ande­ren keine persönliche Besorgnis, dafür etwas wie ein kühles wissenschaftliches Interesse.

»Es war nichts«, antwortete er nach einigem Zögern. Und nach einem weiteren Zögern fügte er hinzu, selbst erstaunt, seine Stimme noch einmal zu hören: »Ich scheine ein wenig durch den Wind zu sein. Ich bin irgendwie … irgendwie … ich weiß nicht …«

Troiger und Dorkas starrten Little an, dann wandten sie sich gegenseitig zu.

»Das Buch«, flüsterte Dorkas, sodass nur Troiger ihn hören konnte.

»Ich habe versagt, ich habe mein Gelübde gebrochen!«

»Wir wissen nicht, warum solche Dinge geschehen«, zischelte Dorkas zurück. Er fand sich in der unbehaglichen Situation, Little zu verteidigen und Troiger beruhigen zu müssen. »Herr Little besitzt eine Reihe ganz außerordentlicher Fähigkeiten, die seine Psyche nicht mit der eines anderen Menschen vergleichbar machen, verstehen Sie? Egal, was passiert, er kann es auf andere Art verarbeiten als wir oder andere.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr«, seufzte Troiger mit einem letzten Blick auf den betrübt daste­henden Little und schlurfte weiter.

Nach kurzer Zeit hatte Dorkas jede Orientierung verloren. Ihr Weg führte sie durch ver­schiedene Gänge, und spätestens nach der dritten Treppe und dem zweiten Durchgang wuss­te Dorkas, dass er alleine hier niemals wieder herausfinden würde. Stellenweise verströmten die Stollen einen leisen Geruch nach Wein. Troiger erklärte, dass der Berg, in dem sie sich befanden, seit Jahrhunderten genutzt wurde, um Wein oder anderes Handelsgut zu lagern, um sich oder Waren zu verbergen oder um ungesehen von einem Ort zum anderen zu gelangen. Zuletzt waren Luftschutzbunker und bombensichere Befehlszentralen eingerichtet worden. Dabei deutete Troiger auf eine offene Tür, an der sie gerade vorbeikamen. Dorkas blickte auf einen leeren, voll beleuchteten Saal, an dessen Wänden sich drei aufsteigende Reihen von Sitzen entlangzogen. In der Mitte waren Tische und hohe, schmale, senkrechte Tafeln. Kopfhörer lagen auf den Tischen, Zettel mit hastig gekritzelten Notizen bedeckten den Boden. Es machte den gespenstischen Eindruck, als wären die Menschen, die diesen Raum bevölkert hatten, vor einem Augenblick noch an ihren Plätzen gewesen.

»Seit 1945 hat keiner mehr dieses System betreten. Die Amerikaner hatten Angst, dass man sie hier in eine Falle locken würde. Also mauerten sie den Haupteingang zu und spreng­ten die anderen Ausgänge.«

»Und nur Sie allein haben diese Gänge betreten?«

»So ist es. Wir sind da.«

Troiger deutete auf eine Doppeltür aus blau gestrichenem Eisen. Mit Mühe konnte Dorkas einen ihrer Flügel bewegen. Ein kühler Hauch ließ ihn frösteln. Dahinter war ein dunkler Raum. Er musste erstaunlich groß sein, denn das Echo des quietschenden Türflügels verlor sich in weiter Ferne.

»Ein Materiallager der Luftwaffe«, erklärte Troiger und tastete dabei mit erstaunlicher Sicherheit nach dem Schaltkasten. Die Beleuchtung flammte auf und entriss der Dunkelheit einen Raum von Sporthallengrößen mit allerdings recht niedriger Decke.

»Der Anblick ist etwas gewöhnungsbedürftig«, sagte Troiger entschuldigend, als Dorkas und Little mit hängenden Schultern und aufgerissenen Augen vor der seltsamen Konstruktion standen, die den Großteil des Raumes füllte.

***

Der Anblick war nur schwer in Worte zu fassen. Er war atemberaubend und überwältigend und verwirrend und beängstigend. Es war alles zu groß, zu seltsam. Es lag da, vor ihren Augen, unbestreitbar und real, und über allem lag eine Endgültigkeit, die den Willen erschlaf­fen ließ.

Ein Hubschrauber stieg auf. Tony Tanner bemerkte als Erster die blinkenden Positionslichter, die aus dem Dunst stachen. Es war ein riesiger Frachthubschrauber russi­scher Bauart, der sich träge in die Luft erhob und dann verschwand. Die Luft vibrierte von dem Wirbel seiner Rotoren. Als deren Hämmern leiser wurde und schließlich erstarb, fiel eine unheimliche Stille über den Ort.

»So sieht das also aus«, sagte Tony Tanner.

Vor ihnen, in einer Ebene, die etwas unterhalb ihrer Position lag, öffnete sich ein gewal­tiges Loch. Ein breiter Fahrweg schraubte sich spiralförmig die Wand entlang in eine Tiefe, die unerkennbar blieb, weil graue Dunstschleier über ihr lagen. Auf der anderen Seite, meh­rere Hundert Meter entfernt, standen dreistöckig gestapelte Wohncontainer neben Nissenhütten und hoch aufragenden Fabrikationsanlagen. Sie waren nur schwer sichtbar, denn die Luft über dem Loch flirrte und wallte, als würde dort unten eine gewaltige Kochplatte glü­hen. Jetzt erst, als er dieses Phänomen bemerkte, wurde sich Tony Tanner bewusst, dass es wesentlich kühler geworden war.

»Keiner zu Hause«, knurrte Steele und schritt auf den Rand des Loches zu. Tony folgte ihm. Koala zögerte, setzte sich aber dann doch in Bewegung und folgte den beiden anderen mit steifen Schritten.

Der Blick nach unten erregte Schwindel, weniger wegen der Tiefe als wegen der beweg­ten Luftmassen, die tanzten und wogten, manchmal aufzukochen schienen und die Luft zu Schlieren verformte. Der Dunst in der Tiefe des Kessels lag scheinbar ruhig, aber als Tony genauer hinblickte, erkannte er, dass die graue Masse langsam aber stetig nach oben kroch. Und als er nun einen weiteren Blick in diesen Kessel warf, der in die Erde gewühlt worden war, bemerkte Tony ein leises Schwanken am Rand des Dunstdeckels – wie Wellenschlag, der einen Strand trifft. Oder wie die leise Antwort auf ein Atmen tief unten.

Hier, direkt am Rand des Loches, war es empfindlich kalt. Ihr Atem stand als weiße Wolke über ihren Köpfen. Durch den Sand führten Kettenspuren geradewegs auf den Rand zu. Baumaschinen, Planierraupen, Bagger und Lastwagen waren auf diese Weise in das Loch gestürzt worden, wo sie zerschmettert auf der umlaufenden Fahrbahn lagen.

»Wo mag das Ekranoplan sein?«, fragte Tony, als sie das Loch umrundeten und auf die Wohncontainer zugingen.

Steele deutete schweigend in das Loch.

»Um ein solches Trumm zu starten, braucht man eine Wasserfläche oder eine Asphaltpiste. Beides ist hier nicht vorhanden. Also liegt es da unten.«

»Mitsamt dem radioaktiven Material.«

»Da unten wird eine ganze Menge von dem Zeug sein«, vermutete Steele kühl. »Genug, um alle Umweltschützer dieser Erde in den Wahnsinn zu treiben.«

»Und genug, um uns zu vergiften.«

»Nein, die Strahlung wird nicht austreten. Jedenfalls nicht in den nächsten hundert Jahren oder so.«

»Und warum hatten es diese Typen so eilig zu verschwinden, dass sie sogar ihr Material zurückgelassen haben?«

Steele warf Tony einen schrägen Blick zu.

»Warum sollten sie sich die Mühe machen, diesen Schrott wieder zurückzutransportieren? Sie haben genug Finanzen, um sich jede Stunde neue Maschinen zu kaufen. Dieses Zeug ist denen doch völlig schnurz. Sie haben ihren Job erledigt, und jetzt machen sie sich vom Acker, damit die Verbindung zwischen ihnen und diesem Loch hier nicht sofort erkennbar wird.«

»Aber sie sind hier noch nicht fertig«, wagte Tony die entscheidende Bemerkung.

Steele konnte nur zustimmend mit dem Kopf nicken.

»Nein, noch ist das hier nicht ganz fertig. Da drüben sind Leitungen – ich bin sicher, dass hier überall in den Böschungen Sprengsätze installiert sind. Damit werden sie dieses Loch irgendwann in der nächsten Zeit soweit planieren, dass man nichts mehr erkennen wird als eine leichte Vertiefung irgendwo in dieser roten Wüste. Keinem wird etwas auffallen.«

»Und bei dieser Sprengung wird der gesamte radioaktive Staub aufgewirbelt.«

»Nein, sie werden schön dafür sorgen, dass nichts davon in die Atmosphäre kommt. Vermehrte Radioaktivität würde in den nächsten zwei oder drei Tagen so weit gewandert sein, dass irgendwo ein Messgerät anschlägt. Und damit haben sie die Medien am Hals, die Politik, die Geheimdienste. Nein, sie haben kein Interesse daran, Aufsehen zu erregen. Ihr Werk geschieht im Verbogenen. Sie polieren die Oberfläche und nagen in der Tiefe alles zu Staub, genau wie Holzwürmer, so ist das.«

Der Weg um das Loch herum schien kein Ende zu nehmen. Vielleicht war es die Erschöpfung einer Wüstenwanderung, vielleicht hatte er sich über die Entfernung getäuscht. Jedenfalls war Tony Tanner kurz vor dem Zusammenbruch, als sie endlich das erreichten, was wohl einmal die Wohnsiedung der Arbeiter gewesen sein musste.

Hunderte Männer hatten hier gearbeitet. Neben einer Tür hing ein Plan, aus dem hervor­ging, dass in drei Schichten rund um die Uhr und an sieben Tagen gearbeitet worden war.

»Sie hatten es eilig«, stellte Steele fest.

Für Tony war das nichts Neues. War es nicht genau das gewesen, was ihnen der Conte ein­gebläut hatte? Die Zeit ist knapp, der Gegner steht kurz vor der Verwirklichung seines Planes. Trotzdem war es niederschmetternd, in dieser engen Gasse zwischen den aufgetürmten Wohncontainern zu stehen, die unwillkürlich an eine Straße zwischen Hochhäusern denken ließ und sich das Übermaß an Macht, Berechnung und Entschlossenheit vor Augen zu halten, das diesen Ort erschaffen hatte.

Als sich Tony im Glas eines Fensters gespiegelt sah, erschrak er über den Mann, der mit hängendem Kopf, hängenden Schultern und schlurfendem Schritt das Bild eines todmüden, besiegten Boxers bot. Er straffte sich und schaute sich nach Steele um.

Der war zwischen zwei Containerblöcken verschwunden. Das krachende Geräusch einer eingetretenen Tür führte Tony zu ihm. Steele stand vor einem mannshohen Tresor, aus dem Kabelstränge herausliefen und durch eine Öffnung in der Wand über den Rand des Loches führten.

»Das hier muss es sein«, erklärte Steele. »Hier drinnen ist die gesamte Zündanlage. Zeitautomatik und Energieversorgung. Wir müssen nur die Kabel durchtrennen.«

»Nichts leichter als das«, antwortete Tony Tanner, der neben einem der Kabelstränge knie­te und die metallische Umhüllung prüfte. »Wir brauchen nur so etwas wie ein Spezialschweißgerät. Das hier ist nämlich ein Metallgeflecht.«

Mit einem Fluch ging auch Steele in die Knie und testete persönlich die Leitungsstränge. Sie waren aus irgendeinem Verbundmaterial, in dem ein Metall mit einem Kunststoff einge­arbeitet war. Er biss sich auf die Lippen. Langsam verschwand die kühle Überlegung aus Steeles Bewusstsein und machte einer hilflosen Wut Platz. Er brauchte eine der Baumaschinen. Aber die lagen hinabgestürzt in dem Loch. Vielleicht konnte er eine aufrich­ten, man konnte den Sand wegschaufeln, eine Maschine aufrichten, mit dieser Maschine einen Bagger aufrichten, mit dem Bagger die Kabel durchtrennen. Das ging. Vielleicht. Steele glit­ten diese Überlegungen durch den Kopf und im selben Moment dachte er: Vergiss es, du hast verloren. Das war die Wahrheit, aber er konnte sie nicht akzeptieren. Er klebte an seiner Wut, hilflos zappelnd wie eine Fliege auf dem Leim.

»Wir müssen verschwinden«, hörte er die Stimme Tony Tanners. »Wir können hier nichts mehr tun. Wir sind zu spät. Die Sache ist gegessen.«

»Diese Sache«, brüllte Steele plötzlich aus vollem Halse, »ist ein gottverdammter Hyleg und es könnte der Letzte sein, also ist hier gar nichts gegessen und ich werde nicht akzeptie­ren, dass hier jemand den Defätisten spielt, also …«

Ohne sich weiter um Tony Tanner zu kümmern, stürmte Steele aus dem Container und verschwand. Krachen und Scheppern deuteten darauf hin, dass er nach irgendetwas suchte.

Auch Tony machte sich auf die Suche. Direkt an den Containern begann der Weg, der im Inneren des Lochs in die Tiefe führte. Dort hatte Tony einige Fahrzeuge gesehen. Und die standen brav auf ihren vier Rädern, teils mit offenen Türen, als wären sie dort gerade von den Nutzern geparkt worden. Auf dem Weg kam Tony an der Fabrikationsanlage vorbei. Es war eine Zusammenstellung aus Silos, Sieben, Waschanlagen und Förderbändern. Aus der Entfernung sah die Anlage eindrucksvoll aus. Als er davor stand, sah Tony Pappschildchen an Elektromotoren und Hydraulikventilen hängen. Achtung, vor der ersten Inbetriebnahme unbedingt … las er. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, mit einigen Schaufeln Dreck und einem Sandstrahlgebläse die Anlage optisch auf alt zu trimmen. Aus der Luft sah das sicher­lich auch entsprechend aus. Aber kein Aufklärungsbild hätte die Aufschrift dieser Zettel les­bar machen können. Und nun kam es nicht mehr darauf an. Resigniert ließ Tony den Zettel fahren, den er in der Hand hielt, und schritt weiter.

Schon der erste Versuch war ein Volltreffer. Tony fand einen Hummer mit offener Tür, der Zündschlüssel steckte. Lediglich die Sitzeinstellung ließ Wünsche offen, aber das regu­lierte Tony sehr schnell.

Vorsichtig drehte er den Schlüssel. Er dachte für einen Moment an eine Bombe, die jetzt hochgehen würde, aber das Beben stammte von dem schweren Motor, der vor ihm zum Leben erwachte. Die Nadel des Tankanzeigers kletterte auf F. Trotzdem blieb Tony skeptisch. Das alles war zu einfach. Inzwischen hatte ihn seine Lebenserfahrung gelehrt, misstrauisch zu werden, wenn irgendetwas zu seinen Gunsten verlief. Dann dachte er an den Hubschrauber, dessen Abflug sie noch gesehen hatten. Und nun ergab alles einen Sinn. Die meiste Arbeiter waren schon verschwunden, die letzten brachten die Sprengladungen an oder kontrollierten sie, fuhren so schnell wie möglich zurück an die Oberfläche und rannten zu dem wartenden Hubschrauber. Mit einem Geländewagen, und sei er so schwer wie das ratternde Gerät, in dem Tony gerade saß und im Getriebe nach dem Vorwärtsgang fahndete, konnte keiner die Sprengung verhindern. Mit einem der schweren Bagger vielleicht. Darum lagen die ja auch tief unten im Loch.

Bevor Tony endgültig losfuhr, kam ihn noch ein Gedanke und er stieg noch einmal aus. Als er schließlich hupend zwischen die Container fuhr, war die Rückbank mit Wasserkanistern, Limonadenflaschenstapeln und Proviantpaketen gefüllt, die er aus anderen Wagen eingesammelt hatte. Er hätte auch einen Grill und einige Steaks aus einem kleinen Kühlschrank mitnehmen können, aber das erschien ihm übertrieben.

Als auf sein mehrmaliges Hupen keiner seiner Begleiter auftauchte, stieg Tony aus. Das Geräusch dumpfer Axtschläge klang ihm entgegen, als er zögernd auf den Container mit der Sprengzentrale zuging.

Innen bearbeitete Steele einen Kabelstrang mit einer Axt. Er holte aus, dass die Axt gegen die Decke schlug, riss sie nach unten, dass die schartige Schneide ein schrilles Pfeifen von sich gab und schmetterte das Werkzeug mit fürchterlicher Wucht auf die Kabelumhüllung. Einige Funken sprangen auf, die Axt wurde zurückgeschleudert und die getroffene Stelle sah ebenso aus, als hätte Steele sie mit einem weichen Wischtuch bearbeitet.

Der erste Blick zeigte Tony, dass Steele nicht mehr bei Sinnen war. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Nasenlöcher aufgebläht, das Gesicht verzerrt vor Wut und Anstrengung, die Adern geschwollen wie Schlangen, die sich auf der Haut von Hals und Schläfe festklam­merten.

»Das Taxi ist da«, schrie Tony ihm zu.

Steele reagierte nicht, schien Tony überhaupt nicht zu bemerken. Mit dem Gebrüll eines Berserkers ließ er die Axt auf das Kabel krachen, wieder und wieder und immer wieder völ­lig vergeblich. Er war kein Mensch mehr, sondern eine Maschine, vielmehr ein Mensch, der von einer Maschine besessen ist.

Tony schrie ihn an, versuchte, ihm in den Arm zu fallen und wurde zur Seite geschleudert. Mit dem Mut der Verzweiflung sprang Tony schließlich Steele an. Er packte ihn von hinten, wollte ihn wegziehen von diesem Ort und resignierte im nächsten Moment vor der brutalen Kraft Steeles. Der machte einige Schritte rückwärts, krachte mit Wucht gegen die Wand. Tony fühlte sich, als wäre er zwischen Hammer und Amboss geraten. Trotzdem klammerte er sich noch fester an Steele und versuchte noch einmal, ihn wegzuziehen.

Benevoglios Ring war bei dem Gerangel an Tonys Finger verrutscht, nun wurde er in Steeles Nacken gedrückt. Tony spürte, wie Steeles Körper unvermutet schlaff wurde und zusammensackte. Der Umschwung kam so plötzlich, dass Tony ins Taumeln kam und Steele kaum noch einigermaßen sanft auf den Boden legen konnte.

Der lag keuchend auf dem Rücken und blickte zu Tony Tanner auf.

»Was sollte das bloß?«, murmelte Steele.

Tony Tanner spürte, wie er rot anlief.

»Tut mir sehr leid. Ich wollte nicht unhöflich wirken, aber ich sah keine andere Möglichkeit …«

»Das war doch Schwachsinn«, murmelte Steele, ohne auf Tony zu achten. Er hob den Oberkörper und stützte sich auf die Arme ab. »Das mit der Axt konnte doch nie funktionie­ren, blanker Schwachsinn, das ist ein Spezialmaterial, danach würden sich die Militärs die Finger lecken, eine Kevlarweste ist wie Esspapier dagegegen …

Kopfschüttelnd stand Steele auf. Dann landete seine Hand auf Tonys Schulter, dass der in den Knien einknickte.

»Danke«, sagte Steele knapp, »was war das mit dem Taxi, hab eben nicht so genau drauf geachtet …?«

Tony deutete mit dem Daumen die Richtung an.

Sie einigten sich darauf, dass Steele den Motor prüfen und sich nach weiterem Treibstoff umschauen sollte, während Tony die Suche nach Koala aufnehmen würde.

Wobei Suche zu viel gesagt war. Er brauchte nur dem Gebrüll des alten Häuptlings nach­zugehen, um ihn auf der anderen Seite der Containersiedlung zu finden, wo Koala direkt am Rand des Lochs eines Tanz aufführte, den Speer schwang und aus voller, wenn auch schon ziemlich heiserer Kehle schrie.

Als Tony Tanner näher kam, bemerkte er, dass Koala seinen Speer immer wieder zu Boden stieß und dabei helle Splitter nach oben stoben. Zuerst kam Tony die Idee, der Häuptling zerstöre in einem Anfall von Raserei ein Nandugelege. Aber dann blieb eines der weißen Gebilde an Koalas Speer hängen wurde nach oben und dann, als es sich vom Speer löste, in Richtung Tonys geschleudert. Es war ein gebleichter Totenschädel mit einem kreis­runden Loch im Dach. Tony ließ ihn liegen und strebte auf Koala zu, der ihn jetzt sah und die Intensität seines Geschreis noch steigerte. Mit Gesten forderte er Tony auf, die Schädel, die hier zuhauf lagen und die der Wind aus dem Sand befreit haben musste, zu zertrümmern.

»Die falschen Herren!« rief Koala. »Die Herren der Ameise!« Tony blickte auf das Zerstörungswerk, das Koala mit unverminderter Besessenheit ausführte. Er hatte schon viele Knochentrümmer um sich herum liegen, und die Schädel, die er noch nicht zertrümmert hatte, wiesen alle dasselbe runde Loch im Dach auf.

Tony schaute der Szene einige Momente lang zu. Dann drehte er Benevoglios Ring ein wenig und packte Koala kurzerhand am Nacken. Ein Schlag mit der Linealkante in einen rebellischen Schülernacken hätte keinen schnelleren Erfolg zeitigen können.

Koala sank in sich zusammen und blieb mit hängenden Schultern stehen, bis ihn Tony am Arm fortzog.

Sie fanden Steele damit beschäftigt, die letzten Treibstoffkanister in die Halterungen am Heck zu heben. Der graue Dunst hatte inzwischen das gesamte Loch gefüllt und kroch wie die ersten Wellen einer Flut zwischen die Container. Es war kein Nebel, sondern irgendetwas, das sehr kalt war, das nach kalter Asche roch, das alles Licht aufsaugte und von dem eine erstickende Hoffnungslosigkeit ausging.

»Machen wir, dass wir wegkommen«, sagte Steele. »Wer fährt?«

Die Frage wurde nicht beantwortet, weder von Tony Tanner, der auf den Beifahrersitz gekrochen war, noch von Koala, der auf der Rückbank ein Proviantpaket aufriss.

***

»Die Konstruktion stammt nicht von mir. Ich habe sie verbessert und den modernen Erfordernissen angepasst«, erklärte Troiger mit müder Stimme. »Die erste Version stammt von Alceste de Bellincourt, einem südfranzösischen Alchemisten. Er behauptete, man könne damit den Wegen des Satans nachspüren. Er selbst und seine Werke wurden verbrannt, ich stieß zufälligerweise auf ein Blatt aus der Kopie der Kopie eines seiner Werke.«

Ächzend und knarrend bewegten sich drei tonnenschwere Erzbrocken durch den Raum. Sie waren an Trägern aufgehängt, die an Kranausleger erinnerten. Im Zentrum der Anlage stand ein schweres senkrechtes Rohr, in dem wohl auch der Motor verborgen war, der die Ausleger in Bewegung setzte.

So massiv und zugleich primitiv die Konstruktion auch anmutete, erkannte Dorkas sofort das prekäre Gleichgewicht, in dem die gewaltigen Gewichte waren. Eine Fliege, da war er sich sicher, die sich auf einem der Brocken von den Ausmaßen eines Automobils niederließ, konnte das Gleichgewicht und damit zugleich auch diese seltsame Maschinerie zerstören.

»Wenn die Herren bitte hinter diese Bleiwand treten würden«, flüsterte Troiger.

»Radioaktivität? Sie arbeiten mit radioaktiven Strahlen?«, erkundigte sich Dorkas besorgt.

»Kobalt«, bestätigte Troiger. »Ich konnte es halb illegal, halb mit Beziehungen aus Labors und Arztpraxen beziehen. Aber es hat mit der Zeit meinen Körper zerstört. Die Bleiwand habe ich selbst nie benutzt, sie war nur gedacht für Besucher, ich dachte mir, dass ich vielleicht ein­mal meine Maschine einem anderen Menschen würden zeigen …« Troiger brach ab und wand­te sich einem kleinen Schaltpult zu. Einmal mehr empfing Little die Impulse einer fürchterli­chen Einsamkeit und stellte sich die Frage, wie Troiger ein Leben unter diesen Umständen hatte führen können. Und zugleich wurde Little von einer anderen Erkenntnis erschüttert. Troiger war glücklich, mehr noch, er war selig, denn das Wissen um die Fraternidad hatte die bitteren Jahrzehnte der Einsamkeit in einem Augenblick mit Sinn erfüllt, hatte Disteln in Rosen gewandelt.

»Vorsicht jetzt bitte.« Troiger fingerte an dem improvisiertem Schaltbrett, bestehend aus einer Sperrholzplatte, auf deren einer Seite altertümliche Schalter hingen, während die Rückseite ein Wirrwarr von Drähten zeigte.

Das Licht verlosch, die Maschine knarrte unbeirrt weiter ihre Runden. Dorkas wurde schon unruhig, als plötzlich von drei Stellen blaue Strahlen aufleuchteten. Sie kreuzten den Raum, trafen auf die Erzbrocken, wurden reflektiert und vereinten sich in der Mitte der Anlage in einer Glaspyramide.

»Einen Moment noch.«

Troiger warf klackend einen weiteren Schalter um. Im Zentrum der Anlage zischte etwas, begann dann zu brodeln, Wasserdampf stieg auf und füllte die Pyramide. Nun wurde ein Geflecht von Linien, Adern und Knoten von blauer Farbe erkennbar. Das Muster dehnte sich und zog sich wie atmend dann wieder zusammen und bewegte sich, wie Algen in einer leich­ten Strömung.

»Das sind sie«, flüsterte Dorkas ehrfurchtsvoll. »Ein unglaublicher Geniestreich. Dieses Gerät ist für die Fraternidad unersetzbar. Sie ist ein Geschenk.«

Laut fügte er hinzu: »Sie müssen uns unbedingt in die Geheimnisse dieser Anlage einfüh­ren.«

»Alles, was dazu zu sagen ist, findet sich in meinem Manuskript in meinem Schreibtisch«, gab Troiger mühevoll zur Antwort. Dann wurden seine Atemzüge lauter. »Etwas ändert sich«, krächzte er, »etwas geschieht, sehen Sie doch … was nur … was nur hat uns … uns heute hier­her geführt? Gerade heute …«

Das Muster in der Pyramide zog sich wie unter Krämpfen zusammen, schien dann ausei­nanderzuplatzen und verfiel in hektisches Pulsieren. Neue Linien bildeten sich und verlöschen wieder, Punkte änderten die Farbe, bekamen ein grelles Rot, verschwanden oder wanderten. Das Ganze erweckte den Eindruck eines komplizierten Spieles, bei dem zwei Spieler ihre Züge planten, um die Absichten des Gegners zu durchkreuzen. Dann gefror das Bild mit einem Mal. Es gab keine Bewegung mehr. Gebannt schauten Dorkas und Little auf die Pyramide. Nichts änderte sich und doch spürten sie, dass in dieser scheinbaren Erstarrung gigantische Kräfte Brust an Brust miteinander rangen, dass entscheidende Ereignisse, Siege und Niederlagen, in diesen Augenblicken stattfanden.

Ein kleiner roter Punkt erschien, begann grell zu leuchten, zu pulsieren, andere Punkte und Linien mit seiner Farbe zu überziehen.

»Ein Hyleg«, murmelte Dorkas tonlos.

»Es ist in Australien«, klang die matte Stimme Troigers. »Die Geburt eines Hylegs … was nur hat uns heute hierher geführt, warum teile ich gerade heute … dieses … Geheimnis … mit … Freunden?«

Völlig unerwartet hielt Steele den Wagen an. Eben hatten sie eine Reihe von Sandwellen überwunden und standen nun in einer weiten Senke.

»Was ist los?«, fragte Tony, der aus einem Halbschlaf aufgeschreckt war. Er schaute durch die Windschutzscheibe und erkannte nichts als rötlichen Sand, der von den Strahlen der star­ken Scheinwerfer aus der Dunkelheit gerissen wurde. In den leichten Unebenheiten vor ihnen verbargen sich pechschwarze Schatten wie Strauchdiebe vor einem Überfall.

Ohne eine Antwort stellte Steele den Motor ab und ließ unmittelbar darauf die Scheinwerfer verlöschen. Die plötzliche Dunkelheit wirkte bedrückend. Seit vier Stunden waren sie unterwegs, aber immer noch war der Himmel von grauem Dunst erfüllt, schmeck­te die Luft nach kalter Asche und war die Nacht von einer Kälte und Schwärze, als hätten sich in ihr tausend hoffnungslose Nächte konzentriert.

Steele stieg aus dem Wagen und Tony folgte seinem Beispiel. Er musste sich an dem Wagen entlangtasten. Auf der anderen Seite knirschten Steeles Schritte im Sand.

»Was ist los?«, fragte Tony Tanner ein zweites Mal.

»Ich hab was gehört. Glaube ich zumindest«, antwortete Steele.

»Soll das heißen, dass jetzt …«

»Ja«, bestätigte Steele. »Sie sprengen jetzt …«

Noch während Steele sprach, konnte Tony es selbst hören. Es war ein dumpfes Grollen ähnlich dem Lärmen eines sehr weit entfernten Gewitters. Tony fragte sich, wie weit sie inzwischen von dem Riesenloch entfernt waren – an die fünfzig Kilometer sicherlich – und warum das Krachen der Explosionen dennoch über diese Entfernung hinweg zu ihnen drang. Es mussten gewaltige Sprengladungen sein, die dort gezündet wurden.

»Die Erdbebenwarten werden die Erschütterungen registrieren«, sagte Tony.

»Nicht, wenn nur im Sandboden Explosionen stattfinden.«

Das ferne Dröhnen dauerte an, unerbittlich wie der Trommelwirbel bei einer Hinrichtung. Plötzlich gab es ein Krachen, das schmerzhaft in die Gehörgänge fuhr und einige Herzschläge später warf es Tony Tanner um. Noch während er flach auf den Rücken fiel, hörte er durch das Pfeifen in seinen überstrapazierten Ohren, wie Steeles Hand gegen das Wagenblech schlug, in dem vergeblichen Versuch, einen Halt zu finden.

Es war keine physische Schockwelle, die Tony gefällt hatte, kein Windstoß. Nichts, was auf irgendeine Weise von einem physikalischen Instrument registriert worden wäre. Aber sein Unbewusstes oder sein Nervensystem oder seine Seele, was immer es war, war von diesen Schockwellen getroffen und gelähmt worden. Tony lag hilflos im Sand und konnte nur in den Himmel starren.

Als würde ein Vorhang fortgezogen, verschwand der Dunst und die Sterne erschienen. Aber was war das für ein Sternenhimmel. Tony konnte sich nicht erinnern, jemals im Leben so viele Sterne in solcher Klarheit gesehen zu haben. Es gab nirgendwo genügend Schwärze, um einen Daumen darauf zu platzieren. Überall funkelten, strahlten, gleißten und blinkten die Himmelslichter. Sie schienen erschreckend nah. Hätte Tony den Arm heben können, dann hätte er die Sterne berührt, darüber gab es für ihn keinen Zweifel. Schwer atmend starrte Tony Tanner auf diese Decke aus Gestirnen, die direkt über ihm war, die ihn zu zerquetschen droh­ten wie ein herabgefallenes Mauerstück.

Im nächsten Moment schlug dieses Gefühl um. Aufstöhnend empfand Tony die unendli­che Leere zwischen den Sternen, das schwarze, kalte tödliche Nichts, das zwischen den Lichtern lauerte. Nichts von dem, was seine Augen wahrnahmen, hatte sich geändert. Aber Tonys innere Wahrnehmung hatte sich vollständig gewandelt. Ihm schwindelte angesichts der Leere, die vor seinen Augen lag. Er versuchte, sich von der Vorstellung der unfassbaren Entfernungen zu befreien, die vor seinen Augen lagen, aber sie drängte sich ihm auf wie ein Sirenengeräusch, das nicht abzustellen war. So weit, so unendlich weit, dass man Menschenleben auf Menschenleben wie eine schmale Brücke in diese Unendlichkeit hinaus­schieben könnte, ohne einem dieser Lichter auch nur eine messbare Winzigkeit nähergekom­men zu sein.

Jetzt war sich Tony bewusst, dass er dieselben Empfindungen hatte, wie damals in seiner Kindheit, als er mit seinem Vater den Sternenhimmel betrachtet hatte. Und in diesem Moment spürte Tony Tanner, dass ihn die Erde nicht mehr halten konnte. Der Sternenhimmel war nicht über ihm, sondern unter ihm. Und er, Tony Tanner hing wie eine Fliege an der Decke, gehal­ten von einem schwindenden Restchen an Schwerkraft und er würde im nächsten Augenblick hinabfallen, sich überschlagend, taumelnd, aus vollem Halse brüllend und fallen und fallen und fallen und …

Die Erde war verletzt, sie war krank, sie spuckte die Menschheit aus wie einen bitteren Kern. Bald würden überall die Menschen anfangen zu schweben, nein, sie würden nach oben fallen, in den Himmel stürzen und mit ihnen ihre Maschinen und ihre Städte und …

Mit äußerster Kraftanstrengung gelang es Tony, seine Hände in den Sand zu graben. Der Sand war so weit von seinen Fingerspitzen weg, Tony war schon ein kleines Stück ins Nichts gefallen, aber er klammerte sich fest und spürte doch, wie das Nichts an ihm riss und zerrte, wie es ihn einsog, wie es die Schwerkraft entfaltete, die die geschwächte Erde ihren Geschöpfen nicht mehr geben konnte.

Tony verbrachte die Nacht in einer Starre, aus der ihn in den ersten Sonnenstrahlen des Morgens Häuptling Koala weckte. Tony hörte seine Schritte und die bekannte Stimme: »Steh auf, Käsearsch, du kannst nicht die ganze Zeit hier faul im Sand liegen!«

Tony brachte einen Arm hoch und wurde von Koala mit Schwung in die Senkrechte gebracht. Seine Beine versagten den Dienst, er musste sich schwer auf den Wagen stützen. Koala beobachtet Tony mit schräg gelegtem Kopf.

»Schlechte Nacht gehabt?«, fragte er grinsend.

»Kann mich an bessere erinnern«, bemühte sich Tony um eine gelassene Antwort, wäh­rend für winzige Sekundenbruchteile Namen wie Francine und Lucille durch sein Gehirn blitzten. Für die nächste Zeit war er dann völlig damit beschäftigt, seine zitternden Knie wie­der in Funktion zu setzen. Während dessen fragte er sich, was nun geschehen sollte.

Koala schien Tonys Gedanken gelesen zu haben.

»Die Ahnen haben in dieser Nacht zu mir gesprochen«, sagte er.

»Keine schlechte Idee. Wo wir uns vielleicht demnächst bei denen versammeln werden.«

»Sie sagten mir, dass dort, wo der Druck wächst auch der Widerstand wächst. Noch ist nichts verloren. Die grüne Ameise ist noch nicht ans Licht gekommen. Je näher die Entscheidung rückt, desto mehr Menschen werden aus dem Schlaf erwachen und sich gemeinsam dem Feind stellen. Er hat noch nicht gewonnen, wir haben noch nicht verloren. So ist das.«

Koala trat näher an Tony heran und hob einen kleinen schlüsselartigen Gegenstand, der an einem geflochtenen Band hing.

»Du bist zwar ein Käsearsch und manchmal ziemlich vorlaut«, sagte er zu Tony, »aber abgesehen davon bist du nicht mal übel. Nimm dieses Geschenk von mir. Es soll ein Talisman für dich sein.«

Mit einer Mischung aus Rührung, Befangenheit und Erstaunen ließ sich Tony von dem alten Häuptling das Band mit dem Anhänger um den Hals legen.

»Ich habe diesen Gegenstand von meinem Großvater und der hatte ihn von seinen Vorvätern. Keiner weiß, welche Bedeutung er früher einmal gehabt hat. Wir nennen ihn Pitspitsara, das bedeutet in eurer Sprache das, was die Quelle öffnet. Ich habe das Gefühl, Du kannst dieses Ding besser brauchen als ich.«

Hinter einer Düne tauchte Steele, einen Klappspaten in der Hand, auf.

»Eines muss man den sanitären Anlagen hier lassen«, sagt er, als er neben Tony stand, »sie sind großzügig geplant und es gibt kein Gedränge.«

Unterdessen wühlte Koala in den Proviantpaketen auf der Rückbank, zerriss den Sitzbezug und improvisierte sich eine Tragehilfe, in der er mehrere Wasserflaschen und eini­ge Tüten mit Nahrungskonzentrat unterbrachte. Die anderen beiden schauten ihm schweigend und ein wenig erstaunt zu.

»Du willst doch nicht etwa gehen?«, fragte Steele, um sich zu vergewissern.

»Ich will nicht nur. Ich werde«, gab Koala zurück. »Ich wünsche euch beiden Käseärschen alles Gute und viel Glück.«

»Nun wollen wir doch nicht gleich sentimental werden«, grinste Steele.

»Man sieht sich«, nickte Koala Tony zu und dann wandte er sich ab und stieg langsam die Flanke einer Düne hoch. Der leichte Wind verwehte seine Spuren, bevor Koala außer Sicht geraten war.

»Ich werde diesen alten Rassisten vermissen«, erklärte Steele und schob sich auf den Fahrersitz. »Und jetzt los, einmal im Leben wollte ich schon immer in Alice Springs unter der Dusche stehen!«

***

Troigers Atem kam nur noch stoßweise. Dorkas war ihm zu Hilfe geeilt, aber auch er sah, dass das Leben des alten Mannes floh.

Little bekam davon anfangs nur wenig mit. Er starrte auf die Lichterscheinungen des unterirdischen Apparats. Er erkannte Muster und war sich ganz sicher, Dorkas und Troiger sogleich genauen Bericht geben zu können, dann aber verflog das Bild, dem er sich so nah geglaubt hatte, und er wusste gar nichts mehr. Das machte ihn wütend und traurig zugleich, lähmte seinen Körper und stachelte sein Gehirn zu größerer Konzentration an.

In der Ferne entstand nun ein dumpfes Geräusch. Little war sich sicher, dass es sich um ein Erdbeben handelte. Gleichzeitig staunte er, wie wenig ihn das ängstigte. Angesichts der schwingenden Maschine, der Unwirklichkeit der unterirdischen Anlage und des vertrauten Dorkas, der wie eine massige Madonna am Boden kniete und den greisen Kopf des sterben­den alten Mannes auf seinen Schoß gebettet hatte, stellte Little fest, dass es ihm wirklich völ­lig egal war, ob die Welt jetzt in diesem Moment untergehen würde.

Mit dieser Erkenntnis fiel die Starre, die ihn wie ein Gipsverband umgeben hatte, von ihm ab. Von einen auf den anderen Moment fühlte er sich leicht und sogar heiter, spürte, wie er mit den Abläufen der Natur und des Weltballs verbunden war, wie er dazugehörte. Little, Teil eines gigantischen Systems aus Werden und Vergehen.

Little spürte, dass sich eine Schlange näherte. Sie schoss heran. Sie strahlte grün und weiß. Sie wühlte sich durch die Erde, durchschweißte jeden Widerstand, raste beständig und unbe­irrt heran, kam immer näher, begleitet von einem immer deutlicher werdenden Wummern, das in den Ohren schmerzte. Fasziniert beobachtete Little das Ungetüm mit seinem inneren Auge. Die Schlange war armdick. Sie war unglaublich schnell. Sie peitschte sich durch das flüssige Erdinnere, nahm dann eine ganz leicht bogenförmige Bahn.

Als Little die Augen hob, sah er das Abbild der Schlange als purpurnen Strahl, der das System von Troigers Maschine durchschoss. Ein Hyleg war entstanden, Little dachte in Lichtgeschwindigkeit, irgendwo war ein Hyleg entstanden, und seine logische Verbindung zu den anderen Hylegs entstand mit ihm. Diese Bahn war die Schlange, die er sah. Schon war er in Bewegung.

Schon legte sich sein Oberkörper schräg, schon rannten seine Beine unter ihm los, öffne­ten sich seine Arme wie eine Greifzange, schon stolperte er auf Dorkas zu, als seinem Gehirn bewusst wurde, dass die Schlange auf sie zuraste.

In einem letzten Hechtsprung flog Little auf Dorkas zu, umhalste ihn und riss ihn mit sich fort. Längelang stürzten die Männer auf den schmutzigen Boden des Ganges. Da war die glü­hende Schlange schon heran und vorbei, ein gleißender Lichtblitz, der aus der einen Wand austrat und in der gegenüberliegenden verschwand.

Was von Troiger übrig blieb, war nur etwas Asche. Kein Geruch, kein Ekel. Dorkas und Little rappelten sich hoch. Langsam gewannen die beiden Männer ihr Sehvermögen zurück.

»Wo ist … er war doch …?« Dorkas war zutiefst erschüttert. Irgendwann, das war ihm klar, würde der Tod auch seinen Weg kreuzen. Er hatte sich diesen Moment aber ganz anders vor­gestellt. Er wollte im Bett sterben, wohl behütet von einer wärmenden Decke und auf einem sauberen, weißen Kopfkissen. Von Lichtblitzen fern der Heimat in einer Heidelberger Höhle zerfetzt zu werden, das hasste im Moment er so abgrundtief, dass er sogar die Andeutung eines Kreuzzeichens fertigbrachte, so ratlos war er. Und wieder fragte er nach Troiger.

»Ich fürchte, dass der Strahl ihn …, ich musste Sie wegreißen, aber er blieb im Weg des Strahls …« erklärte Little.

»Sie meinen …?« Dorkas suchte mit den Augen die Stelle, wo er mit Troiger gekniet hatte, aber außer einer tiefschwarzen Brandspur und verglast glitzernden Stellen war dort nichts zu sehen.

»Wir haben es mit starken Kräften zu tun!« sagte Little selbstsicher. »Doch wenn wir dem guten Conte glauben können, dann fordern diese Kräfte auch wieder andere Kräfte heraus. Es kann gut sein, dass dieses Ereignis auch unsere Seite weiter erstarken lässt?«

»Da haben Sie womöglich recht!« antwortete Dorkas nach einer Weile. »Helfen Sie mir hoch. Wir müssen uns einen Ausgang suchen.«

Little half dem fetten Mann auf die Beine. Dann stiefelten sie los. Little wusste genau, wie er Dorkas zu führen hatte, obwohl er noch nie hier gewesen war. Ein diabolisches Zucken enstand um seinen Mund. Dorkas trabte brav mit aufgerichtetem Oberkörper hinter ihm her. In seinen Augen blitzte etwas wie Kampfeslust und Siegesgewissheit.

Ende des 7. Bandes