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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 7.2

Die Hyleg-Schädel – Teil 2

Obwohl Tony zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit erschien, saßen die beiden Schwestern schon an einem Tisch im hinteren Teil des Saales. Dort hätte Tony sie kaum so schnell entdeckt, aber Frauchen winkte ihm derart ekstatisch zu, dass er aufmerksam wurde und beschleunigten Schrittes auf sie zuging. Unterwegs stellte er fest, dass dies einer der bes­ten Tische des Saales war, dass die Damen also entweder Beziehungen hatten oder Stammkundinnen waren. Wichtiger war die Entdeckung, dass der Köter bei diesem Abendessen nicht anwesend war. Sein Frauchen erleichterte Tony die Entscheidung, ob Handkuss oder Händeschütteln oder keines von beiden angebracht sei, indem sie halb aufstand und ihm ihre Rechte in Kinnhöhe entgegenschmetterte, was Tony nur entweder als Versuch eines KO-Schlages oder als Aufforderung zum Handkuss interpretieren konnte. Er wählte die zweite Variante und vollführte die ritterliche Höflichkeitsgeste in Vollendung. Nicci ließ sich nur zu einem geschäftsmäßigen, kurz aufflackernden Lächeln und einem kur­zen Kopfnicken herab.

»Sie kosten mich zwei Flaschen 68er Veuve Cliqot brut«, sagte sie anstelle einer Begrüßung, während ihre Schwester neckisch hinter vorgehaltener Hand kicherte.

Frauchen – die sich kurz danach als Elisetta Bandonni vorstellte – hatte optisch gegenüber dem frühen Abend zugelegt. Nach dem Motto Weniger ist mehr – mehr oder weniger ver­zichtete sie auf das Schminkeschutzschild, betonte ihre Vorzüge, von denen sie mit ihren gro­ßen Augen und einem hübsch geschwungenen Mund durchaus einige besaß, und hüllte die hagere Figur geschickt in ein festlich-romantisches Abendkleid, bei dem Spitzenbesatz und Rüschen jene angenehme Fülle vortäuschten, die die Trägerin nicht mehr besaß.

Tony registrierte einen Laura-Ashley-Anklang und musste sich eingestehen, dass auch Francine ihre wesentlich ansehnlicheren Kurven gerne in ein solches Kleid verpackt hätte. Das war Francines Stil. Der Gedanke brachte Tony einen bitteren Geschmack auf die Zunge.

 

Nicci, sie hieß Nicoletta di Gregoris, wie Tony bald erfuhr, schien innerhalb von zwei Stunden zu einem anderen Typ geworden zu sein. Dunkelrot geschminkte Lippen bildeten einen aufregenden Gegensatz zu ihrem weißen Haar, ein unauffälliger, aber geschickter Einsatz des Schminkstiftes betonte ihre Augen. Sie sah durch ihr Make-up keinen Tag jünger aus – Tony hatte sich inzwischen (unter der Dusche kommt ein Mann ja auf die seltsamsten Gedanken) ausgerechnet, dass sie vom Alter her fast seine Mutter sein konnte – aber auf eine beunruhigende Art faszinierend. Nicoletta di Gregoris trug einen gestreiften Anzug von männ­lichem Zuschnitt. Allein ihre weiße, hochgeschlossene Bluse hatte über dem Ansatz der Brüste einen Ausschnitt, der jedem Betrachter den optimalen Erhaltungszustand der darunter befindlichen Körperregion wenn auch nicht bewies, so doch, im Sinne des Wortes, offenbar machte.

Tony war froh, dass die Sitzordnung Nicoletta zu seiner Linken platzierte. Ansonsten hätte es Arbeit bedeutet, seine Blicke unter Kontrolle zu halten. Er setzte sich und schaute zuerst Nicoletta und dann die immer noch kichernde Elisetta fragend an.

»Erfreulich, wenn mein Erscheinen mit bestem Champagner aufgewogen wird, allerdings stelle ich bei mir eine gewisse Unkenntnis des Anlasses fest.«

Elisetta brauchte schon die zweite Hand, um ihr Kichern zu verbergen, machte aber keine Anstalten, eine Antwort zu geben.

Nicci winkte dem Ober – eine knappe, ziemlich herrische Geste, wie Tony registrierte, und jetzt fielen ihm auch erst die dunkelrot lackierten Fingernägel auf.

»Eine Wette«, erklärte sie knapp.

»Nicci war sicher, dass Sie in karierter Hose, Pullover und Tweedjacke erscheinen wür­den«, prustete Elisetta los. Ihr Kopf war von dem ständigen Kichern schon rot angelaufen, so war dieser Satz wie das Auslösen eines Überdruckventiles.

Diese Situation war nur noch mit Sarkasmus zu retten.

»Ich hoffe, Sie haben auch auf Lederflicken am Jackett gewettet?«, fragte Tony harmlos.

»Damit hätten Sie selbst meine Erwartungen übertroffen«, antwortete Nicoletta gelassen, dabei strich sie sorgfältig und behutsam eine Falte im Tischtuch glatt. Es war eine jener Gesten, bei denen auch dem neutralsten Beobachter die Nackenhaare kribbeln.

»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe.«

»Nicht enttäuscht, überrascht«, erwiderte Nicci leise. Zusammen mit ihrer Stimme kam ein Hauch ihres schweren orientalischen Parfüms in Tonys Nähe.

»Im Normalfall bin ich nicht für Überraschungen zuständig – berechenbar bis in die Haarspitzen.«

»Oh, ich lasse mich gerne überraschen«, antwortete Nicci. Sie sprach so leise, dass ihre Stimme fast in dem Stimmensummen und Geschirrklappern des Speisesaales unterging, und glättete versonnen mit ihrer schlanken Hand mit den dunkelroten Fingernägeln das Tischtuch vor ihrem Platz. Sie schaute Tony nicht an und er war dankbar darum.

Elisetta schien die Situation als normal zu empfinden. Tony hingegen sandte einen Dank zum Himmel, als in diesem Moment ein Ober mit den Karten an den Tisch trat.

So konnte er, ohne unhöflich zu wirken, das Speiseangebot in aller Ausführlichkeit studie­ren und gleichzeitig versuchen, sich mit der Situation zurechtzufinden.

 

Die Speisekarte bestätigte einmal mehr den positiven Eindruck, den das Savoia auf Tony machte. Das Angebot beschränkte sich auf wenige internationale Standardgerichte und wurde durch einige regionale Spezialitäten ergänzt. Die Küche beschränkte sich auf das, was sie konnte und versuchte nicht, Feuerwerke abzubrennen, die dann auf der Zunge des Genießers verpufften. Aber hier hatte Tony eine Möglichkeit, das Gespräch in die Richtung zu lenken, die er für wünschenswert hielt.

Er senkte die Speisekarte.

»Können Sie mir vielleicht bei der Auswahl behilflich sein?«, fragte Tony seine beiden Tischdamen.

Nicoletta warf ihm nur einen Blick zu, etwas spöttisch, als hätte sie Tonys taktischen Winkelzug durchschaut. Dagegen fand Elisetta Gelegenheit, ihre sämtlichen Kenntnisse und Erfahrungen auf dem besagten Gebiet auszubreiten.

Während sie sich noch über die richtige Zubereitungsart von Lamm ausließ, nahmen Lucille Chaudieu und Steele an einem benachbarten Tisch Platz.

Lucille dreht Tony ostentativ den Rücken zu, dagegen rückte Steele seinen Stuhl so zurecht, dass er mit Tony Augenkontakt halten konnte. Für einen Moment stieg in Tony Tanner Ärger auf. Das hier war sein ganz persönliches Revier und er brauchte keine Aufsicht, niemanden, der ihn überwachte oder ihm zu Hilfe eilte, falls er Marmelade mit dem Fischmesser verstreichen wollte.

Im Laufe des Abends überkam Tony immer mehr das Gefühl, er müsste zwei völlig wider­sprüchliche Welten mit seiner Person verklammern.

Da war zum einen die unterhaltsame Elisetta, mitteilsam bis an die Grenze der Geschwätzigkeit und darüber hinaus. Bei ihr brauchte Tony nur ein Interesse an einem Gegenstand anzudeuten und schon plauderte sie alles aus, was sie über das betreffende Thema zu sagen hatte. Noch bevor die Vorspeise serviert wurde, hatte er alles erfahren, was er wis­sen wollte – und noch eine ganze Menge mehr. Hier verbuchte Tony einen Erfolg für sich, und der Abend war angesichts eines solchen Erfolges äußerst angenehm.

Auf der anderen Seite schien ihm Nicoletta mehr als anstrengend. Nicht dass sie unfreund­lich, abweisend oder schweigsam gewesen wäre oder im Gegenteil den Eindruck erweckt hätte, sie wollte ihm den Kopf verdrehen. Nichts davon traf zu und trotzdem wurde Tony den Eindruck nicht los, dass sie ihn auf eine ganz stille und kaum merkliche Art auf die Probe stellte.

So konnte sie eine Anekdote erzählen, die Tony wiederum zu einer Bemerkung veranlass­te. Und kaum war sein letztes Wort über die Lippen gekommen, da übermannte ihn das Gefühl, etwas von sich preisgegeben zu haben, etwas geradezu Intimes, das niemand anders und erst recht nicht solche flüchtigen Bekanntschaften, zu wissen brauchten. Es waren keines­wegs Geheimnisse oder persönliche Einzelheiten, die er aussprach. Aber Nicoletta erweckte den Eindruck, als könnte sie aus allem, was Tony sagte, irgendein Wissen keltern, das ihm selbst noch nicht völlig bewusst war. Schon die Art, in der Nicoletta ihn immer wieder prü­fend anschaute und manchmal kaum merklich die Mundwinkel zu einem Lächeln verzog, von dem Tony nicht sagen konnte, ob es amüsiert oder verächtlich sein mochte …

 

Dann ließ sie irgendeine harmlose Bemerkung ins Gespräch einfließen, ihre Schwester, immer zu einem Duell bereit, sprang darauf an wie ein Jagdhund und dann fragte Nicoletta harmlos: »Und was sagen Sie dazu?« Und schon hatte Tony einen Satz später die Gewissheit, in eine bereitgestellte Falle getappt zu sein. Und er fragte sich, woher diese Gewissheit kam und ob Nicoletta di Gregoris lediglich die Fähigkeit hatte, durch ihre zugleich zurückhalten­de und doch dominierende Art solche Unsicherheit in ihren Gesprächspartnern hervorzurufen.

Elisetta war in der Lage, größere Mengen an Nahrungsmitteln in erstaunlich kurzer Zeit zu vertilgen, wobei sie auch noch Pausen einlegte, um zu reden. Nicoletta aß dagegen lang­sam und sehr bedächtig, nahm immer nur kleine Bissen und Tony kam sich bald vor, wie einer dieser kleinen Häppchen, der sorgfältig zerkaut wurde.

Kurz vor dem Hauptgang konnte sich Tony schon als Experte für Elisetta Bandonnis Leben und Wirken einstufen. Ihr Mitteilungsbedürfnis hatte etwas Lawinenartiges an sich. Nicoletta hielt sich im Gegensatz dazu völlig zurück. Über sie konnte Tony bestenfalls Schlüsse ziehen und Vermutungen anstellen, versuchen, sich aus ihren Bemerkungen und Anekdoten ein Bild zu machen. Das wurde für ihn bald zu einem wütenden Bedürfnis, einer Art von Abwehr gegen ihre katzenhafte Spielerei, bei der er die Maus darzustellen hatte.

Tony war gerade an dem Punkt angelangt, an dem er sich das Scheitern seiner Gegenattacke eingestehen musste, als ein älterer Herr an den Tisch trat und ein Strahlen über Elisettas Gesicht lief.

»Welch ein passender Zufall«, rief sie emphatisch aus. »Herr Tanner, darf ich Ihnen mei­nen Freund Cecilio Demonti vorstellen?«

***

»Ob die beiden was miteinander haben?«, fragte Steele.

»Wer?« Tony war nicht ganz bei der Sache.

»Dieser Ex-Bürgermeister und der Igelkopf.«

Es war der späte Vormittag des nächsten Tages. Tony und Steele gingen die Uferstraße entlang, die die Bucht von Loreta säumte. Die Altstadt lag schon hinter ihnen, das Hotel war auf Daumennagelgröße geschrumpft. Von hier aus wirkten die Bauten auf den Hängen über der Stadt noch bedrohlicher, als würde man das Standfoto einer niederstürzenden Lawine betrachten.

In der Nacht hatte es heftig geregnet, jetzt lag leichter Niesel in der Luft, der manchmal von heftigen Böen waagerecht über die Bucht gepeitscht wurde. Die wenigen Segelboote, die in der Bucht ankerten, hüpften über kurze steile Wellen. Steele betrachtete die Boote mit offensichtlichem Interesse.

»Diese Wellen«, sagte er dann – die nächste Böe riss seine Worte mit und machte es Tony schwer, ihn zu verstehen, »zu flaches Wasser, eine Strömung vor der Küste, der Wind … sieht gut aus hier, ist aber unbrauchbar. Da vorn ist auch eine Barre, weniger als zwei Meter Tiefe dort. Man kann deutlich den Streifen sehen, wo sich die ersten Wellen aufbäumen.«

»Aber Loreta war doch mal ein Piratennest, bis ins letzte Jahrhundert. Ich musste mir ges­tern einige blutrünstige Geschichten anhören.«

»Die Damen kennen sich aus, was? Zumindest diese blondierte. Hat aber nichts zu sagen, ich meine die Sache mit dem Piratennest. Die Schiffe hatten eben nicht so viel Tiefgang. Hier an der Küste reichten große Ruderboote, um einen schwer beladenen Kauffahrer zu plündern.

Außerdem gab es genügend Mannschaften. Man konnte links und rechts an die eigenen Schiffe Fässer oder Pontons binden und sie dann über die Barre ziehen. Hier in der Bucht waren sie dann so gut wie unangreifbar.«

 

Steele legte den Kopf in den Nacken und warf einen Blick über die Hänge. Tony wusste, dass sein Begleiter jetzt über Verteidigungspositionen nachdachte.

»Der Ort ist von Land her erobert worden. Allerdings nur durch Verrat.«

Der Begriff Verrat rief Tony Steeles Frage wieder ins Gedächtnis. Er blieb stehen und schaute die steile Böschung hinunter, die von der Uferstraße aus zum Wasser abfiel. Es moch­ten etwa zehn Meter sein, sehr steile Meter, auch dies war sicherlich ein Grund, warum in der Bucht von Loreta nie ein florierender Hafen entstehen konnte. Fast direkt unter ihm klatsch­ten die Wellen gegen den Fels und sandten Explosionen von gelblichem Schaum in die Höhe.

Tony schauderte, obwohl die Luft von klebriger Wärme erfüllt war. Er fühlte sich alles andere als gut. Die letzte Nacht war unruhig gewesen, Lucille hatte ihn beim gemeinsamen Frühstück geflissentlich übersehen und war dann wegen Unpässlichkeit in ihr Zimmer zurückgegangen. Steele knurrte dazu nur: Wenn es wirklich eine Emanzipation gäbe, dann dürften auch Männer ihre Tage haben.

Neben der Sache mit Lucille, die Tonys Gefühlshaushalt unerfreulich durcheinanderbrachte, belastete ihn etwas anderes. Tony hatte sich in den Jahren, in denen er viel Zeit auf Reisen zubrachte, ein System angeeignet, das es ihm erleichterte, sich in den fremden Hotelzimmern zurechtzufinden. Ob er sich nun in Melbourne, Caracas oder Johannesburg befand, immer hingen seine Anzüge und Hemden in derselben Reihenfolge, standen die Schuhe in der immer gleichen Ordnung und herrschte im Bad unter den diversen Fläschchen und Tuben eine ausgeklügelte Hierarchie. Heute früh aber, als Tony schlaftrunken nach einer dieser Tuben griff, stießen seine Fingernägel an ein Fläschchen. Der Vorfall reichte aus, um ihn vollends wach zu machen. Die Badezimmerordnung war tatsächlich durcheinander, eine winzige Änderung, aber eine Änderung.

Tony war sicher, dass er die Gegenstände in der gewohnten Reihenfolge aufgestellt hatte. Das bedeutete aber, dass sich jemand in seinem Zimmer zu schaffen gemacht hatte. Aber konnte Tony sich wirklich sicher sein? Nein, sagte er sich selbst, er konnte es nicht, es war natürlich möglich, dass er nach einer anstrengenden Fahrt seinen Kram etwas anders platziert hatte als in den tausend anderen Fällen zuvor.

Die Überlegung beruhigte ihn, aber ein Rest von pochender Unsicherheit blieb dennoch.

»Ich weiß es nicht«, sagte Tony und antwortete damit auf die Eingangsfrage Steeles.

»Mhm«, Steele verzog unzufrieden den Mund und stapfte einige Schritte gebeugt gegen eine Böe an. »Ich hatte den Eindruck. Ich meine die Art, wie sie ihn angesehen hat, ihr gan­zes Verhalten. Entweder sie haben es miteinander getrieben oder sie tun es noch. Sie ist in ihrer Art ja auch eine höllisch scharfe Nummer.«

Dem konnte Tony zwar nur beipflichten, trotzdem widersprach er.

»Ich würde mich an der Sache nicht festbeißen. Diese Nicoletta hat so eine Art …«

»Zumindest ist sie nicht der Typ, der auf dem Felsen sitzt und sich das lange blonde Haar kämmt«, griente Steele.

»Schlimmer«, antwortete Tony ohne eine Spur von Ironie. »Sie kann den Eindruck erwe­cken, als wüsste sie Dinge über dich, die du selbst nicht weißt. Sie guckt dich an und schon fallen dir alle deine schmutzigen Geheimnisse ein. Wie soll ich das ausdrücken …«

Tony suchte nach den passenden Worten. Vor dem Hotel wurde ein heller Fleck sichtbar, der sich schnell näherte.

»… ja, tatsächlich, sie erweckt den Eindruck, als ob sie mit jemandem geschlafen hätte und dieser jemand hätte dann im Schlaf geredet … äh …«

»Ich verstehe schon«, sagte Steele.

 

Bei dem hellen Fleck handelte es sich um den Kopf von Nicoletta di Gregoris, die sich trotz des wenig einladenden Wetters auf ihrer Jogging-Runde befand. Sie trug ein flatterndes Sweatshirt und eng anliegende Hosen. Bei diesem Anblick war sich Tony sicher, dass Nicoletta auch Ballettübungen machte. Sie lief mit schnellen, raumgreifenden Schritten, die ebenso herrisch wirkten wie manche ihrer Gesten. Tony schaute ihr entgegen und fragte sich, ob er sie in diesem Moment eher unter huschendes Reh oder hetzender Löwe einordnen sollte. Auf jeden Fall bot sie einen hübschen Anblick.

Wenn sie das Tempo durchhielt, berechnete Steele, machte sie die Marathondistanz in knapp über drei Stunden. Nicoletta sauste an ihnen vorbei, grüßte mit einem kaum merklichen Kopfnicken, als wären sie und Tony sich gänzlich fremd.

»Tolle Beine, tolle Hüften, die Frau hat was«, kommentierte Steele, als Nicoletta außer Hörweite war. Der Anblick des wohl gerundeten Hinterteiles erweckte bei Steele allerdings keine Gelüste, sondern einen leisen Verdacht. Sollte diese extrem kultivierte Dame etwa einen Kampfsport betreiben?

»Allerdings«, bestätigte Tony. »Und ob die was hat! Jedenfalls mehr als gut ist.«

»Was ist sie überhaupt für eine Sorte«, wollte Steele wissen.

Tony zuckte die Achseln und schaute hinter der schwindenden Nicoletta her. Die Sohlen ihrer Laufschuhe leuchteten durch den trüben Niesel wie eine Folge von Warnsignalen. Tony war über den knappen, unpersönlichen Gruß etwas verärgert. Zugleich ärgerte es ihn, dass er verärgert war. Himmel noch mal, er wollte doch, bitte schön, nichts von dieser Frau. Ausrufungszeichen. Und noch ein Ausrufungszeichen. Trotzdem, die Feststellung Steeles die hat was, traf zu. Tony vermochte sich nicht zu erklären, was es war, auch wenn ihm in die­sem Zusammenhang stets ein Spinnennetz in den Sinn kam.

»Sie ist ein Miststück«, entfuhr es Tony, mit mehr Temperament als nötig gewesen wäre.

Tony starrte weiterhin verbissen nach vorne, bemerkte aber am Rascheln des Kragens, dass Steele den Kopf drehte, um ihn genauer anzuschauen.

»Dass sie eine Frau ist, habe ich optisch schon erfasst«, antwortete Steele gelassen. »Aber was gibt es sonst über sie zu berichten?«

»Warum ist sie von Interesse?« »Weil sie genau der Typ ist, hinter dem mehr steckt als man glaubt. So was wittere ich.« »Dann hat sie auf jeden Fall keine Ambitionen, dass jemand von ihren verborgenen Qualitäten Kenntnis nimmt«, sagte Tony. »Über ihre Schwester könnte ich seit gestern Abend eine Biografie schreiben. Aber die hier – sie scheint mal in der staatlichen Kulturverwaltung gearbeitet zu haben oder jedenfalls … sie hat mal was mit Museen in Florenz gemacht, das ist alles, was ich weiß und das hat Elisetta verkündet, nicht Nicoletta selbst.«

»Verheiratet?«

»Keine Ahnung, trägt jedenfalls keinen Ring. Mm, der Typ, mit dem sie zusammen sein könnte, würde mich schon interessieren. Müsste so eine Mischung aus Genie und Kannibale sein, wenn er sie halten will. Oder eine Molluske als Pantoffelheld. »

»Kinder?«

»Nein, da bin ich sicher. Ihre Schwester übrigens auch nicht. Sie redete von irgendwel­chen Verwandten, die sie fördern würde, damit scheint sich zumindest Signora Bandonni aus­zutoben.«

»Da die beiden Schwestern verschiedene Nachnamen haben, muss wohl eine verheiratet gewesen sein«, schloss Steele messerscharf.

»Und wie, die Bandonni war drei Mal verheiratet und hat sich auf die Art ein ziemliches Vermögen ererbt.«

»Was macht sie damit?«

»Schickt Verwandte auf Eliteschulen, hält sich eine Wohnung in Mailand, eine in Rom …«

»Fromm?«, unterbrach Steele Tonys Ausführungen.

»Normal, wie es sich in Italien gehört. Ansonsten macht sie auf Kulturtourismus.«

»Und warum hält sie sich dann in diesem Kaff auf? Kultur ist doch hier nur der Ölschin­ken mit der nackten Zigeunerin über dem Wohnzimmersofa.«

Die Frage stellte sich Tony Tanner allerdings auch.

»Ich glaube, sie mag dieses Hotel«, versuchte er sich an einer Antwort. »Es kann aber auch sein, dass sie einfach wegen ihrer Schwester hier ist.«

»Die beiden sind nicht immer zusammen?«

»Um ehrlich zu sein, ich habe den Eindruck, dass die beiden manchmal wie Hund und Katze sind. Trotzdem scheinen sie für den größten Teil des Jahres zusammen zu sein.«

 

Schweigend gingen die beiden Männer weiter. Tony wurde bewusst, wie wenig er in Wahrheit am gestrigen Abend herausgefunden hatte. Gut, er wusste nun eine Menge über die Bewohner des Hotels und konnte auch die negativen Eigenschaften der drei verstorbenen Ehemänner, Gott hab sie selig!, der Elisetta sowie ihre wenigen Verdienste herleiern. Und trotzdem hatte er nun das Gefühl, durch eine Tür in einen Raum voller Türen getreten zu sein. Selbst eine Person wie Elisetta Bandonni, die für Tony Tanner so etwas wie der Idealtypus der Banalität darstellte, schien um so geheimnisvoller zu werden, je mehr man sich ihr näherte.

Die Straße, an der sie gingen, war als zweispurige Asphaltstraße ausgebaut. Sie ver­schwand in einem Tunnel, der die vorspringende Felsrippe durchstieß, mit der die Bucht auf der Südseite abschloss. Es herrschte zwar wenig Verkehr, dennoch wirkte der unbeleuchtete Tunnel für Fußgänger nicht gerade einladend.

»Wohin ist die Dame verschwunden?«, fragte Steele und meinte damit die joggende Nicoletta di Gregoris. Er wusste es ebenso wenig wie Tony. Entweder sie hatte es riskiert, durch den Tunnel zu laufen oder sie kannte irgendwelche Schleichpfade den Hang hinauf und besaß genügend Kondition, diese Steigung auch zu bewältigen.

Mit zusammengekniffenen Augen suchte Steele die Hügelflanke ab. Außer Gras, Felsblöcken und Baumgruppen war nichts zu entdecken.

»Sie scheint sich sehr gut auszukennen«, zog Steele das Resümee. Sein Tonfall zeigte Tony, dass er damit mehr meinte, als er sagte.

»Was ist mit diesem Cecilio Demonti?«

»Was soll mit ihm sein?«, Tony konnte mit der Frage wenig anfangen. »Wir sehen ihn doch morgen Abend.«

»Trotzdem würde ich gerne wissen, welchen Eindruck er gemacht hat«, forschte Steele beharrlich weiter.

Damit stellte er Tony Tanner vor ein Problem. Cecilio Demonti war für ihn und die ande­ren die wichtigste Person in Loreta, der Ansatzpunkt all ihrer Nachforschungen. Aber Tony hatte gegenüber Cecilio Demonti seit der ersten Sekunde ihrer Begegnung eine heftige Abneigung verspürt.

»Er ist link«, fasste Tony seine Beurteilung Demontis zusammen. »Ein ganz linker Vogel. Dem würde ich nicht von Jetzt auf Gleich trauen.«

»Keine guten Voraussetzungen, wenn man den Mann als Informanten nutzen will.«

»Ist aber so.«

Tony versuchte, sich die erste Begegnung mit Demonti noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Er hatte bis jetzt nicht herausgefunden, ob das Erscheinen des Ex-Bürgermeisters blo­ßer Zufall war oder ob die Bandonni ihn als Experten für Tonys vermeintliches Interessengebiet, die moderne Villenarchitektur, eingeladen hatte. Elisetta Bandonni, diese Erkenntnis hatte Tony immerhin schon mit Sicherheit gewinnen können, definierte ihren eige­nen Wert vor allem durch die wichtigen Leute, die sie kannte und mit denen sie sich duzen durfte und deren Namen sie unbedingt, so unpassend es auch immer sein mochte, in ein Gespräch einfließen lassen musste. Leider war Elisetta Bandonni nicht über einige ehemalige Universitätsdozenten, einen Priester, der beim Vatikan etwas darstellte und einen regionalen Direktor des Roten Kreuzes hinausgekommen. Eine politische Berühmtheit wie Demonti durfte sich also ihrer besonderen Wertschätzung erfreuen.

 

Was Tony zuerst sah, war ein völlig durchschnittlicher Mann in einem grauen Anzug, der wesentlich älter war als erwartet. Er wurde von Elisetta mit dem ihr eigenen Überschwang und Küsschen links, Küsschen rechts begrüßt. Als sie sich setzte, warf sie einen kontrollieren­den Blick, ob das allgemeine Aufsehen auch ihren Anforderungen entsprach, in die Runde. Weil das nicht der Fall zu sein schien, ließ sie noch ein nervöses Lachen zur Saaldecke auf­flattern, das ebenso künstlich wirkte wie die Blattformen an den gusseisernen Säulen. Nicci reichte ihm nur die Hand, aber sie konnte es in einer Art tun, als würde sie ihre Brüste entblö­ßen und Nimm mich. Jetzt. Sofort. in den Saal schreien. Oder vielleicht eher so, als würde sie dem Mann sagen Gerade noch haben wir es miteinander getrieben, Du warst in mir, erin­nerst du dich denn gar nicht, du mein einzig Geliebter, du dämlicher Penner?

Erst als er sich diese Szene noch einmal in Erinnerung rief, konnte Tony Tanner die Frage Steeles, ob Nicoletta und Demonti etwas miteinander hatten, wirklich verstehen. Am gestri­gen Abend hatte Tony nicht darauf geachtet, denn er hatte in das Gesicht Demontis geschaut und versucht, sich eines geradezu körperlichen Widerwillens gegen diesen Mann zu erweh­ren. Wenn er nun versuchte, seine Abwehr an irgendeiner Eigenheit von Demonti festzuma­chen, scheiterte Tony. Demonti war von mittelmäßiger Durchschnittlichkeit, sein schmaler Kopf zeigte einige hellblonde Haare, die ungekämmt in alle Richtungen zeigten, seine Taille bewies, dass er keinen Tätigkeiten zugeneigt war, die ihm mehr Kalorien abverlangten, als er sich täglich zuführte. Selbst Demontis Gesicht war gänzlich durchschnittlich, wenn man von dem Kinn, das ziemlich übergangslos in den Hals überging, absehen wollte. Eine Brille, die eine leichte Weitsicht korrigierte, ließ Demontis Augen größer erscheinen.

In diesem Moment wurde Tony schlagartig klar, warum er Demonti auf den Tod nicht aus­stehen konnte. Es war dieser blaue, lammfromme Unschuldsblick, der zusammen mit hängen­den Lippen und nicht vorhandenem Kinn dem Gegenüber die geradezu engelhafte Wahrheitsliebe des Cecilio Demonti deutlich machte. Ein solcher in Gesichtszüge gefasster Hilfeschrei an die letzten guten Menschen dieser Welt, so viel demonstrative Wahrhaftigkeit, dem Gegenüber um die Ohren geklatscht wie ein nasser Lappen, machte Tony Tanner miss­trauisch bis zur Aversion. Die Miene wurde durch eine Stimme ergänzt, für die der Ausdruck Im Brustton der Überzeugung wie geschaffen war. Demonti konnte einen Schrottwagen als Formel-1-Renner verkaufen und, sollte ihn ein anderer des Betrugs zeihen, derart beleidigt und in tiefster, reiner Seele verletzt schauen, dass es für diese Kategorie der Verlogenheit kei­nen Ausdruck mehr gab. Demonti trug seine Unschuldsmiene mit derselben Überzeugungs­kraft vor sich her, mit der ein Schlachthofköter seine Zähne zeigt. Natürlich war Demontis Taktik ungleich geschickter, denn während man einem Köter mit dem Prügel begegnet und sich dabei gut fühlt, war Demontis quasi vorauseilende, ehrliche Empörung über das, was ihm ein Mensch zufügen wollte, der nicht völlig mit ihm, Demonti, übereinstimmte, derart ent­waffnend, dass man sich lieber selbst den Knüppel über die Stirn zog, statt das Gewissen der moralischen Selbstgewissheit Demontis auszuliefern. Mithin, Cecilio Demonti war das, was man einen Gutmenschen nennt, in seiner reinsten und ungenießbarsten Form. Nein, Demonti war nicht einmal ein Gutmensch, er war der Allerbestensmensch, die auf zwei Beine gesetzte Tugend, das Gefäß mit der Grals-Suppe moralischer Überlegenheit, aus dem von Zeit zu Zeit ein beleidigter Spritzer auf die böse Welt niederging.

Wenn Tony an dieses schleimige Individuum dachte, schüttelte es ihn jetzt noch.

 

Elisetta Bandonni, die dazu tendierte, mit fliegenden Fahnen auf jede Seite zu gehen, die sich ihrem Erscheinen nicht schnell genug erwehrte, war sicherlich das Idealpublikum für Demonti. Der Ex-Bürgermeister, ganz der Platzhirsch, für den Tony ihn gehalten hatte, riss das Gespräch in kurzer Zeit an sich und sonnte sich im Glanze seiner eigenen Unterhaltsamkeit. Tony, hundertzehnprozentiger Profi, der er war, spielte das Spiel sofort mit und bemühte sich sogar noch, tückisch und hinterhältig, dem aktuellen Alphatier die Bälle zuzuwerfen. Tückisch deswegen, weil sich Tony darüber bewusst war, dass Demonti im Moment auf derselben Ebene agierte wie ein Pavianmännchen, das mit seinem dicken Geschlechtsteil Konkurrenten abschreckt. Diese Visualisierung, die schon bei Leuten wie Heatherstone schönste Erfolge gezeitigt hatte, verlieh Tony eine milde Heiterkeit, mit der er den Abend ganz gut hinter sich brachte. Er hatte sich sogar überwunden und war Demonti um einen Termin für ein Treffen angegangen, welches ihm denn auch gnädig gewährt wurde. Morgen? Junger Mann, unmöglich, man hat ja seine Pflichten. Aber übermorgen um 22 Uhr kann ich einen Termin freimachen. Tony hatte höflich buckelnd akzeptiert und sich innerlich sozusagen auf die Schenkel geschlagen vor Lachen, weil er genau diese gravitätische Reaktion seitens Demonti erwartet hatte.

Die Verzögerung um einen Tag machte jetzt allerdings Tony wütend, Steele hielt sie dage­gen für einen Vorteil: »Heute werde ich mir den Kerl noch mal genauer anschauen. Ich traue ihm nämlich auch nicht über den Weg.«

 

Tony hatte keinen Schimmer, wie sich Steele auf die Spuren Cecilo Demontis, des Ex-Bürgermeisters von Loreta gesetzt hatte. Auf jeden Fall hatte es dazu geführt, dass Steele im Hotel auftauchte und Tony in eine der drei Gaststätten Loretas mitnahm. Dort, von einer Säule verborgen, konnten sie den Auftritt Demontis in aller Ruhe genießen und zudem eine akzep­table Fischsuppe essen. Lucille Chaudieu hatte sich an diesem Tag geweigert, ihr Zimmer zu verlassen.

Dort hinten in der Gaststube, wo Demonti saß, schien sich eine Art von Stammtisch zu befinden. Etwa ein halbes Dutzend Männer saßen zusammen und führten eine Unterhaltung, von der weder Steele noch Tony mehr verstehen konnten als einzelne Stichworte, die manch­mal von allen mit brüllendem Lachen quittiert wurden. Bis auf zwei Ausnahmen hatten die Männer die Lebensmitte schon durchschritten, einige waren schon weißhaarig – oder wären es gewesen, wenn sie denn noch Haare gehabt hätten. Demonti war ohne Zweifel der Herrscher in diesem Kreis. Sein Erscheinen beendete das bisherige Gespräch. Er ging in sei­ner priesterlich-umständlichen Art um den Tisch, schüttelte Hände, klopfte auf Schultern, nahm dann Platz und ließ seine überzeugte und zugleich von einem ständigen Unterton des Beleidigtseins geprägte Stimme erklingen. Die anderen dienten nur noch als Stichwortgeber oder durften raunende Zustimmung spenden. Gelacht wurde jedenfalls nicht mehr.

»Was sind das für Typen?«, fragte Steele. »Arbeiter sind das nicht. Wenn ich mir die Gesichter anschaue, dann würde ich denken, dass es Fischer sind.«

»Es gibt keine Fischer mehr in Loreta«, gab Tony seine am gestrigen Abend erworbenen Kenntnisse zum Besten. »Nur noch einige alte Männer, die den Fischfang als eine Art von nostalgischem Hobby betreiben. Aber Demonti scheint eine Gruppe von letzten Getreuen zu haben. Einige Fischer, die Angst um ihren Fang hatten und ein paar Bauern, die Land verkau­fen mussten und sich betrogen vorkamen.«

»Das kommt hin.«

 

Loreta, das hatte Tony von Elisetta Bandonni erfahren, war dem Kraftwerk mehr oder weniger ausgeliefert. Die Stadt und ihre Bewohner hingen wie Süchtige am Tropf der billigen Energie, die der Reaktor lieferte. Die Einwohner, so sie denn arbeiteten, waren entweder am Kraftwerk selbst angestellt oder verdienten ihr Geld in einer Firma, die sich wegen der hier in Mengen verfügbaren Energie angesiedelt hatte. Morgens stiegen die Arbeiter in die Betriebsbusse und ließen Loreta zurück, in dem nur die Alten und die Jungen zurückblieben. Und da die Jungen in der Schule oder in Tagesstätten waren und ältere Menschen sich gerne zu Hause aufhalten, wirkte der Ort in diesen Stunden wie ausgestorben. Früher hatten die Menschen vom Fischfang, von der Landwirtschaft, von ein wenig Handel und Handwerk mehr schlecht als recht gelebt. Jetzt war Loreta eine Gemeinde, deren Durchschnittseinkommen beinahe an die Zentren Norditaliens heranreichte und auf jeden Fall dasjenige aller umliegenden Orte weit übertraf.

Trotzdem lag eine merkliche Freudlosigkeit über Loreta. Es herrschte eine gedämpfte Atmosphäre, als wäre hier das Leben in Glaswolle verpackt. Vielleicht lag die Ursache in den geografischen Gegebenheiten, in der Bucht, die den Ort von dem Umland abschloss. Vielleicht waren es die vielen Zugezogenen aus der Umgebung, die in den Bauten am Hang wohnten und zwischen denen und den Alteingesessenen nicht das beste Einverständnis herrschte. Oder vielleicht sah Tony Tanner inzwischen Gespenster.

Stühlerücken zeigte an, dass sich die Gesellschaft auflöste. Steele beglich die Rechnung und verließ mit Tony das Gasthaus. Schon vorher hatte er sich nach einer Stelle umgeschaut, von der aus er den kleinen Platz vor dem Gasthaus überblicken konnte. Steele fand ihn unter einem Torbogen, der den Anfang einer der vielen Gassen bildete, die von dem Platz abliefen.

Loretas Altstadt setzte sich aus einem Gewirr solcher Gassen, Gässchen, Wege und Durchgänge zusammen. Völlig ohne System zog sich dieses Netz durch die Massen alter, hoher Häuser. Manchmal öffnete sich zwischen den Häusern ein Durchgang, man ging hinein, nur um einige Schritte weiter fast im Wohnzimmer der Bewohner zu stehen. Es konnte aller­dings auch sein, dass man auf eine Treppe traf, dann auf eine Passage oder eine tunnelartige Öffnung, die den Zugang zu einer anderen Gasse gewährte.

 

Nachdem Tony die Phase, in der er dieses Chaos romantisch nennen musste, hinter sich gebracht hatte, war es ihm lästig. Während manche Plätze, so auch derjenige, den sie jetzt belauerten, so hell angestrahlt wurden wie ein Verhörzimmer, waren die meisten Teile der Altstadt finster, selbst dann, wenn die Sonne schien.

Aus den Häusern drang der Geruch feuchter Keller, muffiger Wände und schlecht gelüf­teter Hinterhöfe, verbunden mit dem aufdringlichen künstlich-frischen Mief von Waschmitteln und dem Dunst der Küchen. Für Autos waren die Gassen meist unbefahrbar, weil zu eng und zu verwinkelt. Man behalf sich mit knatternden Dreirädern, die allerdings auch stets weite Umwege fahren mussten, weil immer wieder Treppen für den Höhenausgleich der Gassen sorgten.

Steele und Tony drückten sich in den Schatten, der von dem Bogen geworfen wurde. Ihnen gegenüber war das Gasthaus, zu den Seiten schlossen sich Häuser an. Rechts begrenz­te Santa Amalia, die ältere der beiden Stadtkirchen den Platz. Vor die Kirchenfassade, die eine ziemlich unbekömmliche Mischung aus alter gotischer Bausubstanz und barockem Dekor darstellte, hatte ein sensibler Stadtplaner den riesigen Mast hingeklotzt, dem die Beleuchtung des Platzes geschuldet war. Es war eine glänzende Stahlsäule, an deren oberem Ende die Leuchten saßen, die ihr kränkliches gelbes Licht schattenlos auf die Umgebung herabprallen ließen. Die gelbe Farbe des Lichtes gab der Szenerie einen unnatürlichen Charakter. Für Tony wirkte es so, als wolle jeden Moment ein UFO zur Landung ansetzen.

»Das ist ja noch schlimmer als die Weihnachtsbeleuchtung, die man in Italien in manchen Fenstern sieht«, flüsterte Tony. Dann fuhr er zusammen. Ein riesiger Schatten breitete sich über dem Platz aus und schien das Licht verschlingen zu wollen. Tonys Herz raste, Schweiß trat ihm aus den Poren. Der Schatten zuckte und flatterte, verkleinerte und sich wuchs erneut. Erst jetzt erkannte Tony, dass es nichts als ein Nachtvogel war, der sich die Motten fing, die vor den Scheinwerfern tanzten. Aufatmend lehnte er sich gegen die kühle Mauer. Loreta war nicht gut für seine Nerven – so wenig wie Bombay, Kairo, London, Nizza oder Lucille.

Die Tür des Gasthauses schwang auf und entließ eine Wolke von Rauch und Lärm auf den Platz. Die gesamte Tischmannschaft trat hinaus. Zuletzt kam Demonti. Es gab eine Verabschiedung, dann verteilten sich die Männer zu zweit, zu dritt oder alleine in die umlie­genden Gassen. Zum Glück wählte keiner den Durchgang, aus dem heraus Steele und Tony die Szene bespähten. Nur Demonti blieb zurück. Er schien zu überlegen, starrte vor sich hin und setzte sich dann in Bewegung. Seit die Männer ihn verlassen hatten, ging eine Veränderung mit ihm vor. Er schien in sich zusammenzusinken, als würde Luft aus einem Ballon entweichen. Selbst seine Bewegungen wurden träger und fahriger. Zögernd macht er einige Schritte vorwärts, blickte in die Richtung, in der einige seiner Tischgenossen ver­schwunden waren.

Aus dem Kirchturm erklang ein Knacken, dann eine Abfolge mechanischen Knarrens, das sich endlich in einem Glockenschlag entlud. Der dunkle Ton rollte wie eine Welle durch die dunklen Gassen Loretas und schallte in Dutzenden von dumpfen Echos zurück, die an das Röhren entfernter Urtiere erinnerte.

 

Dann geschah etwas Unerwartetes. Aus den Augenwinkeln registrierte Steele eine Bewegung. Er zuckte unwillkürlich zusammen und drängte sich neben Tony, tiefer in den Schutz des Torbogens. Für einen Augenblick herrschte, nach dem Verklingen des letzten Glockenechos tiefste Stille. Der Platz lag vor ihnen, ruhig und hell, auf eine erschreckende Weise leer, als könnte er Menschen und Gegenstände in sich aufsaugen.

Jetzt war sich Steele sicher. Dort an der linken Seite bewegte sich etwas. Aus dem Schatten eines vorspringenden Obergeschosses löste sich ein Schatten, huschte als undeutli­ches schwarzes Wischen bis zur nächsten Deckung, um erneut mit der Dunkelheit zu ver­schmelzen. Das Ziel des Unbekannten war klar. Er hatte Demonti im Visier.

Der Ex-Bürgermeister stand noch immer reglos an derselben Stelle. Sein Kopf war gesenkt, das beleidigte Gesicht verborgen. Er schien in eine Art Schlaf gefallen zu sein.

Bevor Steele eingreifen konnte, sprang der Unbekannte aus seinem Versteck. Mit hüpfen­den Schritten überwand er die Distanz bis zu Demonti. Noch bevor die beiden Personen bei­einanderstanden, entspannte sich Steele. Der hüpfende Gang des Unbekannten bedeutete in seinen Augen, dass keine Gefahr für Demonti bestand. Obwohl, es mochte ja auch Spinner geben, die an einem immer noch Prominenten ihr Mütchen kühlen wollen …

 

Der Gedanke kam zu spät. Jetzt war der Unbekannte bei Demonti. Er zog einen langen schmalen Gegenstand aus der Tasche.

Dann rollte er das Papier auseinander, deutete mit den Fingern darauf und begann, Demonti anzubrüllen. Es blieb mehr bei dem Versuch, denn die Stimme des Unbekannten war heiser und dünn. Damit, registrierte Steele, passte die Stimme zu ihrem Nutzer. Der Unbekannte war ebenfalls ein Typ, den man mickrig nennen konnte, ohne ihm Unrecht zu tun. Seine Figur hatte Anklänge an einen Apfel, der auf einen Pfeil gespießt war. Dünne Beine, in Jeans gehüllt, trugen einen ausladenden Mittelteil, der wiederum in einen schmalen Oberkörper auslief. Trotz der lauen Nacht trug der Mann ein Blouson. Mehr noch, er hatte sich eine Pudelmütze über den Kopf gestülpt. Ein Wust lockiger Haare quoll unter der Mütze hervor und bildete einen natürlichen Kragen des Blousons. Der Mann bemühte sich um einen Vollbart, war in seinen Bemühungen allerdings erst bis zu einigen langen Haaren um das Kinn und die Oberlippe gediehen.

Die Einmannvorstellung wurde immer absurder. Der Unbekannte hielt sein Papier hoch, tanzte von einem Bein auf das andere und durchbohrte mit dem Zeigefinger einige Stellen auf diesem Papier. Weder Tony noch Steele konnten erkennen, was auf dem Papier stand, noch waren sie in der Lage, die schnell hervorquellenden Worte des Mannes zu verstehen.

Demonti hob nur den Kopf und schaute wie immer beleidigt. Er wirkte nicht so, als ob er diesen Überfall überhaupt wahrnehmen würde. Von dem Lärm angelockt, tauchten einige Männer aus dem Gasthaus auf. Sie beendeten das einseitige Gespräch, in dem sie dem Unbekannten mit einer herzhaften Kopfnuss und einem Tritt in den Hintern die optimale Richtung für seinen Abgang zeigten. Es folgte ein intensiver Austausch von Beleidigungen, dann verschwand der Unbekannte in einer Gasse, Demonti schlurfte weiter und auch seine Helfer verzogen sich lachend zurück in die Gaststube.

Tony spürte Steeles Ellenbogen in seinen Rippen.

»Hinterher!«, befahl Steele. »Ich nehme mir Demonti vor. Na los doch, ab dafür!«

Als Tony losrannte, fuhren ihm einige Fragen durch den Kopf, die er Steele gerne gestellt hätte. Die Wichtigste lautete: Warum? Und selbst wenn er sich diese Frage ersparte, blieb noch eine Reihe von anderen, die sich vor allem damit beschäftigten, was er mit dem Unbekannten anstellen sollte, wenn er ihn denn eingeholt und zum Anhalten bewegt haben würde.

 

Während Tony Tanner diese Gedanken durch den Kopf blitzen, hatte er schon die Verfolgung aufgenommen. Seine Schuhe klapperten über das unebene Pflaster, neben ihm rannte sein Schatten und äffte Tonys Bewegungen in kuriosen Verdrehungen nach.

Da war die Gasse, in der der Unbekannte verschwunden war. Sie war bis auf eine schwa­che Funzel, die von einer Hauswand hing, unbeleuchtet. Die ersten Meter legte Tony wie ein Blinder zurück. Unter seinen Sohlen spürte er eine andere Pflasterung, die Wölbung, die Rinne in der Mitte, die mit glatteren Steinen belegt war. Irgendetwas wischte weich über sein Gesicht, sein Bein stieß gegen ein Hindernis und brachte einen Eimer zum scheppernden Fall. Der Metalleimer rollte, wie ein lästiger Ankläger seiner Ungeschicklichkeit, eine Weile neben Tony her. Irgendwo in einem oberen Stockwerk flogen quietschend zwei Fensterflügel auf und eine Frauenstimme keifte Unverständliches.

Tony beschleunigte seinen Schritt wieder. Inzwischen hatten sich seine Augen etwas an die Dunkelheit gewöhnt. Vor ihm machte die Gasse eine Kurve. Als er wieder freien Blick auf ihren weiteren Verlauf hatte, erblickte Tony den Unbekannten. Der Mann durchquerte in die­ser Sekunde den Lichtkegel einer der wenigen Lampen. Es gab keinen Zweifel, er musste es sein – der Kopf mit Pudelmütze und hervorquellender Lockenpracht, unverwechselbar, selbst wenn man ihn erst einmal im Leben gesehen hatte. Tony beschleunigte. Nach einigen Schritten blieb er an einem vorstehenden Pflasterstein hängen, kam ins Stolpern und taumel­te mit wedelnden Armen weiter. Der Mann vor ihm musste etwas bemerkt haben. Als sich Tony wieder gefangen hatte, atemlos, mit klopfendem Herzen und wütend über sich selbst, hörte er das Stakkato fliehender Schritte.

Der Andere versuchte zu verschwinden. Damit war Tonys Ehrgeiz geweckt. Wenn er Steeles Anweisung bisher eher unwillig erfüllt hatte, so packte ihn nun das Jagdfieber. Er ach­tete weder auf das holperige Pflaster noch auf seine Knöchel, die bei dem Schritt umzuknicken drohten, und hetzte die Gasse entlang. Vor ihm tackerten die Schritte des anderen. Das Geräusch kam näher, verschwand, als die Gasse eine ihrer häufigen Biegungen machte, wurde dann wieder hörbar.

Noch eine Hausecke, dann war der Mann direkt vor Tony. Vielleicht zehn Meter waren es noch, die zwischen ihnen lagen. Tony spürte schon ein Brennen in den Schenkeln, die hohe Geschwindigkeit verlangte ihren Tribut. Noch einmal riss er sich zähnefletschend zusammen und beschleunigte.

Der Verfolgte hörte die Schritte hinter sich, das Keuchen des Verfolgers. Er schien einen Herzschlag lang zu zögern, unsicher zu werden, die Flucht aufgeben zu wollen. Im nächsten Moment drehte er ab und verschwand blitzschnell zwischen zwei Häusern. Bevor Tony anhal­ten konnte, hatte ihn sein Schwung an dieser Stelle vorbeigerissen. Schwer atmend hielt er an. Seine Füße brannten, die Knöchel schrien nach einem orthopädischen Verband.

Tony hätte diesen Durchschlupf nie als ernsthaften Fluchtweg in Erwägung gezogen. Es war nichts als ein schulterbreiter freier Streifen zwischen zwei Hausmauern. Zögernd drück­te er sich in die Lücke, beschleunigte dann, als er daran dachte, wie nahe er einem Erfolg gewesen war und wie sehr sich der andere bemühte, ihm nicht in die Hände zu fallen.

Es war dunkel wie in einem Kohlenkeller. Lediglich wenn Tony den Kopf in den Nacken legte, konnte er einen hellgrauen Streifen Nachthimmel zwischen den Dachrinnen erkennen. Seine Schultern schrammten links und rechts an den Wänden entlang, ein vorspringender Stein rammte ihn schmerzhaft. Jeder Schritt ging ins Nichts und jede Berührung des Bodens wirkte wie ein kurzer Moment der Sicherheit. Übler war das Gefühl, in einer großen Schraubzwinge zu stecken, die langsam zugedreht wurde.

 

Da! Ganz kurz drang wieder das bekannte Tackern an sein Ohr. Der Kerl war noch vor ihm. Am liebsten hätte Tony vor Wut geschrien, wenn ihm der Atem dazu ausgereicht hätte. Dieses Stinktier da vorne, das ihm wieder entwischt war. Tony würde sich nicht abschütteln lassen. Er würde diesem Lumpen eins in den Nacken geben dafür, dass er durch dieses wider­wärtige Labyrinth von Gässchen hasten musste.

Der Gedanke war nicht zu Ende gedacht, als Tonys Fuß ins Leere trat. Er stürzte nach vorne, sein Knie traf auf eine Holzstufe. Seine Hand erwischte ein Geländer und bewahrte ihn vor dem endgültigen Sturz, dafür zerrte er sich eine Sehne. Einen Augenblick klammerte er sich wie ein Affe an das Geländer, während der Schmerz vom Knie aus durch seine Nervenbahnen tobte.

Nachdem er sich die Treppe herab getastet hatte, erkannte er im Schein einiger erleuchte­ter Fenster, dass er sich in einem kleinen Hinterhof befand. Dort war ein Torbogen, durch den das dürftige Licht einer Straßenlampe fiel. Sein schmerzendes Knie stoppte Tonys Spurtversuch. Er erreichte die Gasse und lauschte. Ein befriedigtes Grinsen lief über sein Gesicht. Da waren sie immer noch, die fliehenden Schritte, die akustische Fährte, der er nur zu folgen brauchte. Der Andere war entweder blöde oder hatte wirklich die totale Panik. Im Grunde brauchte er bloß in einem Hinterhof abzuwarten, zumal er sich in Loreta ganz offen­sichtlich auskannte.

Die Schritte kamen von links. Nach einigen humpelnden Schritten hatte Tony den Schmerz im Griff und wurde schneller. Eine Abzweigung, immer noch waren die Schritte vor ihm. Eine Biegung, Vorsicht: drei Treppenstufen, rutschiges Pflaster, ein Holzgerüst, knirschender Sand unter den Sohlen, noch eine Kreuzung. Woher kamen die Schritte?

Die Hände auf die Oberschenkel gestützt hielt Tony an. Von links kam das Geräusch, dem er folgen wollte. Oder? Wenn er den Kopf drehte, kam es von rechts. Mit einem saftigen Fluch richtete sich Tony auf. Er hatte den anderen Mann verloren. Der andere hatte ihn in das Labyrinth der Gassen gelockt und war verschwunden. Der andere war clever, Tony Tanner war der Doofmann der Geschichte, er hatte ein schmerzendes Knie, ein demoliertes Selbstbild und keine Ahnung, wo er sich befand.

Nach einigen Versuchen, sich zu orientieren, entschied er sich für eine Richtung, kam an eine Kreuzung, wählte, inzwischen nur noch wütend, eine Gasse und hatte sich auf diese Art nach zwei Minuten in der Altstadt völlig verrannt. Plötzlich stieg in Tony die Panik auf wie eine rote Warnrakete. Du bist in einem italienischen Kaff, sagte er sich, du hast dich verlau­fen, aber die Altstadt ist nicht groß, irgendwann kommst du an einen Hinweis oder du kannst jemanden fragen.

 

Die Selbstberuhigung war so wirkungsvoll wie eine Lehrerermahnung drei Minuten vor Ferienbeginn. Wie konnte Tony Tanner im Übrigen auch ernsthaft auf die beruhigenden Worte eines Mannes achten, der sich eben selbst als Oberidot zu Erkennen gegeben hatte? So was nennt man psychologisches Dilemma, dachte Tony und gewann einen Anflug von Humor zurück.

Humor allerdings brachte ihn nicht aus diesem Gassengewirr heraus. Als er nun langsam weiterhinkte, wurde Tony erst das knisternde Leben bewusst, das hinter den Wänden hauste. Er hörte das Gedudel von Radios, das künstliche Gelächter der Fernsehshows, Stimmen, Gesprächsfetzen, Klimpern von Geschirr, von dem gegessen wird, das Rappeln von Geschirr, das gespült wird, Klackern von Geschirr, das weggeräumt wird, die hastigen Klänge einer Klavieretüde, lachende Kinderstimmen, singende Kinderstimmen, schreiende Kinderstimmen, quengelnde Kinderstimmen, durch energisches Einschreiten einer Frauenstimme zum Verstummen gebracht, und dann wieder ein Wirrwarr rauer Männerstimmen aus einem Hof. Die Schatten hinter den Fenstern waren nur die letzten Spuren einer vibrierenden Lebensenergie, die sich hinter den Wänden Loretas versteckte, sich nur verborgen auslebte, als müsste sie fürchten, sich offen zu zeigen.

Ein Zweitakter knatterte in der Nähe, als Tony sich der Gasse näherte, lag noch der beißende Geruch des Abgases, schwer von unverbranntem Treibstoff, in der Luft.

Der Angriff kam so unerwartet, dass Tony keine Chance zur Abwehr hatte. Er fiel nach hinten und wurde nur durch eine Wand aufgehalten. Heulend stürzte sich ein monströses Etwas auf ihn.

Um dem geneigten Leser den weiteren Verlauf der Ereignisse zur Gänze verständlich zu machen, ist es an dieser Stelle notwendig, den bisherigen Fluss der Erzählung durch die sorg­fältige Aufzählung einiger Tatsachen kurzzeitig zu unterbrechen.

  1.  Zu Tony Tanners umfangreicher Garderobe gehörte ein Beinkleid aus extra dickem Büffelleder.
  2.  Er hatte sich entschlossen, sich an diesem fraglichen Abend just diese Beinkleides zu bedienen, weil ihm die solche Umhüllung seiner Stengel als passend für den Besuch in einem Loreta’schen Gasthause erschien. (Eine absolute Sch…idee, denn er hatte das Gefühl, in einer Unterleibssauna zu stecken.)
  3. Zum Zwecke der Anpassung der gekauften Hosenbeine an die tatsächliche Länge der Tannerschen Extremitäten war der Unterteil der Hosenbeine nach innen umgeschlagen und sorgfältig mit kundiger Nadel vernäht worden.
  4. Toto, der getreue vierbeinige Freund der Elisetta Bandonni, (um jenes Monster handel­te es sich nämlich, womit wir an dieser Stelle lediglich bestätigen, was der Leser schon geahnt hat) wählte sich als Folge seiner Vollendblödheit, die bleibendes Charakteristikum der meis­ten, heroischen Taten zugeneigten Zwei- und Vierbeiner ist, gerade die unter Punkt 3 beschriebene Stelle zum Zwecke seiner Attacke aus.

 

»Totoo, komm her, ja kommst du wohl … bist du wahnsinnig, porca miseria, willst du wohl … bestia bruta, Frauchen sollte dir das Fell über die Ohren ziehen …«

Elisetta Bandonnis Stimme erreichte jene Klangqualität, die angeblich Gläser zum Zerspringen bringen kann. Jedenfalls brachte sie um ein Haar Tonys Trommelfelle zum Platzen und er fragte sich unwillkürlich, wovor er mehr Angst haben musste – vor dem Köter, der knurrend sein unteres linkes Hosenbein durchkaute oder vor Elisetta Schrillstimme. Toto hatte inzwischen schon merklich glasige Augen. Mit einem kläglichen Heulen zollte das Viech seinem schlechten Zahnzustand Tribut und hopste in den Schutz seines schimpfenden Frauchens.

Nach dem ersten Schreck erkannte Tony, dass er mit Elisetta den ersehnten Lotsen gefun­den hatte, der ihn aus der Altstadt herausbringen würde. Entsprechend aufgeräumt fiel auch seine Begrüßung aus.

»Hoffentlich hat sich der Kleine nicht verletzt«, fragte er mit tückischer Besorgnis.

Elisetta antwortete mit einem Schwall von Entschuldigungen und Erklärungen. Verstehen konnte Tony nicht sehr viel, abgesehen davon, dass Toto wetterfühlig war. Da es mal wieder zu Nieseln begonnen hatte, war Tony geneigt, diese Erklärung zu akzeptieren.

»Es ist mir so außerordentlich peinlich.« Elisetta hatte den Hund angeleint und setzt sich nun in Bewegung. Dass Tony neben ihr ging, nahm sie ohne weitere Fragen als selbstver­ständlich hin. Toto schnaufte und sabberte. Tonys Lederhose hatte ihm wirklich nicht gutge­tan.

»Er ist sonst so ein Lieber … ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist … ich werde natürlich für den Schaden aufkommen.«

»Es ist kein Schaden entstanden, gnädige Frau.« Die leichten Abdrücke Toto’scher Bezahnung zählte Tony nicht mit.

»Trotzdem … es ist mir so peinlich. Sie MÜSSEN mir erlauben, Sie heute Abend noch auf einen Versöhnungsdrink an die Bar einzuladen. Nein, ich akzeptiere keine Ausflüchte, sonst bin ich Ihnen ernstlich böse, außerdem ist die Bar des Savoia ein sehr kultivierter Ort und der Barkeeper, er heißt übrigens Tino und ist entfernt mit Marco Giatto verwandt, den kennen Sie vielleicht, ein eminenter Althistoriker der Universität Bologna, er hat viel veröffentlicht und ist ein guter, wirklich GUTER, Freund von mir.«

Was denn nun mit dem Barkeeper, der Tino hieß usw., los war, sollte Tony nicht erfahren. Eigentlich hatte er sich fest vorgenommen, an der Verbesserung seiner Beziehung zu Lucille Chaudieu zu arbeiten – und zwar bis um Äußersten. Nun sah er sich unter Druck gesetzt, als wäre er es gewesen, der Elisettas Köter ans Bein wollte, und müsste zur Strafe nun Tinos Mixturen kippen. Aber es war besser, mit Jubel auf die Erpressungseinladung einzugehen, als sich den Unwillen eines Dauergastes wie der Bandonni zuzuziehen.

 

Nach wenigen Minuten Fußweg standen sie vor dem Hotel. Im Foyer war die Besetzung, die Tony inzwischen schon kannte. Seine heimliche Hoffnung, dort auch Lucille zu finden, erfüllte sich nicht. Stattdessen begegnete er seinem Abbild an einer verspiegelten Säule und bekam einen roten Kopf. Er sah wirklich äußerst derangiert aus. Die Verfolgungsjagd, der Sturz, all das hatte nicht dazu beigetragen, das gepflegte Äußere zu erhalten, auf das Tony Tanner ansonsten so großen Wert legte.

Der abschätzende Blick Elisettas entging ihm nicht. Schon legte er sich eine halbwegs plausible Erklärung bereit, als Steele aus dem Hintergrund auf ihn zutrat und ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn zurück zum Ausgang schob.

»Also dann, bis gleich«, rief ihm Elisetta hinterher.

Erst als sie im Wagen saßen, machte Steele sich die Mühe, den Mund zu öffnen.

»Wenn jemand, der ansonsten aussieht wie gelackt und geleckt, in diesem Zustand ein Foyer betritt, erregt so was Aufsehen und Aufsehen können wir nicht brauchen.«

»Soll ich vielleicht die Regenrinne hochklettern?«

»Vor allem, wenn er zusammen mit der schrillsten Tante des Umkreises auftaucht.«

An dieser Stelle sah sich Tony genötigt, den Verlauf seiner erfolglosen Jagd zu schildern. Steele hörte ihn an, ohne ihn zu unterbrechen.

»Immerhin wissen wir zwei Dinge über diesen Kerl«, sagte er dann. »Er hat eine Scheißangst und er kennt sich in Loreta aus.«

»Das hilft uns auch nicht weiter.«

»Nicht wirklich. Aber es sagt uns immerhin, dass er hier wohnt oder gewohnt hat. Und ich bin sicher, dass er wieder auftauchen wird.«

»Warum sollte er, wenn er solche Angst hat?«, erkundigte sich Tony.

»Weil er diese Angst schon vorher hatte, sonst hätte er sich nicht so an Demonti angeschli­chen. Er will Demonti was verkaufen – irgendwas und hält das für sehr wichtig. Wenn ich mir dann noch die Optik von dem Mickerling vor Augen führe … ich bin sicher, dass er ein Politpimpf ist und das sind wahre Zecken. Dem begegnen wir wieder. Nun ja, wahrscheinlich jedenfalls, falls er seit heute Abend nicht die Nase voll hat.«

Steele sprach ruhig und ohne erkennbare Regung, wie ein Pathologe, der nacheinander die Hautschichten seines Untersuchungsobjektes ablöst.

»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte Tony.

»Will mir das Kraftwerk noch mal anschauen.«

 

Sie erkannten ihr Ziel schon von Weitem an dem Schimmer, der hinter einem Hügelkamm den Himmel färbte. Das gesamte Kraftwerksgelände wurde bis in den letzten Winkel in ein schattenloses gelbes Licht getaucht. In der dunstigen Luft schien der riesige Komplex wie eine Insel zu schweben.

Steele lenkte den Wagen einige Male an dem Gelände vorbei, dann hielt er an und sie stie­gen aus. Tonys passte sich Steele schleichender Gehweise an, gebückt als müssten sie jeden Augenblick damit rechnen, in Deckung zu gehen, auch wenn er es für ein übertriebenes Indianerspiel hielt.

Gedeckt von einer Baumgruppe fanden sie einen Platz, von dem aus sie das Gelände bis zum Reaktor überblicken konnten.

Durch die Stille der Nacht schien ein tiefes Brummen vom Reaktor herzukommen. Kein Mensch war zu sehen. Schon wollte Tony unruhig werden – er hatte ja noch wichtige Dinge zu erledigen – als Steele ein leises Knurren ausstieß. Tony suchte, brauchte aber eine Weile, bis er in großer Entfernung die zwei schwarzen Gestalten der Wachleute erblickte.

Steele hielt den Finger in die Höhe, dann stieß er einen Fluch aus.

»Mist, wir haben den Wind im Rücken!«

Wind im Rücken … Tony versuchte, sich an die wenigen Kenntnisse über die Jagd und das Anschleichen zu erinnern, die er im Laufe seines Daseins gesammelt hatte.

»Die sind doch viel zu weit weg«, versicherte er sich dann selbst.

Er hatte den Satz noch nicht beendet, als Steele aus seiner hockenden Haltung in die Höhe fuhr. Von Ferne erklang das wütende Bellen von Hunden. Zwischen Steeles Jacke und Arm hindurch sah Tony, dass sich die Wachleute bückten. Zwei Punkte lösten sich von der Gruppe, zogen wie zwei Striche genau auf Tony und Steele zu.

»Weg hier!«

Ohne weiteren Kommentar wandte sich Steele um und rannte. Liebend gerne wäre ihm Tony gefolgt, aber nun merkte er, dass er sich sein Knie übel angeschlagen hatte. Als er auf­stand, bohrte sich der Schmerz mit heißer Spitze in das Gelenk und lähmte ihn.

»Los doch!«, brüllte Steele von der Straße her.

Tony warf einen letzten Blick zurück. Die beiden Hunde hetzten Seite an Seite, mit heraushängender Zunge, auf seinen Standort zu. Ganz hinten erkannte Tony ein Blinklicht. Der Anblick reichte, um sein Knie fürs Erste wieder funktionsfähig zu machen. Er humpelte zwischen den Baumstämmen hindurch und die Böschung zur Straße hinunter. Hinter ihm war­fen sich die Wachhunde krachend gegen den Zaun. Das Scheppern der Eisendrähte setzte sich rings umher fort, verstärkt durch das irre Kläffen der Dobermänner.

 

Noch bevor Tony die Tür geschlossen hatte, legte Steele den Rückwärtsgang ein und gab Vollgas. Der Wagen setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, raste nach hinten. Der Motor jaulte in den höchsten Drehzahlen. In Tonys Nacken prickelte die panische Vorstellung, Steele könnte blind gegen ein Hindernis prallen. Dann verriss Steele das Lenkrad, ließ den Wagen mit Reifenquietschen um die eigene Achse wirbeln und jagte in derselben Richtung weiter.

»Die haben Polizei losgeschickt«, platzte Tony heraus, nachdem er sich den Sicherheitsgurt umgelegt hatte.

»Verdammter Mist. Bestimmt?«

»Ja, ich habe das gelbe Blinklicht gesehen.«

Steele nahm etwas Gas weg und verzichtete darauf, auch die nächste Kurve mit durchdre­henden Reifen zu durchschliddern.

»Polizei hat kein gelbes Blinklicht«, antwortete er dann.

Natürlich, Tony schlug sich vor die Stirn, natürlich hatte die Polizei kein gelbes Blinklicht.

»Vielleicht Sicherheitsdienst«, schlug er vor.

»Die können uns außerhalb des Geländes den Buckel runterrutschen.«

»Hoffentlich wissen die das auch.«

Steele trat auf die Bremse, dass es Tony in den Sicherheitsgurt warf.

»Ich will mir die Sache mal ansehen«, erklärte er seine Aktion.

»Welche Sache?«

»Ich will wissen, warum es diese Blinklichter gibt!«

»Es könnte einfach nur so ein Licht auf einem automatischen Tor gewesen sein«, gestand Tony kläglich.

»Das klang vorhin aber ganz anders.«

»Man wird sich doch wohl noch korrigieren dürfen.«

Steele schaute Tony von der Seite an.

»Manchmal kriegt man aber keine zweite Chance.«

 

Das Geheimnis der gelben Blinklichter enthüllte sich nach der nächsten Kurve. Zwischen mehreren Sicherungsfahrzeugen rollte ihnen ein Schwertransport entgegen. Steele wurde per Lautsprecher aufgefordert, an den Straßenrand zu fahren. Dann dröhnte der Transport vorbei, in einem Gewitter gelber Blinklichter und begleitet von dem Erzittern der Straße.

»Zwei, vier, sechs, acht.« Steele zählte die Achsen des Aufliegers. Welcher Art die Ladung war, konnte Steele nicht erkennen, denn eine Plane verdeckte die Sicht.

Langsam verschwand der Konvoi, bis sich nur noch ein entferntes gelbes Zucken im Rückspiegel zeigte.

»Fünf Achsen für die Zugmaschine, acht Achsen für den Anhänger. Die müssen zig Tonnen transportieren.«

»Aber was?«

»Wenn ich das wüsste, wäre mir im Moment wirklich wohler.«

Steele startete den Motor und fuhr zurück nach Loreta. Er sprach kein Wort.

Die Ladung hatte Steele nicht erkennen können. Aber etwas anderes war ihm aufgefallen und es reichte, um ihn in Alarmbereitschaft zu versetzen.

Es war eine Aufschrift auf einem der Begleitwagen. Sie bestand aus drei Buchstaben.

Steele kannte die Abkürzung nur allzu gut. Sie lautete SSI.

 

Steele parkte den Wagen unter einer Lampe in der Nähe des Hotels. Bevor er ausstieg, prüfte er nach, ob er das Fahrzeug von seinem Zimmer aus im Blick hatte. Dann kümmerte er sich um die Zimmerschlüssel, während Tony durch das Foyer humpelte und sich in den Aufzug verzog, bevor einer der Gäste an seinem derangierten äußeren Anstoß nehmen konn­te.

Als Tony Tanner nach einer Dreiviertelstunde die Bar betrat, hatte er alles getan, um sei­ner Umwelt wieder ein erfreulicheres Bild zu bieten. Sein Knie allerdings verweigerte sich dieser Runderneuerung und schwoll an, bis er es kaum bewegen konnte. Elisetta Bandonni fiel fast von ihrem Hocker, als sie Tonys Humpelschritt bemerkte, und es kostete ihn eine Menge Arbeit, sie zu überzeugen, dass seine Blessur nicht von der Attacke ihres Toto herrühr­te. Schließlich akzeptierte sie die Tatsachen, aber Tony war sich absolut nicht sicher, ob sie dadurch beruhigt war oder vielmehr enttäuscht, weil die Kampfkraft ihres vierbeinigen Beschützers weniger gewaltig war als erhofft.

Die Bar des Savoia lag als abgeteilter Raum in der vorderen Ecke des Speisesaales. Es war ein überaus altmodischer und angenehmer Ort. In gewissem Sinne war es die Wiedererkennbarkeit, die dem Gast sofort das Gefühl des Vertrauten vermittelte. Man kannte das alles – die Theke aus poliertem Holz, die Spiegelwand, in der sich die Flaschenbatterien ein zweites Mal betrachten ließen, die hohen Hocker, mit ihrer Sitzfläche aus rotem Leder, die runden Tische im hinteren Teil. Selbst der Barkeeper Tino hatte eine Austauschbarkeit, die ihn auf den ersten Blick als guten Bekannten erscheinen ließ.

In einem Anflug von Boshaftigkeit stellte sich Tony vor, wie Dorkas oder Pillbury sich hier fühlen würden, immer vorausgesetzt, sie wären heute mit ihm hier. Es würde ihnen an diesem Ort nicht gefallen. Das war für Tony in diesem Moment ein schwer zu übertreffendes Qualitätsmerkmal.

Tino verstand es, in seinen süffigen Drinks eine ungeahnte Menge von Alkohol unterzu­bringen. Der Trinker durchwanderte also nichts ahnend ein Blütenmeer angenehmer Geschmacksempfindungen, ohne etwas von den tückisch verborgenen Minen zu ahnen, die sein zentrales Nervensystem unterdessen schon zerrütteten.

 

Für Tony kam der Augenblick der Erkenntnis, als ihm Elisetta Bandonni nach einer Zeitspanne, lang genug um ohne Hast drei der leckeren Mischungen durch die Kehle zu schleusen, die Gelegenheit zu einer sprachlichen Äußerung gab. Bis dahin hatte Elisetta die Unterhaltung ganz alleine bestritten. Nun war sie am Ende eines Kapitels angelangt und blick­te Tony an, seinen Zuspruch erheischend.

Diesen zu gewähren war Tony Tanner durchaus gewillt, allerdings stellte sich seine Zunge als recht klobiges Organ heraus, gänzlichst unbrauchbar für die schnelle und geistreiche Bemerkung, die er eigentlich über die Lippen bringen wollte. Nachdem er einige lang gezogene Ääää und Llll-Töne hervorgewürgt hatte und kurz davor zu stehen schien, seine Zunge, die als träger Fremdkörper seinen Mund besetzte, auszuwürgen, bekam er sich wieder in den Griff. Er servierte seine Antwort, kurz bevor sich die Augenbrauen Elisettas auf die Reise zum Haaransatz bewegen konnten. Totos Frauchen hatte dieselbe Menge konsumiert wie Tony, wirkte aber entschieden standfester. Tony schwenkte auf eine Mischung aus Möhren- und Tomatensaft mit scharfen Gewürzen um, die ihm zwar erfahrungsgemäß die Geschmacksnerven verätzte, aber für Klarheit im Kopf sorgte. Die Fähigkeit des kultivierten Suffs gehörte nach Tonys Meinung zu seinem Job und er hatte sie fast perfektioniert.

Elisetta entschuldigte sich für einen kurzen Moment, weil einer ihrer guten, wirklich GUTEN Bekannten die Bar betrat und nach Elisettas Meinung ohne eine Begrüßung ihrerseits kreuzunglücklich wäre. Die Pause nutzte Tony, um im Spiegel zu kontrollieren, ob er so betrunken aussah, wie er war. Der Spiegel hinter der Bar war kundenfreundlich und bildete ihn als relativ zivilisierten Menschen ab. Neben seinem Spiegelbild erschien ein silberfarbe­ner Fleck.

»Darf ich?«, fragte Nicoletta di Grigoris und nahm die positive Antwort schon vorweg, indem sie Elisettas Hocker in Beschlag nahm.

Ihre Gesellschaft war allerdings das Allerletzte, was Tony sich erhofft hatte. Sie schien es zu ahnen, vielleicht sogar zu wissen und genoss es ganz offensichtlich. Jede ihrer Bewegungen hatte eine katzenhafte Eleganz, die lächelnde, leise Selbstgefälligkeit eines Raubtieres, das in das Revier eines schwächeren Konkurrenten eindringt. Nicolettas Anblick wischte in einem Nu den Alkoholdunst aus Tonys Hirn, als hätte er einen Scheibenwischer angeschaltet. Neben ihm saß, das verstand er nun, die Krönung weiblicher Emanzipation, der Höhepunkt von Jahrzehnten nölender Blaustrümpfe, quengelnder Halblesben und nervender, Klischee-reptierender Uni-Dozentinnen. Nicci hatte sie alle hinter sich gelassen, sie pfiff auf Herstory und auf das ebenso politisch korrekte wie nervtötend blöde -Innen, sie nutzte gnadenlos ihre Chancen, war bereit, jeden Kerl in die Pfanne zu hauen, der ihr in die Quere kam, um im nächsten Moment über Männermacht zu jammern, Frauenquoten zu fordern und zu verlangen, dass ihr die Schwanzträger als Bewahrerin allen Lebens und Tochter der großen Mutter gefälligst die Scheißtüren aufzuhalten und die Koffer zu tragen hatten.

Tony schaute sie an und erkannte eine Bombe mit zischendem Zünder neben sich. Mit einem Gefühl, durch eine Falltüre zu sausen, verstand er, dass sie ihm überlegen war. Er wuss­te nicht, was sie wollte, welches Spiel sie spielte, aber er hatte verteufelt gute Chancen, als Wrack aus der Sache herauszukommen. Little wäre jetzt ein guter Berater gewesen, aber wahrscheinlich hätte dieses Weichei sich nur den Kopf gehalten und einen Anfall bekommen.

 

Optisch hatte Nicoletta mit einer Bombe nichts gemein. Nicht mit der Art von Bomben jedenfalls, die die Militärs einsetzen. Sie trug einen Hosenanzug aus schwarzem Samt und hochhackige Schuhe. Einziger Farbtupfer war ein Zipfel dunkelroter Spitze, der aus dem brei­ten Ausschnitt ihres Jacketts schimmerte und seiner eigentlichen Funktion auf hinterhältige Weise Hohn sprach, indem er zwar allzu tiefe Einblicke verhinderte, aber zugleich wie ein Marktschreier die Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie sah toll aus, musste Tony eingestehen und so wie sie sich jetzt auf den Hocker niederließ, wie Wasser, das aufwärts fließt, war sie atemberaubend. Sie schlug die Beine übereinander, kam mit ihrer Schuhspitze leicht tippend an Tonys Hocker. Ihre Hand griff nach einem leeren Glas, das noch an Tonys Platz stand, und führte es prüfend unter ihre Nase.

Die Fältchen um ihre blauen Augen vertieften sich für einen Moment, als sie lächelnd den Geruch wahrnahm. Sie stellte das Glas nachlässig zurück und schnippte es mit dem Mittelfinger ein Stück weit in Tonys Richtung. Eine Geste, so subtil und von so schreiender Deutlichkeit wie das Aufziehen der eigenen Flagge über dem feindlichen Hauptquartier. Eine Unverschämtheit, fein und leicht gesponnen, eine Reminiszenz an die Zeiten der Kavaliersdegen, wie sie nur zu dieser Stunde in einer Bar möglich war. Eine heimtückische Falle, denn Tony hätte sie in diesem Moment ohrfeigen müssen, um seine Selbstachtung zu wahren, aber ein Mann darf eine Frau nicht ohrfeigen, wenn er seine Selbstachtung wahren will …

Tony registrierte, wie sich sein Puls beschleunigte, als eine Mischung aus Ärger und Scheu ihn erfasste.

»Ich merke, meine Schwester hat sie mit Tinos Spezialität abgefüllt. Eine fürchterliche Geheimwaffe, wenn Sie mich fragen.«

»Wenn Sie meinen«, antwortete er so kühl wie möglich. »Wer eine Geheimwaffe braucht …«

»Nicht jeder hat den Luxus eines ausreichenden Arsenals«, sagte Nicoletta vieldeutig und lehnte sich mit einem Arm auf die Bartheke. Ihr Ausschnitt verschob sich ein wenig und ließ den sanft gewölbten Ansatz einer Brust ahnen. Mit einer knappen Handbewegung bestellte sie sich einen Drink.

»Sie auch?«

»Danke, ich bleibe bei meinem gesunden Saft.«

»Eine kluge Entscheidung, Elisettas Geheimwaffe kann am nächsten Morgen für Überra­schungen sorgen.«

Das hatte sie also auch drauf, diese mütterliche Sanftheit, diese leicht streichelnde Besorgnis. Und das Ganze eine Zehntelsekunde, nachdem sie im Plauderton eines gepflegten Damenkränzchens eine eindeutige Zweideutigkeit hervorgebracht hatte.

»Noch habe ich mich unter Kontrolle.«

Nicoletta sah ihn über ihr Glas hin an, während sie ihren Drink nippte. Es war eine Flüssigkeit von der Farbe frischen Blutes. Sie stellte ihr Glas ab, tupfte sich mit ausgestreck­tem Zeigefinger ein rotes Tröpfchen aus dem Mundwinkel und leckte mit schneller Zungenspitze die Fingerkuppe ab. Sie genoss diesen späten Abend, kein Zweifel.

»Tino nennt diesen Drink Stierblut«, erklärte sie.

»Wohl bekommts.«

»Nicht jedermanns Sache …«

»Nun, viele sind berufen und wenige sind auserwählt.«

»Wenige vielleicht, aber die Stärksten.«

»Stärke kann auch im Verzicht liegen«, verkündete Tony.

»Oh, es spricht der Asket aus dem Norden.«

»Sagen wir: Derjenige, der weiß, dass weniger manchmal mehr ist …«

»Nun, auf diesen speziellen Geschmack muss man erst mal gekommen sein …«

Durch einen letzten Schluck aus seinem Glas ersparte sich Tony eine Antwort.

»Ich habe Ihre reizende Assistentin gar nicht mehr gesehen. Versteckt sie sich in ihrem Zimmer?«, wollte Nicoletta plötzlich wissen.

»Sie ist mit Vorbereitungen für die Aufnahmen beschäftigt. Wir erledigen die Dokumentation zum Teil schon, bevor wir die Fotos gemacht haben«, fantasierte Tony. Wenn er aufschaute, begegnete er Nicolettas Blick, einem ruhigen, entspannten, behutsamen Blick aus schönen Augen, deren Blau im Licht der Bar intensiver zu werden schien. Ein Blick wie ein Katzenpfötchen, aus dem jederzeit die Kralle ausfahren kann. Was er brauchte, war eine Möglichkeit zum ehrenhaften Rückzug. Eine Ausflucht, die einen Hauch raffinierter klang als Gnädigste, ich muss mal eben kotzen – was das Einzige war, was Tony Tanner in dieser Phase seines irdischen Daseins einfallen wollte.

Aus dem Hintergrund erklang das neonreklameschrille Lachen Elisettas, ihre gestikulie­renden Hände flatterten über dem Tisch wie die aufgescheuchten Tauben über dem Markusplatz. Von dieser Seite war keine Entlastung zu erwarten, Elisetta fühlte sich bei ihrem guten, wirklich GUTEN Bekannten wirklich wohl.

Damit unterschied sie sich geradezu dramatisch von Tony, der sich nur mit Mühe davon abhalten konnte, mit nervösem Rutschen seinen Sitz zu polieren. Zumindest sammelte er hier unbezahlbare Erfahrungen. Sein Gegenüber drehte das plumpe Prinzip Fräulein, kennen wir uns nicht von irgendwoher? um. Bei ihr hieß es Kerlchen, wir hatten was miteinander, aber wage nicht danach zu fragen, denn ich würde es leugnen.

Aber was bezweckte sie damit? Tony Tanner zum Narren zu halten? Dafür war weniger Aufwand erforderlich, in dieser Hinsicht war Tony ein todtrauriger Realist. Vielleicht mach­te es ihr ja einfach Spaß. Vielleicht war sie ja einfach so. Vielleicht legte sie ja Menschenmännchen flach und schnitt ihnen nach Vollzug die Kehle durch.

»Und Ihr Fotograf – wie hieß er doch gleich …?«

Tony überhörte die Frage, weil er sich gerade dem Barkeeper zuwandte. Der Punkt ging an ihn, aber was nutzte das?

»Wie findet Herr Steele Loreta?«, fuhr Nicoletta ungerührt fort.

»Er ist begeistert. Eine Stadt voller interessanter Menschen.«

»Ich dachte, Sie wollten Häuser fotografieren, keine Menschen.«

»Häuser ohne Menschen sind leere Hüllen!« Tony verkündete diesen Gemeinplatz mit der Ernsthaftigkeit des erfahrenen Architekturkritikers.

»Aaaaahhhh«, hauchte Nicoletta. Es war ein Klang, den sich Tony bei gänzlicher anderer Gelegenheit, begleitet von einem warmen Atemhauch, ganz nahe an seinem Ohr vorstellen konnte. Sofort nach dieser Vorstellung schlug sein Über-Ich gnadenlos zu und prügelte Tony den Namen Lucille um die Ohren, nannte ihn zu allem Übermaß auch noch Schwein und kommentierte typisch Mann. Tony hatte sein Über-Ich im Verdacht ein dezidiert weibliches Über-Ich zu sein.

Als könnte sie in sein Inneres sehen, belauerte ihn Nicoletta mit spöttisch gekräuselten Mundwinkeln.

»Ihre Texte werden sicherlich voller tiefer Einsicht in die Natur der Dinge sein. Streng urteilend, hart zupackend, kraftvoll formulierend, aber Milde im Ausklang.«

Streng – hart – kraftvoll – das war in Tonys Ohren ein Satz im Lacklederkleid.

»Ich bemühe mich darum, die Muster meiner Sensibilität dem Leser offenzulegen«, schwafelte Tony und freute sich über all die vielen elend oberflächlichen Vernissagen, bei denen er sich Beispiele des künstlerischen Nobelsprech angeeignet hatte.

Nicoletta kommentierte mit einem angedeuteten Brauenhochziehen. Nur der Hauch von einer Andeutung. Tony lächelte sie an und formulierte insgeheim die Sottise Aha, willkom­men im Botox-Club.

»Ich würde so gerne einmal einen Ihrer Artikel lesen dürfen«, schmeichelte Nicoletta hin­terhältig.

Langsam begann die Sache sogar Spaß zu machen. Es war wie Skilaufen unter einem Lawinenhang, aber es hatte was.

»Wenn Sie meinen Herausgeber, der ehrenwerte Sir Randolph Everhard Sykes-Dorkas, kennen würden, dann wüssten Sie, dass meine Artikel nicht mehr meine Artikel sind, wenn ich sie nur auf seinen Tisch lege und mir den Hurenlohn für die qualvollen Nächte abhole, in denen ich mir Formulierungen aus dem Herzen reiße, die sich wie sanfter Morgentau über die hervorragendsten Beispiele architektonischen Genies legen, während Sloames-Dorkas mit seinem jämmerlichen Kapitalisten-Korrekturstift wütet wie eine Horde Bulldozer im Park von Versailles.« Nach diesem Satz hätte Tony am liebsten geschrien vor Begeisterung über sich selbst, schaffte es aber, sein maliziöses Grinsen in die verhärtete Mimik eines von der Welt geprügelten Großkünstlers erstarren zu lassen. Dann schaute er Nicoletta an und seufzte unterdrückt, aber vernehmlich.

»Ja«, erwiderte Nicoletta das Seufzen, »ich kenne das … es ist manchmal so schwer … einen Menschen zu finden … Wie heißt es in diesem japanischen Haiku Er nahm zwei oder drei Stufen der unendlichen Treppe zu meinem Herzen … aber allein diese zwei Stufen …« Ihre leise Stimme verstummte in einem schmerzvollen Flüstern. Sie starrte vor sich hin, ihr Mund war bitter von all den Enttäuschungen, die ihr das Leben bereitet hatte, ihr Augen wur­den noch blauer und in diesem Moment hätten selbst Siegfried und Roy sich duelliert, um die­ser Frau auch nur die Füße küssen zu dürfen.

Aber das war noch nicht alles.

 

Nicci konnte noch besser. Ihre weißen Zähne schoben sich auf die Unterlippe, glänzten wie vollkommene Perlen auf dem dunklen Rot, während Nicoletta mit gesenktem Kopf in eine unendliche Ferne starrte, die unter der glänzenden Oberfläche der Theke begann. Ihre Hand tastete nach dem Glas und rührte dabei an Tonys Hand.

Die kurze Berührung ihrer weichen Fingerspitzen lief wie ein Stromstoß durch Tonys Nervenbahnen. Großalarm, Torpedoeinschlag, Bombentreffer, Feind auf der Mauer … Sie hatte ihn reingelegt. Für eine Weile glaubte er, Oberwasser zu bekommen und nun war er ihr direkt ins Messer gelaufen. Oh ja, Nicci hatte eben auch die Szene Sei lieb zu mir, ich bin so schwach in ihrem Repertoire.

In dem unerklärten Gemetzel, das in diesem Augenblick an der Bar stattfand, witterte Nicoletta di Grigoris auf der Stelle ihren Vorteil und nutzte ihn. Kaum merklich änderte sie ihre Sitzposition. In Öl gemalt hätte sie auf ein symbolistisches Bild gepasst, dessen Titel ungefähr Die Wollust verspottet die gefesselte Tugend gelautet hätte. Ihr Ausschnitt ver­schob sich um eine weitere Kleinigkeit und offenbarte jetzt in üppiger Fülle, was bisher noch dem Bereich bloßer Ahnung überlassen blieb.

Tonys Reviergrenzen bröckelten. Sie schob den Kopf vor und fuhr mit dem Zeigefinger auf Tonys Hand zu.

»Ein sehr aparter Ring, den Sie da tragen. Darf ich mal sehen?«

Während Nicoletta sich nach vorne beugte und nach seiner Hand griff, drehte Tony wie unter Zwang den Ring – es handelte sich um das Erbstück Benevoglios, das er seither immer trug – sodass der grüne Stein Nicoletta zugewandt war.

Das Folgende geschah so schnell, dass Tony die Einzelheiten gar nicht vollständig regis­trierte. Er vernahm ein scharfes Zischen, als hätte sich Nicoletta verbrannt. Sie prallte zurück, ihr Körper wurde innerhalb eines kurzen Momentes steif. Ihre Reaktion war so heftig, dass sie nach hinten kippte und an ihren Nachbarn stieß. Sofort hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Sie wandte sich um und entschuldigte sich mit einem charmanten Lachen.

 

In diesem Augenblick trat Lucille Chaudieu in die Bar. Tony sah sie sofort, sah ihr Lächeln und sein Herz machte einen Jubelsprung. Da drehte sich Nicoletta ihm wieder zu, Lucille sah die Frau im schwarzen Samtanzug, stoppte, als wäre sie gegen eine Wand gelau­fen und drehte auf den Absätzen um.

Aber Tony nutze die Chance.

»Da ist ja unsere Assistentin«, sagte er in aller Ruhe zu Nicoletta. »Mir fällt gerade ein, dass ich ihr noch ein Fax geben muss.«

Damit nickte er Nicoletta zu, knallte einen Schein auf die Theke und rettete sich in das Foyer. Nach drei Schritten wurde er von Steele abgefangen.

»Was ist mit dem Igelkopf?«

»Was soll sein?«

»Hat sie versucht, Erkundigungen einzuziehen?«

Tony überlegte. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Erkundigungen in diesem Sinne nicht.«

»In welchem Sinne dann?«

»Es macht ihr Spaß, Leute einzuwickeln.«

»Will sie was – Sexuelles?«

Die Brutalität, mit der Steele ihm diese Frage stellte, schockierte Tony ebenso wie die Wortwahl. In solchen Momenten war er immer noch der Sohn von merry old England.

»Wahrscheinlich nicht. Na ja, ich vermute es zumindest … sie äh … hat Spaß daran, so zu tun, als ob … äh …«

»Verbalerotikerin, was?«

»Das nun auch nicht gerade.« Zumindest bei der Beantwortung dieser Frage war sich Tony absolut sicher.

»Ich suche Lucille«, fügte er an.

»Ist eben hier durchgestürmt. Machte ein Gesicht, als wollte sie losheulen. Das Mädchen ist so hilfreich wie ein Dromedar am Südpol.«

Gemeinsam schritten sie zum Aufzug und warteten, bis er in das Erdgeschoss herabge­scheppert kam. Nachdem sie einen älteren Herrn vorgelassen und dann den gusseisernen Korb betreten hatten, drängten sich zwei Frauen in den damit voll besetzten Aufzug. Es waren Nicoletta und eine Unbekannte, die Tony an einem Tisch an der Bar gesehen hatte. Beide unterhielten sich leise, ohne von den anderen Notiz zu nehmen. Nicoletta stand Tony genau gegenüber. Bei jedem Ruckeln des Fahrstuhls gerieten ihre Brüste in eine sanft schwingende Bewegung. Tony war sicher, dass sich ihre Brustwarzen unter dem Samt abdrückten. Er emp­fand es als Erleichterung, als die beiden Frauen grußlos in der zweiten Etage ausstiegen. Eng beieinander, lachend, schritten sie über den Gang.

»Wahrscheinlich ist sie lesbisch«, kommentierte Steele, als er und Tony allein im Aufzug waren.

»Sie ist alles und jedes«, antwortete Tony und war zum ersten Mal sicher, das Wesen Nicoletta di Gregoris ausreichend beschrieben zu haben.

 

Auch am nächsten Morgen ließ sich Lucille nicht blicken. Steele rannte verbissen am Ufer entlang, Tony entschuldigte sich mit seinem noch immer lädierten Knie und blieb im Hotel. Er nutzte die Zeit, um sich mit dem Personal auf etwas vertrauteren Fuß zu stellen. Gespräche über Hotels in aller Welt machten ihm Spaß und außerdem konnte man nie wissen, wozu das Wohlwollen eines Piccolo noch dienlich sein konnte. Am Nachmittag schleppten Stele und Tony Taschen, die so aussahen, als verberge sich eine Fotoausrüstung darin, und Steele gewöhnte sich an, mit Daumen und Zeigefinger beider Hände ein Viereck zu bilden, durch das er wie durch einen Bildrahmen auf die Welt stierte. Zum Glück erschien Lucille abends freiwillig, ohne dass Steele ihre Tür eintreten musste. Gekleidet in flache Schuhe, Jeans und eine Rüschenbluse, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, stellte sie eine Mischung aus professionellem Auftritt besänftigt durch einen Schuss mädchenhafter Unschuld dar. Tony wusste, dass er Augen wie Spiegeleier bekam, und konnte den Blick trotzdem nicht von ihr abwenden. Auch Steele pfiff anerkennend durch die Zähne. Das Mädel hatte punktgenau den Typ getroffen, der Demonti am meisten beeindrucken würde. Lucille stieg gewaltig in Steeles Achtung und das sagte er ihr auch.

»Wie schön«, gab Lucille zuckersüß zurück, »wenn mich hier zumindest einer zu schät­zen weiß!«

Als sie das sagte – sie gingen gerade zum Auto – bekam ihr Gang für einige Schritte einen hüftschwingenden Rhythmus, der sogleich wieder verschwand, um dem kühlen, geraden Ausschreiten einer Geschäftsfrau Platz zu machen. Tony, der hinter den beiden lief, kam sich vor wie ein verhungerter Neandertaler im Angesicht eines Steaks.

Dank seiner ausgezeichneten Reaktionsgeschwindigkeit rettete er sogar seine Fingerkuppen vor der Guillotine der Kofferraumtür, die von Lucille ohne Rücksicht auf Verluste zugeschmettert wurde.

»Huuuhuuuu«, machte Tony und winkte ihr mit der geretteten Hand vor den Augen. »Ich bin auch noch hier.«

»Warum sagst du mir das? Dein penetrantes Aftershave ersetzt einen Leuchtturm.«

»Trotzdem hättest du mir gerade eben fast die Flossen kupiert.«

»So was passiert, wenn man seine Körperteile zu weit in der Gegend herumhängen lässt.«

Damit warf sich Lucille auf den Rücksitz und hämmerte die Tür zu. Deren Oberkante wischte um einen Zentimeter an Tonys Nase vorbei. Weitere Kommunikation zu dem Thema fand nicht statt.

Um zu Demontis Domizil zu gelangen, mussten sie von der Uferstraße abbiegen und über die neue Umgehungsstraße fahren, die sich U-förmig um das alte Loreto legte und die neuen Baugebiete an den Hängen erschloss. Sie kamen an der Schule und dem Kindergarten vorbei. Es waren moderne Gebäude, sauber, hell, großzügig, geradlinig, so praktisch und so einla­dend wie ein elektrischer Stuhl. Es folgten die Klinik und die ersten hohen Wohngebäude. Hinter den Fenstern sah man das Flimmern der Fernseher, das sich manchmal zu einem zei­chenartigen gemeinsamen Flackern ganzer Etagen synchronisierte. Vor den Eingängen lun­gerten einige Jugendliche, rauchten oder bastelten an ihren Mopeds. Der Eindruck war derje­nige eines Nobelslums.

 

Die Villa Demonti lag weiter oben am Hang. Um das Gebäude dem steilen Baugrund anzupassen, hatte der Architekt einen massiven viereckigen Pfeiler von mehreren Metern Seitenlänge und zehn Metern Höhe entworfen. Hier verbargen sich Garagen, ein Aufzug, ein enges Treppenhaus, Abstellräume und Badezimmer. Über dem Pfeiler lagerte ein waagerech­ter, eingeschossiger Baukörper, dessen hinterer Teil sich auf den Steilhang stützte. Der Pfeiler durchstieß diesen waagerechten Teil und überragte ihn um drei Meter. So reichte die Stabilität aus, um dort rundherum Glaswände einzuziehen und den Innenbereich nur durch Stellwände zu unterteilen. Auf dem Dach war ein Garten, den man mit dem Aufzug erreichte und der ein Stück weit in den Hang hineinreichte.

Als Tony vor dem Gebäude stand, war er beeindruckt.

Als Steele vor dem Gebäude stand, war er nicht beeindruckt.

»Da habe ich doch schon schönere Aufbauten auf Flugzeugträgern gesehen«, kommentier­te er nur.

»Ich finde diesen Beton hässlich«, machte Lucille aus ihrer Einschätzung keinen Hehl.

»Dieser Sichtbeton ist ein Ausdruck für Materialehrlichkeit und Verzicht auf verlogene Schnörkel«, gab Tony Tanner zurück. Er fand den Beton auch hässlich, aber er hätte sein Leben für die weltweite Nutzung von Sichtbeton gegeben.

Was folgte war ein quälendes Spiel, denn Steele und Lucille mussten die Fotografen mimen, die sich lohnende Motive suchten, während Tony versuchte, ein Gespräch mit Demonti zu führen, in dem er scheinbar Fragen über dessen Behausung stellte, aber in Wirklichkeit prüfte, wie weit Demonti bereit sein würde, ihnen Tatsachen über die Affäre, die seine Karriere beendete, mitzuteilen.

»Sehen Sie, Signore Demonti«, radebrechte Tony, »wir weigern uns, die Trennung zwi­schen Haus und Bewohner zu vollziehen.«

»Dann weigern Sie sich eben«, gab Demonti ebenso lapidar wie beleidigt zurück. Dadurch ließ sich Tony nicht entmutigen. Er sprang auf und drehte mit erhobenen Armen eine Pirouette.

»Signore, das ist Ihr Haus. Das ist Ihre dritte Haut. Nichts davon ist gebaut worden, ohne dass Sie es so gewollt haben. Aber warum haben Sie es so gewollt? Warum diese Offenheit, dieses Glas, dieser Blick auf das Meer. Warum aber auch diese Höhe des Wohnbereiches, als wäre man auf einem Burgturm. Das wollen unsere Leser auch wissen.«

Damit ließ sich Tony wieder auf das weiße Ledersofa fallen, auf das ihn Demonti genö­tigt hatte. Das Gestühl musste schweineteuer gewesen sein, aber wenn es nach Tony ging, hät­ten dafür weder Wutz noch Elefant – um die Haut von Letzterem handelte es wahrscheinlich ­das Leben lassen müssen. Er saß mit den Knien auf Kinnhöhe und fühlte sich wie im Nussknacker. Mehr Design als Sein, sagte er sich und hakte einen weiteren Punkt auf der Warum Demonti ein Trottel ist-Liste ab.

 

Die Behausung war Tony ebenso unsympathisch wie der Bewohner. Millionenteuer war sie sicherlich ein Glanzlicht moderner Architektur. Aber für Tonys Geschmack war damit wenig Positives gesagt. Noch in Vor-Francine-Zeiten hatte er sich um eine Affäre gebracht, die sowohl ihm, als auch der reizenden, etwas pummeligen, aber enorm knackigen Brünetten zur Bereicherung ihrer amourösen Biografie gedient hätte. Am Abend, bevor es geschehen musste – dass es geschehen würde, war zwischen ihnen, unausgesprochen zwar, aber felsen­fest, abgemacht – saßen sie in einem Pub. Der kommende Widerpart von Tonys sexuellen Verschlingungen schwärmte ihm von ihren Frankreichreisen vor und hob alsdann Le Corbusier in den Himmel.

Tony fühlte sich dadurch ein wenig herausgefordert und hatte Lust, das Gespräch ein wenig gegen den Strich zu bürsten. Nun ja, er hatte ein wenig getrunken und es ärgerte ihn, dass das Objekt seiner Begierde den Eindruck erweckte, als würde es am liebsten sofort ein Kind von Le Corbusier haben. Tonys Sprache war vielleicht etwas unsicher, aber zu seinem Unglück klar verständlich. »Ich finde Le Corbusier aber so was von Erzscheiße«, verkündete er, »diese Wallfahrtskirche von Dingens sieht aus wie ein Flakbunker, das Dach sieht aus, als wäre Pappe vom Sturm hochgedrückt worden und diese Wohnmaschinen, ja, und diese Stadtpläne sind so was von Obersuperdreck. In Maschinen steckt man Schrauben und keine Menschen, und der Plan Paris platt zu machen, um ein paar Hochhäuser zu bauen, da hätte sich Le Corbusier den Schnäuzerführer aus dem kontinentalen Österreich als Baupartner zugesel­len sollen, der wollte Paris ja auch platt machen!« Damit war die Affäre beendet, denn die Brünette schoss in die Höhe wie ein Korken aus der Sektflasche, schaute Tony mit grenzen­loser Verachtung an, zischte noch Faschist und ward fürderhin nicht mehr in Tonys Nähe gesehen. Das Letzte, was Tony von ihr wahrnahm, war der appetitlich wackelnde Popo, der sich Tonys Zugriff leider auf alle Ewigkeit entzog.

Steele erlöste Tony aus seiner Sitzposition, indem er Demonti zu sich bat. Lucille stand bei Tony herum, drehte ihm den Rücken zu und schaute auf die Bucht.

»Lucille, was hältst du von Le Corbusier?«, fragte Tony den schönen Rücken.

»Was soll die Frage?«

»Ich will’ s nur mal gerne wissen.«

Immerhin ließ sich Lucille nun dazu herab, den Kopf zur Seite zu wenden.

»Modernistischer einbetonierter Oberdreckmist, genau wie diese Hütte hier.«

Sie schwieg, drehte sich dann um, weil sie Tonys Blick spürte.

»Was starrst du mich so an«, blaffte sie ungnädig.

»Lucille, darf ich bitte deine Füße küssen?«

Die Frage zauberte einen Ausdruck auf Lucilles Gesicht, der wirklich und wahrhaftig das Prädikat mädchenhafte Unschuld verdiente, wenn auch nur deswegen, weil schöne Frauen nicht wirklich dämlich aus der Seidenwäsche schauen können.

»Du willst meine Füße küssen, ja?«

»Es ist mir ein tiefes Bedürfnis!«

»Warum?«

»Mir ist danach.«

Damit war Lucilles Informationsdrang befriedigt. Sie schob ihr Füßchen in Tonys Richtung.

»Zur freien Bedienung«, sagte sie auffordernd.

Tony Tanner schwante dumpf, dass er an einem Wendepunkt seines Lebens angekommen war. Einerseits wollte er die neuen zarten Bande zu Lucille nicht kappen. Andererseits wurde ihm schlagartig klar, dass seine Kenntnis des Werkes des großen Le Corbusier einfach zu gering war, um apodiktische Verurteilungen zu rechtfertigen. Und dritterseits sah Lucilles schmaler Schuh, ein Exemplar aus rotem Wildleder mit verzierter Schnalle so aus, dass jede Form von Schuhfetischismus gerechtfertigt schien. Vierterseits war er ein Gentleman mit Selbstachtung und fünfterseits Gefühlsleben, sodass sechsterseits …

Fortsetzung folgt …