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Eine schöne Bescherung

Eigentlich konnte gar nichts schief gehen.

Trotzdem war Jack Collins so nervös wie ein Teenager vor dem ersten Date, als er seinen verbeulten Oldsmobile 88 in die schmale Seitengasse lenkte. Vor lauter Vorfreude würgte er beinahe den Motor ab, so nervös, wie er war. Kein Wunder, immerhin hatte er auf diesen Moment über zehn Jahre lang gewartet.

Ein wissendes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er den Wagen schließlich in einer blumenumrankten Parkbucht abstellte.

Hier hat sich überhaupt nichts verändert, dachte Jack. Während auf dem Sterling Boulevard das Großstadtleben förmlich pulsierte, schien hier, keine fünfhundert Yards weiter, die Zeit stehen geblieben zu sein.

Der Lärm der nahen Hauptstraße mit den aufheulenden Automotoren, den grellen Leuchtreklamen und den scheinbar ziellos umherhastenden Menschenmassen drang nur noch schwach zu ihm herüber. Nur einmal in der letzten Viertelstunde, in der er seine Umgebung durch das halb geöffnete Seitenfenster seines Wagens beobachtet hatte, wurde die beinahe schon gespenstisch anmutende Stille dieser kleinbürgerlichen Idylle unterbrochen, als eine junge Frau ihren Kinderwagen auf die andere Straßenseite schob.

Nachdem sie damit in einem nahen Hauseingang verschwunden war, schien alles wieder so wie vorher zu sein. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft, irgendwo bellte ein Hund, lachten Kinder. Scheinbar hatte sich in all den Jahren hier nicht die geringste Kleinigkeit verändert.

Weder die Häuser im Kolonialstil noch die weitläufigen Vorgärten mit den Blumenrabatten und dem akkurat geschnittenen Rasen, der jetzt, Anfang des Sommers bereits in einem satten Grün leuchtete. Noch immer beherrschte die uralte Eiche mit ihren weit ausladenden Ästen das Straßenbild am Ende der Gasse, ebenso wie das schmale Fachwerkhaus mit den kleinen Fenstern aus Buntglas, das dahinter liegende undurchdringlich wirkende Gebüsch und …

Jack Collins begann plötzlich zu zittern.

Er hatte das Gefühl, als hätte sich eine eiskalte Hand um sein Herz gelegt. Die Tatsache, dass dort, wo es noch vor einem Jahrzehnt nichts als Wald, Wiese und undurchdringliches Unterholz gegeben hatte, sich jetzt ein asphaltierter Kinderspielplatz befand, ließ ihn beinahe verrückt werden.

Vor seinen Augen begann sich unvermittelt alles zu drehen, sein Puls raste und seine Handflächen überzogen sich mit kaltem Schweiß.

 

***

 

»Kansas City ist doof!«

Nachdem Claire Bancroft den Schulbus verlassen hatte, kickte sie wütend eine leere Coladose vom Gehsteig. Obwohl der Kalender bereits die letzte Maiwoche anzeigte, war der Wind, der durch die Straßen strich, nasskalt und unangenehm. Fröstelnd zog die vierzehnjährige Highschool Debütantin den Kopf zwischen die Schultern, während sie nach Hause eilte.
Mit jedem Schritt fühlte sie sich mehr in ihrer Ansicht bestätigt, das Kansas City nicht nur kalt, sondern auch unfreundlich und absolut doof war.

Es war Freitagnachmittag, kurz nach fünf und für Claire der letzte Tag ihrer ersten Woche in der neuen Schule. Vor knapp einem Monat war sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder hierher in die Stadt gezogen und bis jetzt hatte immer noch niemand auch nur die geringsten Anstalten gemacht, sich mit ihr anzufreunden.

Dabei hatte sie doch nächsten Sonntag Geburtstag.

Was soll ich bloß an diesem 5. Juni in einer fremden Stadt ohne Freunde anstellen, fragte sie sich, während sie langsam nach Hause trottete. Ich kann doch an diesem Tag nicht nur mit meinen Eltern und meinem nervigen Bruder vor dem Fernseher sitzen und Hamburger essen.

In diesem Moment tippte ihr jemand von hinten auf die Schultern.

Erschrocken wirbelte Claire auf dem Absatz herum und starrte in zwei Augen, die von einem solchen intensiven Blau waren, das sie einen Moment lang befürchtete, geblendet zu werden.

Der Anblick verschlug ihr fast die Sprache.

Der Junge war gut einen Kopf größer als sie, etwa in ihrem Alter und hatte kurze, weizenblonde Haare, die ihm wirr vom Kopf abstanden.

»Hallo«, sagte er. »Ich heiße Frank.«

»Hallo«, entgegnete Claire und stellte sich ebenfalls vor.

»Bist du neu hier?«, fragte Frank. »Ich meine, ich habe dich bisher noch nie hier in der Gegend gesehen.«

Claire nickte. »Wir sind erst letzten Monat hierher gezogen.«

»Ach so, na dann sehen wir uns ja in Zukunft wohl öfter«, erwiderte Frank und deutete auf ein zweistöckiges, efeuumranktes Haus auf der anderen Straßenseite. »Ich wohne übrigens da.«

»Ich wohne in der Baker Street«, entgegnete Claire.

»Ach so«, sagte Frank und gab sich plötzlich auffallend reserviert.

Bestimmt, dachte Claire, weil er weiß, dass jene Wohngegend, von der ich erzähle, nicht gerade als beste Lage der Stadt bekannt ist. Obwohl es dort auch anständige Familien gab, wusste Claire um den zweifelhaften Ruf dieser Gegend.

Außer Arbeiterfamilien und jede Menge alter Leute beherrschten dort hauptsächlich Kleinkriminelle, Junkies und Schwarze das Straßenbild.

»Was hältst du eigentlich von der neuen Mathelehrerin?«, versuchte sie deshalb das Thema zu wechseln. »Die Alte hat doch einen Schuss, oder? Wie kann man über das Wochenende nur so viele Hausaufgaben aufgeben?«

Frank stimmte ihr kommentarlos zu, und ehe sich die beiden versahen, tauschten sie bereits auf ihrem ersten gemeinsamen Nachhauseweg ihre Ansichten zu Lieblingssängern, Lieblingsfootballteams und nervigen Lehrern aus. Danach folgten die Telefonnummern.

»Also dann bis Montag!«, hörte sie Frank plötzlich sagen.

Erst da wurde Claire bewusst, dass sie bereits vor dem Eingang zu ihrem Wohnhaus standen.

Als sie den Kopf drehte, war es für eine Antwort zu spät.

Bedrückt musste sie mit ansehen, wie Frank die Straße wieder zurücklief.

Ist der süß!, dachte sie, während sie das Haus betrat.

Wortlos rannte sie die Treppe hoch, öffnete die Wohnungstür und warf sich in ihrem Zimmer auf das Bett. Danach träumte sie nur noch von Augen, die so blau und klar wie ein Bergsee waren.


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