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Die Witwe

die-witweFiona Barton
Die Witwe
Originaltitel: The Widow

Krimi Thriller, Download, ungekürzte Lesung, Argon Hörbuch, Berlin, Mai 2016, 649 Minuten, 20,95 Euro, ISBN 978-3-8398-1476-5, aus dem Englischen von Sabine Längsfeld, gelesen von Andrea Sawatzki, Dietmar Wunder, Tanja Geke, Uve Teschner, Monika Oschek , Regie: Christian Päschk
Die Buchausgabe ist im Wunderlich Verlag erschienen.
www.argon-verlag.de

Ich höre die knirschenden Schritte auf dem Weg. Ein entschlossener Gang auf hohen Absätzen. Sie ist schon fast an der Tür, zögert, streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Hübsches Outfit. Mantel mit großen Knöpfen, darunter ein stilvolles Kleid, die Brille auf den Kopf zurück geschoben. Keine Zeugin Jehovas und auch nicht von der Labour-Party. Muss von der Presse sein. Aber keine von der üblichen Sorte Reporter. Sie ist schon der Zweite heute. Macht diese Woche insgesamt vier, dabei ist erst Mittwoch. Wetten sie sagt »Es tut mir furchtbar leid, sie in dieser schwierigen Situation zu belästigen.« Das sagen sie nämlich alle und machen dabei dieses dämliche Gesicht. Als würde die das kümmern. Ich werde abwarten, ob sie ein zweites Mal klingelt.

2006 verschwindet die zweijährige Bella Elliott aus dem Vorgarten ihres Elternhauses. Verdächtigt wird der Kurierfahrer und ehemalige Bankangestellte Glenn Taylor, der mit seinem Lieferwagen im passenden Zeitfester in der Gegend gesehen wurde. Die Nachforschungen der Polizei fördern außerdem illegales und schwer belastendes Material auf seinem Computer zutage, das den Verdacht gegen ihn erhärtet. Für Inspektor Bob Sparkes fügten sich die Hinweise zu einem eindeutigen Bild, doch es gelingt nicht, Taylor die Tat eindeutig nachzuweisen. Eine Leiche wird nicht gefunden. 2010 wird Glen Taylor im Beisein seiner Frau vor einem Supermarkt von einem Bus überfahren und gerät so erneut in die Schlagzeilen. Die Pressemeute schießt sich auf Glens Ehefrau Jean ein, die nun endlich ihr Schweigen bricht.

Ich kann ihr nicht erzählen, wie ich nachts immer im Dunkeln klag und mir wünschte, Glen wäre tot. Na ja, nicht direkt tot, ich wollte ja nicht, dass er Schmerzen hat oder irgendwie leiden muss, ich wollte einfach nur, dass er weg ist. Ich malte mir immer den Augenblick aus, wie es wäre, wenn ich den Anruf von der Polizei bekäme. »Mrs. Taylor«, würde eine tiefe Stimme sagen, »es tut mir sehr leid, aber ich habe schlechte Nachrichten.« Und die Vorahnung des nächsten Satzes brachte mich jedes Mal beinahe zum Kichern. »Mrs. Taylor, es tut mir leid. Ihr Mann ist bei einem Unfall ums Leben gekommen.«

Mitten im Geschehen steigt Fiona Barton in diesen Thriller ein. Das heißt, sogar ziemlich am Ende, denn Glenn Taylor, dem seit Jahren der Nimbus des Kinderschänders und -mörders anhängt, ist seit etwa drei Wochen tot. Da klingelt Kate Waters an Jean Taylors Haustür, eine weitere Journalistin auf der Jagd nach der nächsten Schlagzeile. Doch der Profi drängt die Witwe nicht, gibt sich einfühlsam genug, um ein Vertrauensverhältnis zu der labilen und einfältigen Jean aufzubauen und sie für ein Exklusivinterview zu ködern. Hier bricht Fiona Barton die geradlinige Erzählstruktur auf, springt in die Vergangenheit und zu Inspektor Bob Sparkes, der damals im Fall Ella die Ermittlungen geführt hatte. Aus diesen Erzählteilen und aus Jeans Erinnerungen erfährt der Leser, was eigentlich passiert ist, das den verstorbenen Glenn Taylor damals in den Fokus der Presse gerückt hat. Schon bald wird dabei klar, dass der vermeintliche Traummann ein überheblicher und selbstverliebter Kontrollfreak ist, dem die einfältige Jean als braves Frauchen gerade recht kommt. Nach einigen Ehejahren holt sich Glenn seine Kicks dann lieber im Internet als bei seiner Ehefrau. Von was hier die Rede ist, ahnt der erfahrene Thrillerkonsument natürlich recht schnell und spätestens, sobald die Autorin beginnt, den Erzählstrang um die verschwundene Bella Elliott einzuflechten. Andeutungen, warum Glenn seine Arbeit als Bankangestellter verloren hat und das zweifelhafte Hobby, das er mit einem Kurierfahrerkollegen teilt, gießen weiteres Wasser auf die Verdachtsmühlen. Doch ist es wirklich so einfach? Mit der Erwähnung von Jeans unerfülltem Kinderwunsch, der leicht bizarre Züge annimmt, und mit der Eröffnung, dass auch Bellas Mutter Dawn kein Kind von Traurigkeit ist – Bella ist das Ergebnis einer Affäre mit einem verheirateten Mann – schürt Fiona Barton die Zweifel nicht nur bei den Gesetzeshütern in ihrer Geschichte, sondern auch beim Leser. Das vermeintlich klare Bild wird wieder unscharf, die zuvor perfekten Puzzlestücke scheinen doch nicht so richtig zu passen. Zeitweise ruht der Fall sogar, die meisten Beamten werden nach einer gewissen Zeit abgezogen, doch Sparkes gibt den Fall nie ganz auf und greift über die Jahre begierig die kleinsten Hinweise auf den Fall Bella auf.

So hat Fiona Barton ein interessantes und gut durchdachtes Thriller-Drama mit einigen unvorhersehbaren Wendungen, das seine Spannung im Wesentlichen aus der aufgebrochenen Chronologie, den unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Geschehen und dem damit herbeigeführten puzzleartigen Aufbau zieht. Doch auch die Figuren und die Verbindungen, die die Autorin knüpft, können überzeugen. Dankenswerterweise sind den einzelnen Kapiteln das jeweilige Datum und der jeweilige Hauptakteur (Die Witwe, die Journalistin, der Polizist, der Ehemann, die Mutter) vorangestellt.

Laut eigener Aussage kam Fiona Barton die Idee zu dem Roman bei der Frage, wie denn die Szene, deren Zeugin sie als Reporterin regelmäßig vor Gericht wurde, denn zuhause weiter gehen. Auch ist dem Roman anzumerken, dass Fiona Barton selbst Journalistin ist. Sie enthüllt die Mechanismen und Tricks der Journalisten, nur um an die nächste Schlagzeile zu kommen. Vorgetäuschtes Mitgefühl, eine Chance für die Betroffenen, endlich die eigene Sicht der Ereignisse zu schildern. Ich möchte helfen bedeutet hier Ich brauche dringend eine Story.

Dem Roman ist durchgehend von einer ruhigen Spannung getragen, die nicht wenigen Thriller aus Großbritannien zu eigen ist. Fans von Tana Frenchs Dublin Murder Squad-Reihe werden auch hier auf ihre Kosten kommen. Außerdem eine Empfehlung für alle, die einen Nachfolger für Girl on the Train suchen.

Das Hörbuch

Die Hörbuchumsetzung wurde mit gleich fünf namhaften Sprechern realisiert und gehört damit zu denjenigen Exemplaren, die die Stärken des Mediums wirklich ausspielen und, verglichen mit dem gedruckten Buch, eine zusätzliche Erlebnisebene ermöglichen. Schauspielerin Andrea Sawatzki gibt wunderbar die scheinbar naive Friseurin Jean Taylor, die sich nach dem Tod ihres Mannes nahezu hilflos der Presse ausgesetzt sieht, Tanja Geke (Synchro Zoe Saldana) spielt die abgeklärte Reporterin Kate Waters, die professionell genug ist, eine Verbindung zu Jean aufzubauen und zu einem Interview zu überreden. Den dritten großen Part übernimmt Dietmar Wunder (Synchro Daniel Craig), der sehr ruhig und besonnen die Sichtweise von Inspektor Bob Sparkes einnimmt. Kleinere Teile lesen Schauspielerin Monika Oschek als Bellas Mutter Dawn und der großartige Uve Teschner als pädophiler Glenn Taylor, dem es wieder einmal gelingt, latenten Wahnsinn in seine Lesung einzubringen. Nicht umsonst wurde er als Leser für Audibles Richard Laymon-Hörbücher ausgewählt. Der Part von Jean Taylor wird in der Ich-Form vorgetragen, alle anderen in der dritten Person, wobei jeder Interpret auch wieder mit seiner Stimme andere Charaktere spielt.

Mit dieser Lesung in verteilten Rollen erinnert Die Witwe stark an die Hörbuchumsetzung von Paula Hawkins Girl on the Train, mit dem es auch den puzzleartigen Aufbau und die Verwendung verschiedener Erzählperspektiven teilt.

Alternativ zum vorliegenden ungekürzten Download, der exklusiv über Audible angeboten wird, ist direkt beim Argon Verlag oder im Buchhandel eine gekürzte Lesefassung (437 Minuten Laufzeit) ebenfalls als Download oder als 6-CD-Box erhältlich.

Fazit:
Puzzleartiger Thriller für alle, die Paula Hawkins Girl on the Train mochten, in glänzend gelungener Hörbuchumsetzung.

(eh)