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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Gespenster – Erster Teil – Siebzehnte Erzählung

Die-GespensterDie Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Erster Teil
Siebzehnte Erzählung

Von dem spukhaften Poltern und Wimmern, welches einmal unter den Leichnamen der Anatomie zu Paris gehört wurde

Zu Anfang des Jahres 1746 fand man zu Paris einen geisteskranken jungen Menschen in den letzten Zuckungen des Todes auf seinem Zimmer. Da man ihn noch kurz vorher, dem Anschein nach, vollkommen gesund auf der Straße gesehen hatte, so vermutete man nicht ohne viel Wahrscheinlichkeit, dass er eines gewaltsamen Todes gestorben sein müsse. Es wurden deshalb gerichtliche Untersuchungen darüber angestellt. Man fand in seiner Tasche nicht nur den Überrest des genommenen Giftes, sondern auch einen Brief von seiner Hand, welcher seine Schwermut und den gefassten Entschluss beurkundete, sich eigenmächtig und gewaltsam das Leben zu nehmen, welches ihm zur Last sei, indem es ihm an Mut und Kraft fehle, die Bürden desselben länger zu ertragen.

Da sich ohnehin auch bald die Spuren eines vergifteten Körpers deutlich an ihm zeigten, so wurde er der Pariser Anatomie, welche unter anderen auch alle Selbstmörder zu zergliedern pflegt, zugeschickt. Vorsteher dieses anatomischen Theaters war damals der berühmte Arzt J. J. Brühier. Unter den jungen Studenten, welche er zu unterrichten hatte, befand sich einer, der die Leichname ohne den geringsten Ekel und Widerwillen durchwühlen und kunstmäßig in tausend Teilchen zerstückeln konnte. Nur dann überfielen ihn allemal ein unwillkürliches Schaudern und eine unüberwindliche Abscheu, wenn ein Selbstmörder seziert werden musste. Sein Schlafzimmer stieß unmittelbar an den Saal, in welchem die zum Zergliedern bestimmten Kadaver lagen, deren, besonders im Winter, oft eine ganze Menge war. Da er aber schon daran gewöhnt und eben nicht graulich war, so schlief er deshalb doch sehr ruhig und sanft. Nur dann war er etwas ängstlich und schreckte zuweilen im Schlaf auf, wenn er wusste, dass sich unter den Kadavern im Nebenzimmer einmal wieder der Leichnam eines Selbstmörders befinde.

Eine solche unruhige Nacht hatte er unter anderen auch zwischen dem 7. und 8. Februar 1746, weil er wusste, dass unter mehreren Leichen auch diejenige des vorhin erwähnten jungen Menschen, der sich vergiftet hatte, auf die Anatomie gebracht war. Ihn dünkte es gegen Mitternacht einige Male, als würde er von einem leisen Geräusch geweckt, das aus dem benachbarten Saal käme. Er schrieb dies indessen auf Rechnung seiner Einbildungskraft, die ihm im Schlummer dergleichen schon oft vorgegaukelt hatte. Er suchte es sich daher aus dem Sinn zu schlagen und schlief bald wieder ein. Aber um Mitternacht weckten ihn ähnliche Töne, die viel vernehmlicher waren als die vorigen. Er richtete sich im Bett auf und horchte mit klopfender Brust. Es war seinen Ohren, als ob unter den Leichen in seiner Nähe ein Lebender umherwanke.

Ich sollte doch nicht glauben, dachte er bei sich selbst, dass man uns eine Leiche stehlen wird.

Es wurde bald wieder still, aber er konnte nun nicht wieder entschlafen. Auch erneuerte sich das Geräusch. Indessen kam es ihm jetzt vor, als klopfe jemand auf den Tisch. Aber dabei blieb es nicht. Jetzt drang zu seinen horchenden Ohren auch ein leises Klagen, ein sommerliches Wimmern, das aus angstvoller Brust zu kommen schien. Zentnerschwer fiel ihm dabei der Selbstmörder aufs Herz.

Wie, dachte er, sollte der Geist dieses Unglücklichen keine Ruhe finden können und jetzt die Hülle wieder besuchen, von welcher er sich durch Gift gewaltsam losriss.

Beides, dieser Gedanke und jene Töne folterten ihn entsetzlich. Der Angstschweiß brach an seinem ganzen Leib aus. Er verbarg sich tief unter die Bettdecke, um seine Ohren jenem schauderhaften Angstgeschrei zu entziehen. Aber auch da noch hörte er ein anhaltendes Klagen, so andringend und rührend, dass es ein Herz von Stein hätte erweichen mögen. Jetzt ward ihm seine Lage fast unerträglich. Er zitterte am ganzen Leib. Wie gern wäre er dem wehklagenden Selbstmörder zu Hilfe geeilt! Aber wie, dachte er, wie soll ich ohnmächtiger Mensch die Seele eines Verdammten von ihrer Qual erlösen? Nun war ihm, als wollte er aus dem Bett springen und davonlaufen. Allein er hatte sich kraftlos geängstigt, und es fehlte ihm wirklich auch noch an Entschlossenheit, den ersten Fuß zum Bett hinauszusetzen.

Ihm blieb nichts übrig als geduldiges Harren auf die Rückkehr des neuen Tages und neuer Kräfte. Eine ganze Stunde lang drang aus dem anatomischen Saal zu seinen Ohren ein herzzerschneidendes Wimmern, das nur durch kurze Pausen unterbrochen wurde, und zuletzt an Hörbarkeit immer mehr und mehr abnahm. Kaum war die Stunde der Gespenster vorüber, so war alles ruhig, und ihn belästigten keine unerklärbaren Töne mehr. Um seinen Schlaf für diese Nacht war es indessen geschehen, und er harrte mit schmerzlicher Sehnsucht der Morgenröte.

Des nächsten Morgens hatte er nichts Eiligeres zu tun, als seinem Lehrer, dem Professor Brühier, Bericht von dem erlebten nächtlichen Abenteuer abzustatten. Er hatte seine Erzählung kaum halb geendet, so schrie ihm dieser menschenfreundliche und erfahrene Arzt entgegen: »Gott im Himmel! Und Sie eilten nicht sogleich oder vielleicht gar nicht zu Hilfe?«

Brühier eilte, ohne die stockende Antwort abzuwarten, zu jenen Leichnamen, in der Hoffnung, dass es vielleicht noch Zeit sei, irgendeinem Wiedererwachten, der vielleicht als Scheintoter in die Anatomie geliefert sein mochte, seine hilfreiche Hand zu reichen. Aber leider! Es war viel zu spät! Die Stunde, wo leicht hätte geholfen werden können, war unter jenem vergeblichen Wimmern und Hilferufen schon mit der Stunde der Gespenster verschwunden.

Hier ist der Schlüssel zu dem Rätsel: Ein junges Bauermädchen aus der Nachbarschaft von Paris hatte kurz vor Weihnachten 1745 im Hotel Dien ihre Wochen gehalten. In den ersten Tagen des Februars 1746 wollte sie dahin zurückkehren. Unterwegs fiel sie in eine Ohnmacht. Man brachte sie in ein Bett, und sie erholte sich wieder. Bald darauf aber erfolgte ein Rückfall, eine zweite Ohnmacht, in welcher man sie, eine halbe Stunde nachher, ihren Geist aufgeben sah. Man hielt sie nämlich für wirklich tot, und doch war sie nur scheintot. Man ließ den Vorstehern des anatomischen Theaters sagen, dass sie sich diese Leiche abholen lassen möchten. Zufälligerweise geschah dies an dem nämlichen Tag, wo man jenen Selbstmörder holen ließ – am 7. Februar.

Die ohnmächtige Scheintote wurde nackt zu den übrigen Leichen gelegt, welche damals auf der Anatomie vorrätig waren, ohne alle Bedeckung musste sie frieren. Dennoch siegte diesmal, wiewohl zu ihrem Unglück, die Stärke ihrer Natur. Gegen Mitternacht nämlich erwachten ihre bis dahin schlummernden Lebenskräfte. Sie wimmerte in ihrem hilflosen und doch so äußerst hilfsbedürftigen Zustand. Längs einer langen Tafel, welche in ihrer Nähe stand, war sie in der Angst einige Schritte vorwärts gegangen und hatte wahrscheinlich auf diesen Tisch geklopft, um so Hilfe herbeizurufen. Beides, ihr Poltern und ihr Angstgeschrei, waren gehört worden, aber nur von einem durch seine Furchtsamkeit mörderischen Tor, der voller Wahnglauben an Übernatürlichkeiten dachte, anstatt natürliche Ereignisse zu ahnden. Die zur unglücklichsten Stunde Wiedererwachte hatte, so hilflos, wie sie war, ihren Geist nun wirklich aufgeben müssen, und schlief nun den eisernen Todesschlaf. Der Professor fand sie, die man tags zuvor an die Erde auf ein wenig Stroh mitten unter die übrigen Leichen gelegt hatte, schon steif gefroren, indem sie, einige Schritte von den Leichen entfernt, halb aufrecht an jenem Tisch stand, und mit dem oberen Teil ihres Körpers über den Tisch hingebogen war.

Ein womöglich noch traurigeres Los traf den bedauernswürdigen Kardinal Espinosa, Ersten Staatsminister König Philipps des Zweiten von Spanien, unter den Händen seiner Anatomiker. Man hielt auch ihn für tot, da er nur in einer langanhaltenden, dem Tod ähnlichen Betäubung und Kraftlosigkeit lag. Den Seinen war dieser unvermutet und plötzlich erfolgte Todesfall verdächtig. Man wollte wissen, woran er gestorben sei. Da sein Körper ohnehin, der Gewohnheit gemäß, einbalsamiert werden sollte, so ließ man ihn sezieren, um zugleich zu erforschen, ob er vielleicht vergiftet sei.

Die Anatomiker wühlten schon frisch in seinem Fleisch umher und taten eben einen tödlichen Schnitt in die Brust, da erwachte plötzlich seine bis dahin schlummernde Lebenskraft wieder. Man sah mit Entsetzen, dass der Kardinal seine Hand nach dem Messer hin bewegte. Leider kam dies Zeichen des Lebens um einen Augenblick zu spät, denn man hatte gerade dem vermeinten Leichnam die Lunge ausgeschnitten. Das unglückliche Schlachtopfer der Unerfahrenheit und Behutsamkeit starb den schaudervollsten Tod.