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Der Welt-Detektiv Band 6

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Jokars Unvollendete

Jokars Unvollendete

I

In Delanien wirkte vor langer Zeit der große Musiker Jokar. Er hatte verschiedene Opern, eine Reihe von Orchesterstücken und auch neun Sinfonien geschrieben, bevor er kurz vor seinem Tode eine zehnte Sinfonie anfing und die ersten beiden Sätze vollendete. Während der Arbeit am dritten Satz aber verstarb er plötzlich und unerwartet.

Jokars zehnte Sinfonie entwickelte über seinen Tod hinaus magische Kraft. Wann immer jemand, der etwas von Musik verstand, sie anhörte, um sie zu vollenden, wurde er taub und blind. Es hieß, nur dann, wenn einmal ein Musiker, der Jokar ebenbürtig sei, diese anhöre, könne er sie auch vollenden.

Galdos, ein talentierter Klavierspieler, wurde etwa zwanzig Jahre nach Jokars Tod zum ersten Hofmusiker des Königs von Delanien berufen. Er wachte eifersüchtig darüber, dass er der beim König beliebteste Musiker des Landes blieb. Er forderte von begabten Musikern, die in den Dienst des Königs eintreten und mit ihm konkurrieren wollten, dass sie Jokars Zehnte vollendeten, und ließ ihnen die ersten beiden Sätze vorspielen. Sie alle wurden auf diese Weise taub und blind, denn keiner von ihnen hatte das Format des großen Jokar.

Nach einigen Jahren hatte sich dann im ganzen Land herumgesprochen, dass alle, die es gewagt hatten, gegen Galdos anzutreten, taub und blind geworden waren. So blieb der böse Galdos erster Hofmusiker des Königs und niemand machte ihm fortan diese Position streitig, denn keinen gelüstete es danach, taub und blind zu werden.

II

Zehn Jahre nach diesen Ereignissen wurde im kleinen Dorf Tesson, das ganz im Süden von Delanien lag, der erste Sohn eines Müllers und seiner Frau geboren. Der Kleine bekam den Namen Lanzo und wuchs in Frieden und Harmonie heran.

Als Lanzo vier Jahre alt war, stellte sich bereits heraus, dass er ausgesprochen musikalisch war und der Pfarrer des Dorfes, der das Talent des Jungen erkannt hatte, förderte Lanzo, wo er nur konnte. Bereits mit sechs Jahren konnte der Müllerssohn das Klavier des Pfarrers und auch die Orgel in der Dorfkirche nahezu perfekt spielen und er begann bereits mit der Komposition eigener Stücke. Im Alter von achtzehn Jahren konnte ihm kein Musiker des Landes mehr auf seinem Gebiet etwas vormachen und Lanzo überlegte, ob er nicht zum Hof des Königs ziehen und sich dort als Musiker bewerben sollte.

»Geh nur zum König, Liebster«, ermunterte ihn auch seine Freundin Fieja, ein hübsches junges Mädchen aus dem Nachbardorf. »Du bist der beste Musiker des Landes, und selbst Galdos, der erste Hofmusiker des Königs, wird nicht dazu in der Lage sein, es mit dir aufzunehmen.«

»Das wird nicht das Problem sein, Fieja«, sprach Lanzo daraufhin. »Es heißt, nur der, der dem großen Jokar gleich ist, kann Galdos als ersten Hofmusiker ablösen. Ob meine Fähigkeiten auf dem Gebiet der Musik nun tatsächlich so groß sind, weiß ich natürlich nicht.«

»Mach dir keine Gedanken!«, sagte Fieja. »Alle, die etwas von Musik verstehen, haben gesagt, du würdest einmal so groß wie die größten Musiker der ganzen Welt werden. Ich glaube an dich! Nimm nur den Wettstreit mit Galdos auf!«

Lanzo war sich zwar nicht ganz sicher, dass er die Aufgabe lösen könnte, die ihm Galdos stellen würde, aber er wollte den Kampf mit ihm aufnehmen, um Fieja eine schöne und sorgenfreie Zukunft bieten zu können. So schnürte er wenig später sein Bündel und machte sich auf zum Hof des Königs …

III

Als Lanzo den Königshof erreicht hatte, ließ er sich sofort zu Galdos bringen. Dieser musterte ihn von oben bis unten und fragte dann: »Wie heißt du und was führt dich zu mir?«

»Mein Name ist Lanzo«, erwiderte der junge Musiker. »Ich bin hergekommen, um mich um die Position des ersten Hofmusikers des Königs zu bewerben.«

Die Miene des Galdos verfinsterte sich. Dann sprach er: »Nur der, der die Unvollendete des Jokar vollenden kann, wird mich ablösen. Traust du dir das zu?«

»Ich will es versuchen«, antwortete Lanzo.

»So sei es!«, sagte Galdos böse grinsend. »Folge mir!«

Er führte Lanzo zum Konzertsaal, in welchem gerade das Orchester des Königs probte. Dort befahl er dem jungen Mann, sich in den Zuhörerraum zu setzen und wies das Orchester an, die Zehnte Jokars zu spielen. Als aber die ersten beiden Sätze des Stücks ertönten, wurde auch Lanzo taub und blind.

»Siehst du, Junge«, triumphierte Galdos, »auch du bist nicht so groß wie Jokar! Ich werde dich von einem Kutscher des Königs nach Hause bringen lassen.«

Wie Galdos es gesagt hatte, so geschah es und Lanzo war einige Tagesreisen später zurück in Tesson, wo ihn seine alten Eltern weinend in Empfang nahmen.

IV

»Was der böse Galdos mit dir gemacht hat, ist einfach furchtbar!«, sagte Fieja zu Lanzo, nachdem sie von ihm erfahren hatte, was am Hof des Königs mit ihrem Liebsten geschehen war.

Dann führte sie ihn zum Sofa, das an der Wand ihres Zimmers stand, und bat ihn, darauf Platz zu nehmen. Als er sich hingesetzt hatte, setzte sie sich zu ihm, nahm ihn in die Arme und betrachtete sein Gesicht. Sie fand es schrecklich, dass seine schönen Augen sie nun nicht mehr ansehen konnten. Schließlich tropften ihre Tränen auf Lanzos Hände herab.

Da aber erschien vor Lanzos geistigem Auge das Sinfonieorchester des Königs. Die Musiker spielten Jokars Zehnte, aber nicht nur die ersten beiden, sondern alle vier Sätze. Kaum waren sie damit fertig, da verschwanden sie wieder und Lanzo öffnete die Augen und konnte wieder hören und sehen.

Er schaute seiner Liebsten in die Augen und küsste sie zärtlich. Dann nahm er Papier und Feder zur Hand und schrieb aus dem Gedächtnis die Noten der beiden letzten Sätze der Zehnten des Meisters auf, wie er sie gerade gehört hatte. Noch am selben Tag reiste er zum Königshof zurück und bat diesen darum, dass sein Orchester die ganze zehnte Sinfonie Jokars spielen dürfe. Der König war erstaunt, aber er wollte natürlich die Ergänzung des jungen Mannes hören. Also ließ er sein Orchester antreten. Als aber die göttliche Musik der letzten beiden Sätze des Werkes ertönte, wurde Galdos, den der König hatte herbeiholen lassen, blind und taub und alle Musiker, die durch ihn dasselbe Schicksal erlitten hatten, konnten fortan wieder hören und sehen.

Der König war vor der zehnten Sinfonie des Jokar, die er nun in Vollendung hören konnte, begeistert und ernannte Lanzo sofort zu seinem ersten Hofmusiker. Dieser heiratete alsbald seine Fieja und sie bekamen drei Kinder.

In den folgenden Jahren seines langen Lebens komponierte Lanzo die schönste Musik, die das Land Delanien seit dem Tod Jokars hervorgebracht hat.

(hb)