Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Die Frau und die Schlange

Die Frau und die Schlange

Vor gar nicht allzu langer Zeit lebte hinter einem dicken Stein eine Schlange. Sie war nicht groß oder schön, sondern sie hatte die Länge eines mittleren Holzstabes und ihre Farbe ähnelte der des braun – verdorrten Grases am Ende eines heißen Sommers. Aber dennoch war die Schlange etwas Besonderes, und die wenigen Menschen, die jemals von ihr gehört hatten, fürchteten sich vor ihr, denn sie besaß die Gabe, Flammen erscheinen lassen zu können.

Sie verbarg sich meist hinter einem großen Stein, der vor einer kleinen Höhle lag. Dieses Loch hatte sie sich schon vor langer Zeit gegraben und bewohnte sie es, ohne dass irgendjemand davon wusste.

Des Tags döste sie vor sich hin, des Nachts blickte sie in die Sterne und lauschte den leisen Geräuschen der Nachttiere, während sie ihren Gedanken nachhing.

Selbst der junge Bauer, der das Feld beackerte, auf dem der Stein lag, wusste lange Zeit nichts von ihr, außer den Märchen, die die alten Frauen des Dorfes über die seltsame, Feuer speiende Schlange erzählten. Aber auf diese achtete er wenig.

Der junge Bauer war fleißig und sein Hof gedieh. Das Vieh tummelte sich auf den Weiden und das Korn trug reiche Frucht. Selten starb eines der Kälber oder verwüstete der Hagel eines der Felder. Und er freute sich an seinem Glück und die Schlange mit ihm. Und selten, ganz selten, zeigte sie sich zusammengerollt auf dem Stein, wenn er den Pflug vorüberführte. Der Bauer nickte ihr zu und bewunderte das braune Farbspiel auf ihren Schuppen im Sonnenlicht, denn er mochte die Tiere.

 

Eines Tages, im zeitigen Frühjahr, fuhr der Bauer mit der Heukarre über den Feldweg. Er lachte und trieb sein Pferdchen an. Neben ihm saß eine junge Frau, rotwangig und über das ganze Gesicht strahlend. Einen Arm hatte sie leicht um den jungen Mann gelegt und sie redete mit angenehmer Stimme zu ihm.

Die junge Frau kam des Öfteren zum Feld in der Mittagszeit, um ihrem Mann in einem Topf das Essen zu bringen und noch ein Weilchen bei ihm sitzen zu bleiben, und um ihm zuzusehen, wenn er es verzehrte. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, der Schlange von dem Eintopf ein oder zwei Löffel abzugeben, damit sie davon probieren könne. Zuerst wunderte seine Frau sich darüber, aber dann sah sie das schöne Braun auf den Schuppen des Tieres und bemerkte seine Zufriedenheit, wenn es ruhig in den Strahlen der Sonne vor sich hindösen konnte. Und auch die Frau lernte, die Schlange zu mögen und brachte ihr sogar mit der Zeit ein wenig von der Milch mit, die sie von ihren Kühen molk.

Die Schlange freute sich darüber, während ihre Schuppen immer schöner in der Sonne glänzten.

Im Jahr darauf hatte die Frau einen Säugling auf dem Arm, dessen Anblick jedes Mal ein frohes Lachen auf das Gesicht des Mannes zauberte, das von seiner Frau erwidert wurde.

Die Schlange verlor ihre alte Scheu vor den Menschen und schaute ihnen nun öfters zu.

Das Kind lernte laufen, wuchs und im Jahr darauf hielt es seine kleine Schwester an der Hand, die es jedes Mal, wenn sie in eine der Furchen stolperte, die der Vater gerade gepflügt hatte, herauszog, ihr die Erde aus dem Kleidchen klopfte und wieder auf die wackeligen Beine stellte.

Der junge Bauer freute sich an seiner Familie, und die Schlange, die nun zusammengerollt oben auf dem Stein saß, freute sich mit ihm.

 

So verfloss die Zeit.

 

Dann begannen fremde Menschen über das Land zu ziehen, zuerst nur wenige, alsdann immer mehr. Sie hatten hoch beladene Wagen dabei, vor denen magere Ochsen gespannt waren. Ganze Familien zogen so dahin. Die Alten und kleinen Kinder saßen hoch oben auf dem Hausrat, der sich auf den Wagen türmte, die kräftigen Erwachsenen halfen den Ochsen ziehen oder drückten von hinten die Wagen den Hügel hinauf. Sie schauten ängstlich drein aus ihren mageren Gesichtern, und oft weinten die Kinder.

Die Schlange verkroch sich unter ihrem Stein, um bessere Zeiten abzuwarten.

Auch der Bauer war nicht mehr fröhlich, wenn er eilig seine Arbeit auf dem Feld verrichtete, und er brachte nun sein Mittagessen selbst mit, das er schnell verzehrte, nur um bald wieder bei seiner Familie auf dem Hof sein zu können. Er hatte Angst um sie, denn durch das Land marschierten die Soldaten, die alles, was sie nicht forttragen konnten, in Flammen aufgehen ließen.

Eines Abends kamen sie auch den Weg an seinem Feld entlang und ließen den Stein unter ihren schweren Tritten vibrieren. Die Schlange züngelte ein kleines Flämmchen in ihrer Höhle, rührte sich aber nicht hervor, bis die Männer vorbeigegangen waren in der Dunkelheit, die noch in derselben Nacht durch hellen Feuerschein erleuchtet wurde.

 

Der Bauer musste nun mit seiner Familie fliehen, denn sein Hof war niedergebrannt worden, wie so viele andere auch. Mitten in der Nacht, nur das Nötigste zusammengepackt, lief er mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern auf sein Feld hinaus, um sich zu verbergen. Neben dem Stein rasteten sie und schauten über das Korn, das schon halbhoch stand, zu ihrem Hof hinüber. Nur noch qualmendes Mauerwerk war von ihm übrig geblieben. Sie waren erschöpft und verzweifelt. Und sie fragten sich, wo sie hin sollten mit dem Wenigen, das sie bei ihrem überstürzten Aufbruch mitnehmen konnten.

Sie besaßen nichts mehr außer dem zerstörten Hof und diesem einen Feld, auf dem die diesjährige Ernte wuchs.

Die Schlange in ihrem Erdloch unter dem Stein hörte ihren Klagen zu und der Bauer mitsamt seiner Familie tat ihr sehr leid, denn er war ein guter Mann, den sie lieb gewonnen hatte.

 

Und schon wieder dröhnte die Erde unter den Schritten schwerer Stiefel. Es kamen erneut Soldaten den Weg entlang, aber diesmal waren es die Widersacher derjenigen, die den Bauern verjagt hatten.

 

Der Mann wollte mit seiner Familie weiterlaufen, um nicht gefangen zu werden und sich irgendwohin in Sicherheit zu bringen.

Aber er wusste nicht, an welchen Ort er gehen sollte, wenn überall im Land Soldaten waren.

Er war verwirrt und hielt seine Kinder schützend an sich gedrückt, während er noch nach Rat suchte.

Schließlich kam die Schlange unter dem Stein hervorgekrochen, rollte sich vor den Füßen des verzagten Mannes zusammen und hob den Kopf, um ihn anzuschauen. Ihre Schuppen schimmerten silbrig im Mondlicht, ganz anders als im Licht des Tages.

Sie wartete still, bis der Bauer seine Klagen abbrach und sie erstaunt anschaute.

»Schlange, du siehst so anders aus. Wer bist du? «

Die Schlange neigte den Kopf ein wenig und lachte vor sich hin. »Nein, ein gewöhnliches Tier bin ich nicht. Kennst du denn nicht die Geschichten, die im Dorf über mich erzählt werden? «

Und wie zur Bestätigung züngelte ein Flämmchen aus ihrem Maul.

Der Bauer zuckte zurück, fasste dann aber Mut und fragte: »Schlange, wenn das wirklich wahr ist, was die Alten über dich berichten, dann hilf mir doch. Bitte! Ich habe niemandem etwas getan, und dennoch haben sie mein Haus verbrannt und meine Nachbarn erschlagen. Nur mir gelang die Flucht, aber wozu? Wohin soll ich denn gehen, wenn überall im Lande Krieg herrscht? «

Die Schlange sprach bedächtig: »Das ist wohl wahr, Bauer, du hast nie jemandem etwas zuleide getan, und ich durfte auf deinem Felde leben in Frieden. Freigiebig warst du gewesen mit deinem Essen und du hast mit deinem Pflug meinen Ruheplatz verschont. Dein Schicksal und das deiner Kinder betrüben mich. «

»Kannst du sie denn nicht vertreiben, die Kriegsleute? Es wird erzählt, dass du Feuer speien kannst. Erschrecke sie und verjage damit alle! «

Die Schlange schwoll an, streckte sich bis auf Mannslänge und entließ eine weißgrelle Feuerzunge, die die Halme des Feldes auf zehn Schritt weit versengte.

»Meinst du so, Bauer? «, donnerte sie mit ihrer Stimme, »verbrennen mitsamt ihrem Kriegsgerät, ihren Hauptleuten, sie alle, die dir Schaden zugefügt haben? Willst du Gleiches mit Gleichem vergelten, Bauer? «

»Ja … nein«, stammelte dieser im Zurückweichen.

Seine Frau und die Kinder schauten entsetzt zuerst die Schlange, dann den Bauern an.

»Komm mit, ich will dir Schutz geben, dir und deiner Familie, dafür, dass ich auf deinem Felde unbehelligt wohnen durfte. Aber verlasse mein Heim nicht, denn nur unter der Erde kann ich euch vor den Soldaten beschirmen. «

Nach diesen Worten zeigte sich unter dem Stein eine große Öffnung, weit genug, sie alle aufzunehmen.

Dort saßen sie nun in einer geräumigen Höhle, deren Ausgang mit dem nämlichen Stein von der Schlange verschlossen wurde.

Über ihnen vibrierte die Erde von den Tritten der Landsknechte und hin und wieder klangen die Geräusche ihrer Kämpfe bis unter den Stein hinab, sodass die Frau ängstlich ihre Kinder zu sich holte, damit sie nicht dem Ausgang zu nahe kamen.

Zu essen hatten sie genug, denn die kargen Vorräte, die sie aus ihrem niedergebrannten Heim gerettet hatten, wurden nicht weniger, soviel sie auch davon aßen. Wenn die Frau darum Fragen stellte, blickte die Hüterin der Höhle sie nur an, antwortete jedoch nicht. Sie warnte die Menschen nur immer wieder, sich niemals aus dem engen Ausgang auf das Feld hinauszutrauen, was immer dort oben auch geschehen möge. Sie, die Schlange, würde ihnen schon die rechte Zeit sagen, zurückzukehren.

Lange hielte sich die Familie an diesen Rat, und selbst wenn die Schlange nicht zugegen war, wagte sich niemand von ihnen in die Nähe des Ausganges.

So verfloss die Zeit.

 

Bis eines Tages die Erde bebte und Sand und kleine Steine von der Höhlendecke herunterfielen. Die Familie hörte das Stampfen schwerer Stiefel genau über ihren Köpfen, das Geklirr von Waffen und das Dröhnen der schweren Kanonen, wenn sie Schüsse abgaben. Aber die Schlange war nicht da, um sie zu beruhigen in ihrer Angst.

Immer mehr Sand bröckelte herab, und es schien, als würde die Höhle unter den kämpfenden Scharen bald einstürzen.

Da vergaß der Bauer aus Angst um die Seinen das Gebot der Schlange und rollte den schweren Stein, der den Eingang ihrer Zuflucht sicherte, zur Seite und zwängte sich trotz der Bitten seiner Frau durch den entstandenen Spalt.

Die Frau und ihre Kinder blieben furchtsam in ihrem Winkel sitzen und horchten.

Bald darauf kam die Schlange zurück und verschloss den Eingang wieder, ohne dass der Bauer mit ihr heimgefunden hätte.

In ihren Augen schimmerten zwei Tränen.

 

Es vergingen Tage, oder auch Wochen, niemand konnte es genau sagen, denn es war immer dunkel unter der Erde.

Bis eines Tages der Lärm verebbte, der sonst in die Höhle hinabhallte. Keine Schritte und kein Gepolter störten die Menschen mehr. Die Heere waren abgezogen. Die Landsknechte waren weitermarschiert, um anderswo das Land zu verwüsten.

Da kroch die Schlange zu dem schweren Stein vor der Höhlenöffnung, schob ihn zur Seite und helles Licht flutete in den dunklen Raum, in dem drei Menschen die Augen zukniffen.

Sie spürten die wohltuende Wärme der Strahlen und sie genossen die Ruhe, die über allem lag. Ungewohnt war das.

Langsam wagten sie sich nach draußen.

Das Feld war verdorben. Das Getreide war von den Füßen der Kriegsmänner niedergetrampelt worden, der Weg zum Dorf durch die tiefen Fahrrillen, die die schwer beladenen Wagen der Soldaten eingegraben hatten, nahezu unpassierbar.

Das Dorf stand nicht mehr. Nirgendwo fand die Frau einen ihrer Nachbarn, nicht einmal einer der Dorfhunde, die früher in Rudeln durch den Ort gezogen waren, kam unter den herabgefallenen Dächern herausgekrochen oder hinter den halb umgestürzten Hauswänden hervor. Keine Kuh trottete über den Platz, kein Schaf blökte. Selbst die Hühner hatten die Soldaten alle aufgegessen.

Die Frau suchte lange erfolglos unter den Trümmern der Häuser nach einem Zeichen von ihren Nachbarn. Dann ging sie zurück zu dem Stein, unter dem die Schlange wohnte.

Sie hörte nicht mehr das Zwitschern der Vögel und sie spürte nicht mehr die Wärme der Sonnenstrahlen.

Auf dem Stein ließ sie sich nieder, die verstummten Kinder kauerten sich neben sie und weinten. Sie wusste nicht, was sie tun sollte.

Niemand war mehr da. Auch ihren Mann hatte sie nicht gefunden.

Und sie fragte sich, warum er so leichtsinnig gewesen war, das Gebot der Schlange zu übertreten und die Höhle zu verlassen. Denn ihre Beschützerin hatte ihnen doch versichert, dass sie in der Höhle behütet seien, und dass sie unter keinen Umständen nach oben gehen sollten.

Sie glaubte, dass ihr Mann ebenso tot war wie alle anderen.

Hätte er doch den Worten der Zauberschlange vertraut!

Aber sie zürnte auch der Schlange, weil sie nicht bei ihnen geblieben war und die Höhle verlassen hatte, als darüber die Soldaten kämpften.

Lange saß die Frau mit den Kindern auf dem Stein und haderte mit ihrem Schicksal.

Dann, als es schon dämmerte, ringelte sich die Schlange durch das Gras und ließ ein kleines Feuerzünglein auflodern.

Die Frau sah es und beklagte sich bei dem Tier um die Ungerechtigkeit der Welt: »Was soll werden? Unsere Felder sind abgebrannt und von unserem Hof stehen nur noch die Grundmauern. Niemand lebt mehr, keine Nachbarn, kein Vieh. Niemand hilft mir, denn keiner ist mehr da. Und mein Mann ist bestimmt tot. Was sollen wir essen, ich und meine Kinder, wovon sollen wir leben? «

Die Schlange züngelte vor sich hin und sonnte sich in den letzten Strahlen der niedergehenden Sonne.

Die Frau forderte verzweifelt: »Schlange! Du hast uns vor den Soldaten versteckt! Nun hilf uns noch einmal! Gib mir meinen Mann zurück, oder meinen Hof. «

Die Schlange rollte sich zusammen und ließ ihre Schuppen aufblinken. Schön sah sie aus.

Da begann die Frau wütend zu werden: »Du hast uns doch schon einmal geholfen. Tu es doch jetzt wieder! Allein sind wir verloren! Du kannst es! Du musst!! «

Die Schlange schaute die Frau an: »Ich muss?«

Diese geriet außer sich und schrie: »Ja! Ich weiß, du kannst es. Hilf uns noch einmal. Du kannst zaubern, also baue mir meinen Hof auf! Ansonsten werde ich dich zertreten! «

Weiter vermochte sie nicht mehr zu reden, denn die Schlange blähte ihren Leib auf, wuchs, bis sie so dick wie ein Hund war. Dann rollte sie sich auseinander und schwoll weiter an, bis sie so dick wie ein Schwein war und so lang wie ein Baumstamm.

Die Frau erschrak, als das sonst so kleine Tier sich vor ihr bis zu Brusthöhe aufstellte, und bereute ihre unbedachte Forderung.

Die Schlange aber sprach: »Ich habe dir ein Versteck gegeben und dafür gesorgt, dass ihr dort unbehelligt auf den Ausgang des Krieges warten konntet. War das nicht genug? Ist es meine Schuld, dass der Bauer zur Unzeit nach draußen ging? Was forderst du noch? Bin ich dir zu etwas verpflichtet? «

»Und wovon sollen wir leben? «, fragte die Frau, nun ängstlich geworden, und deutete auf ihre Kinder.

»Was geht es mich an, was ihr Menschen aus eurem Leben macht? Warum sollte ich mich darum kümmern? Ich möchte nur hinter meinem Stein liegen und in die Sonne schauen. Aber da du niemanden mehr hast, verzeihe ich dir deine Forderungen und gebe dir die Möglichkeit, in die Höhle zurückzukehren. Dort ist es dunkel, aber sicher. Ich werde für euch sorgen. Jedoch bedenke wohl, was ich von dir fordere: Du wirst meine Behausung nicht verlassen können und mir solange dienen, bis deine beiden Kinder erwachsen geworden sind. Dann werden sie ausziehen und Familien gründen. Du aber bleibst unter der Erde, fernab jeglichen Sonnenlichtes. Kommen deine Kinder an diesen Ort zurück und bauen den alten Hof wieder auf, magst du zu ihnen ziehen und mit ihnen zusammen deinen Lebensabend verbringen, wenn du möchtest. Verlangt es dich in dieser Zeit aber nach dem Licht der Sonne und dem Grün der Wiesen und du verlässt meine Höhle, sollst du bis an dein Lebensende heimatlos und arm umherziehen und deine Kinder mit dir. «

Die Frau ging darauf ein und kehrte in die eben erst verlassene Höhle zurück.

Dort blieb sie lange Jahre und diente der Schlange. Sie kehrte, sie ließ das Feuer nicht ausgehen, sie verwaltete das, was die Schlange ihr mitbrachte. Und sie erzählte den beiden Kindern vom Leuchten der Sonne und von dem dunklen Grün der Felder, die im Sommer immer gelber wurden. Aber nie ging sie zum Ausgang, um den Bereich, der ihr zugewiesen worden war, von der Schlange zu verlassen.

So verging die Zeit, und als die Kinder gewachsen waren und die Höhle verlassen wollten, gab sie sie frei.

Dann diente sie weiter der Hüterin der Höhle und wartete.

Die Jahre vergingen in ewig gleichem Lauf, und nichts unterbrach die Einförmigkeit in ihrem Leben.

Sie sprach mit der Schlange und diese antwortete ihr. Aber das Bild ihres alten Hofes verblasste in ihr und auch das Bild ihres Mannes.

Als sie schon nicht mehr daran dachte, jemals wieder auf dem Erdboden gehen zu können, öffnete sich der Eingang. Die Frau verkroch sich zuerst in einer Ecke, von dem grellen Licht erschreckt und fragte sich, ob sie nun heraufgehen dürfe oder nicht. Dann hörte sie Stimmen von oben, bekannte Stimmen, die nach ihr riefen. Sie folgte ihnen und wurde von ihren erwachsen gewordenen Kindern begrüßt und deren Ehepartnern, die sie ein wenig erstaunt, aber liebevoll ansahen.

Sie gingen über bestellte Felder und über Weiden, auf denen Kühe standen. Der kleine Hof war wieder aufgebaut worden und gedieh.

Vor dem Haupthaus sah sie auf einer Bank einen alten Mann sitzen. Trotz seines grauen Haares und seinen gebückten Schultern kam er ihr bekannt vor. Es war ihr Mann, der damals, vor undenklichen Zeiten die Höhle verlassen hatte, und den sie danach so gebraucht hätte. Nun saß er da, und schaute ihr freundlich entgegen. Ein Arm fehlte ihm, und neben ihm lehnte ein Stock. Die Frau setzte sich daneben. Als der alte Mann hustete, reichte sie ihm ein Tuch. Als der alte Mann durstig war und nach einem Schluck Wasser verlangte, sprang sie auf und brachte ihm einen Becher. Als er getrunken hatte, wischte sie ihm den Mund ab und half ihm auf. Sie stützte ihn und hielt ihm den Arm, um ihn in seine Schlafkammer zu bringen.

Danach besah sie sich die Wirtschaft, plauderte ein wenig mit ihren Kindern und Schwiegerleuten, bevor sie sich wieder auf den Weg zu dem mächtigen Stein machte. Dort angekommen wartete die Schlange auf sie und züngelte ihr ein kleines Begrüßungsflämmchen entgegen.

Die Frau fand den Eingang zur Höhle weit offen.

Und so sollte es bleiben, wann immer sie von den Besuchen von ihrer Familie zurückkam.

Sie erlebte die Geburt ihrer Enkelkinder und den Tod ihres Mannes. Sie sah den Hof gedeihen und sich vergrößern, bis er zu einem kleinen Dorf anwuchs. Dort half sie den Menschen bei Krankheiten und bei Geburten. Sie heilte das Vieh und kümmerte sich um die Gebrechlichen.

Und jedes Mal, wenn sie den Weg zu dem Stein hinaufging, wartete die Hüterin der Höhle auf sie und begrüßte sie auf ihre Art.

Die Frau wusste: Solange sie in der Höhle der Schlange wohnte und dort kehrte, das Feuer nicht ausgehen ließe und das, was die Schlange mitbrachte, verwaltete, würde sie nicht altern.

(ik)