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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.8

Wo die Erde blutet – Teil 8

»Die Wirkung verstärkt sich«, stellte Dorkas einige Zeit später fest und meinte damit die Wirkung, die der Grand Albert ganz offenbar auf ihre kleine Gemeinschaft hatte. Tony Tanner und Little mussten dem leicht zerknirscht zustimmen.

»Trotzdem fand ich meine Idee genial«, bestätigte sich Tony die Richtigkeit seines telefonisch geäußerten Wunsches, die Blockade des Grand Albert aufzuheben.

»Ich kann dem nur zustimmen. Aber inzwischen hat es sich so ausgewachsen, dass wir an einen weiteren derartigen Einsatz nicht einmal denken dürfen. Obwohl wir uns vorher völlig des Effektes bewusst waren, hat er alle unseren guten Vorsätze zunichtegemacht. Ich war sogar kurz davor, die Statue zu zerstören, anstatt sie auf das Buch zu stellen. Und das auch noch mit einem Original-Streithammer aus den Rosenkriegen!«, bekannte Dorkas.

 

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Tony massierte sich ständig den schmerzenden und mehr oder weniger gelähmten Arm, Little zappelte auf seinem Stuhl wie ein ungezogenes Kind. Die Bewegung lenkte ihn wenigstens ab. Er sah immer wieder das fürchterlich verstümmelte Gesicht des Verletzten vor sich. Wenn er sich konzentrierte, konnte er andere Bilder aus seiner Erinnerung darüber schieben. Aber sobald die Anspannung nachließ, sah er wieder den lippenlosen Mund mit den freiliegenden Zähnen und roch das verbrannte Fleisch und den Blutdunst, der von dem Sterbenden aufstieg wie ein schwarzer Nebel. Die Botschaft. Die Botschaft bestand aus einigen Buchstaben, die wie ein Menetekel an einer Ziegalmauer verbrannt waren.

Auf die Nachfrage von Dorkas bestätigte er: »Ein B, ein E, ein N, dann kam wieder ein E, glaube ich. Dann ein V, wieder ein E, dann ein N. Dann konnte ich die Schrift auf der Wand nicht mehr genau erkennen, aber ich bin sicher, dass noch ein T kam.«

»Benevent«, fuhr Tony Tanner dazwischen. »Liegt in Süditalien.«

Dorkas kramte sofort nach einem Atlas und dann beugten sie sich gemeinsam über die Karte Italiens und suchten Benevent.

Dorkas hob die Schultern. »Hat einer auch nur den Anflug des Verdachtes einer Ahnung, was wir mit Benevent anfangen sollen?«

»Sie könnten dort hinziehen und sich zur Ruhe setzen«, schlug Tony mit einer mehr als deutlichen Spur Boshaftigkeit vor.

»Lassen Sie den Unfug, Herr Tanner. Die Sache ist bei Weitem zu wichtig. Natürlich läge es nahe zu glauben, dass man uns hier einen Hinweis senden wollte. Schließlich machen wir nichts anderes, als Landkarten zu studieren und Linien zu ziehen.

»Ich kann mich an völlig andere Dinge erinnern, die ich in der letzten Zeit getrieben habe.«

»Herr Tanner, seien Sie nicht so kleingeistig. Es kommt auf die Essenz an. Und die wurde von mir zutreffend beschrieben. Also, ich wiederhole: War es wirklich eine Botschaft? Wenn ja, von wem? Oder eine Ablenkung? Oder ging es uns überhaupt nichts an, und wir haben sozusagen einen fremden Brief gelesen?«

»Jedenfalls war es dem Mann sehr wichtig, seine Botschaft auf diese Art loszuwerden«, wagte Little einzuwerfen.

Dorkas rammte seine Hände in die Taschen und schlurfte gesenkten Hauptes durch die Küche.

»Die ganze Sache ist hochgradig rätselhaft«, murmelte er. »Es könnte ein Hinweis sein. Oder ein Ablenkungsmanöver. Oder eine Falle. Oder ein Irrtum. Aber wer steckt dahinter? So langsam sehne ich mich zurück nach den guten alten Zeiten von Newton und Darwin. Blake ist jedenfalls nicht mehr mein Favorit. Ach was, ich koche jetzt einen Tee und dann schaue ich mir die Gebrauchsanweisung der Kamera an!«

***

Tony Tanner wehrte sich mit Händen und Füßen und vergeblich dagegen, Dorkas noch einmal in die Galerie zu begleiten. Auf solche Nebensächlichkeiten wie berufliche Verpflichtungen, mangelnde Urlaubstage oder Einkommensverluste wegen unbezahlter freier Tage, ließ sich Dorkas erst gar nicht ein. So verwies Tony darauf, dass Little hochgradig nervös sei und Ablenkung brauche. Aber auch dieses Argument wurde von Dorkas mehr oder weniger weggebügelt.

»Ich komme mit dieser Kamera nicht klar, das müssen Sie übernehmen«, erklärte Dorkas kategorisch. »Außerdem macht es die Sache in der Galerie nur komplizierter, wenn ich jetzt mit einem neuen Begleiter auftauche. Das vermindert unsere Glaubwürdigkeit.«

Als Antwort gab Tony nur ein unwirsches Murmeln von sich.

Dorkas wurde ernst. »Wir sind so nah an der Sache dran.« Er hob die Hand und legte Zeigefinger und Daumen nebeneinander. »So nahe. Wenn ich nicht bloß auf meine Aufzeichnungen angewiesen bin, sondern mich auf die Fotos stützen kann, könnte das der Durchbruch sein.«

 

Für Tony Tanner wirkte dieser Tag nicht so, als könnte sich darin der große Durchbruch ereignen. Er fühlte sich übermüdet, sein Arm schmerzte und war noch wie taub, und er hatte ein Telefonat mit einer schnippischen Sekretärin im Amt hinter sich zu bringen, um einen weiteren freien Tag herauszuschlagen. Die Art, wie dieses Vorzimmerexemplar ihn von oben herab behandelte, machte es ihm schwer, höflich zu bleben. Vor allem wurde ihm dadurch deutlich, dass heftig an seinem Stuhlbein gesägt wurde. Er hatte keine Vorstellung, wie die Sekretärin aussah, aber es musste ein hübsches Exemplar sein, wie sich aus der logischen Schlussfolgerung ergab, dass sie von Heathercroft angebaggert wurde, der seine Charme-

Attacke mit diversen Interna gewürzt haben musste.

Als das war unendlich störend und lästig, aber Tony wusste doch, dass er diese Ablenkungen brauchte, weil die Erinnerungen an die Geschehnisse der Nacht dadurch in den Hintergrund gedrängt wurden. Dort aber blieben sie und pochten bedrohlich wie ferne Kriegstrommeln eines Kannibalenstammes.

»Was haben Sie, Herr Tanner?«, fragte Dorkas, als Tony auf dem Weg zur Untergrundbahn einen plötzlichen Sprung zur Seite einlegte.

»Nichts«, murmelte Tony. Aber es war eben doch etwas. Der warme Luftstrom aus einem Entlüftungsgitter hatte ihn in Panik versetzt und erweckte Bilder von Hitzeschlieren, die sich zu monströsen Gestalten verdichten. Tony war in Schweiß gebadet und gab sich keinen Illusionen über die Wirkung seines Deos hin.

 

Vor der Galerie stand eines jener Autos, die sämtliche Fragen nach den finanziellen Ressourcen des Besitzers überflüssig machen. Es war eine Art vierräderiger Trutzburg mit einem höhnisch chromglänzenden Kühler und einer Motorhaube, die dem Landedeck eines Flugzeugträgers ähnelte. Statt eines Wappenherolds stand ein dezent in Grau gekleideter Chauffeur neben dem Automobil und hatte nichts zu tun, als sich selbst zu repräsentieren und im richtigen Moment für die Herrschaften die Tür aufzureißen.

Dorkas reckte interessiert den Hals. »Es ist das erste Mal, dass ich einen solchen Linienbus sehe«, erklärte er.

Im Inneren der Galerie herrschte die angenehme Kühle, die sich aus der geglückten Kombination einer kultivierten Umgebung und einer funktionierenden Klimaanlage ergab.

Dorkas und Tony Tanner blieben wieder am Eingang stehen. Zwischen Statuen und Vitrinen sahen sie Herrn Conran in angeregtem Gespräch mit einem sehr gediegen wirkenden Paar.

Der Anzug des männlichen Besuchers war, das erkannte der geübte Blick Tony Tanners sofort, das Erzeugnis eines Maßschneiders. Die Begleiterin war ungleich jünger. Sie machte durch ihren wirkungsvollen Augenaufschlag und zwischenzeitliches Händchenhalten ihre Position in der Beziehung so deutlich, dass kein Mensch auf den Gedanken gekommen wäre, sie für die Tochter des altersmäßig schon recht arrivierten Herrn zu halten.

»Ob es sich bei der Dame um die Tochter handelt?«, flüsterte Dorkas. Tony verdrehte die Augen. Er wurde einer Antwort entbunden, denn ein Stakkato herannahender Schritte kündigte das Erscheinen von Conrans weiblicher Helferin an. Die wieder ganz in schwarz gewandete Dame rauschte auf die beiden zu, als wollte sie die Besucher zu Boden rennen und bändigte erst im allerletzten Moment ihren Schwung.

 

Heute hatte sie ihren Stil wesentlich verändert. Durch das jetzt zurückgekämmte Haar, das im Nacken von einer schönen, silbernen Schnalle gehalten wurde, wirkte ihr Gesicht weicher und weiblicher. Sie unterstrich den Effekt mit einer eng anliegenden Bluse, die durch einen Ausschnitt der Kategorie Atemstillstand einen wohlkalkulierten Einblick auf ihre Oberweite gestattete.

Dass Tony Tanners Puls in die Höhe schnellte, hatte allerdings nichts mit seinen unterbeschäftigten männlichen Hormonen zu tun. Der Blick aus ihren großen dunklen Augen fiel einen Herzschlag lang auf Tony. Die Ähnlichkeit mit den Augen jenes Wesens, dem er vor einigen Stunden – die Ewigkeiten und Welten entfernt schienen und sich doch bedrohlich in jeder Sekunde in sein Bewusstsein drängten – begegnet war, war für Tony atemberaubend. Er konnte sich keine Erklärung für diese Ähnlichkeit denken, aber sie war da. Vielleicht konnte sein Verstand an dieser Stelle die Überlegungen abbrechen. Sein Instinkt weigerte sich jedoch und würzte Tonys Stimmungslage mit einer Prise Panik. Diese Augen, schön und bedrohlich, wie sie waren, formten zusammen mit den üppigen, begehrenswerten Lippen das Gesicht zu einem Gebilde, das Tony spontan an eine Sumpfblüte erinnerte – von ebensolcher Anziehungskraft wie von tödlicher Giftigkeit.

»Wenn Sie sich bitte noch einem Augenblick gedulden wollen. Sie sehen, Herr Conran befindet sich im Gespräch.« Es wirkte höflich, aber der Ätsch-Effekt war zu deutlich vernehmbar, um nicht gewollt zu sein.

»Wir warten, kein Problem«, blieb Dorkas unerschütterlich. Die Dame deutete eine Verbeugung an und wandte sich zum Gehen. Mit einem Lächeln verabschiedete sie sich und hämmerte ihren Abgang durch den Raum.

Tony Tanner hatte die unerfreuliche Empfindung, dass sich hinter der Maske dieses Lächelns Hohn versteckte.

»Wir sollten gehen«, hörte er sich sagen. Dorkas steckte seinen Finger zwischen Hals und Kragen und bemühte sich, den Würgeeffekt durch eine schlecht gebundene Krawatte – er trug dasselbe Prachtstück wie am Vortag – zu vermindern.

»Nein«, entschied er, »Jetzt gibt es keinen Rückzug mehr. Ich will die Fotos, ich brauche sie. Heute noch entwickelt könnten sie mir noch am Abend dieses heutigen Tages den allerletzten notwendigen Hinweis geben.«

 

Tony Tanner war völlig verblüfft. Diese Aussicht kam unerwartet.

»Soll das heißen, wir stehen am Ende dieser unerquicklichen Geschichte?«, fragte er ungläubig. Es fiel ihm schwer, die Vorstellung eines normalen, alltäglichen Lebens mit seiner Person in Verbindung zu bringen. Sicherlich wünschte er sich in die Zeiten zurück, in denen alle jene Dinge, die ihm in den letzen Monaten begegnet waren, als Ausgeburten überspannter, wenn nicht sogar kranker Fantasie gehalten hätte. Aber diese Dinge waren geschehen und konnten nicht dadurch aus der Welt geschafft werden, indem er seine Hosen unverdrossen weiter an einem Bürosessel durchscheuerte.

Es gab einen zusätzlichen Verdacht, der Tony Tanner in diesem Moment beschlich. Es gab in seinem Leben eine Anzahl ungeklärter Fragen, die mit wesentlich mehr zu tun hatten, als mit schwindendem Haarwuchs oder Schnappatmung beim Treppensteigen. Bisher gab es ausreichend Anlass, die Lösung dieser Probleme auf den nächsten Tag zu verschieben. Sollte ihn Dorkas sozusagen von der Dienstpflicht entbinden – und plötzlich sah es genau danach aus gab es keine Ausreden mehr.

»Tatsächlich, Herr Tanner. Ich würde sagen, wir sind nahe dran.«

Die Frage Und dann? ersparte sich Tony.

 

Conran und seine Gespächspartner waren offensichtlich zu einem Geschäftsabschluss gekommen. Es gab allseitiges Händeschütteln, ein perlendes Lachen seitens der Begleiterin, bei dem sich Tony Tanner sofort fragte, ob man inzwischen auch sein Lachen bei einem Chirurgen verschönern lassen kann, so perfekt auf Society getrimmt und so künstlich klang es, und dann schlenderte das Paar aus der Galerie.

»Wie hübsch«, flüsterte Dorkas und schaute ihnen hinterher, »eine intakte Beziehung zwischen Eltern und Kindern zu sehen.«

Herr Conran war bester Stimmung. Er führte Tony und Dorkas zum Hintereingang der Galerie. Auf dem Weg kamen sie zwischen den Vitrinen an einem Fahrrad vorbei, das beiden sehr bekannt vorkam. Jetzt waren allerdings beide Reifen platt. Es stand auf einem Podest, an dem ein Schild mit der Aufschrift Der wahre Fortschritt geht zu Fuß befestigt war, neben dem wiederum ein Verkauft-Schild lehnte.

Conran steckte wollte die Tür aufschließen, drehte den Schlüssel mehrmals herum und schaute dann fragend auf.

»Irgendwas stimmt mit dem Schlüssel nicht«, stellte er fest. Achselzuckend betrachtete er den Schlüssel, blies darauf, um ihn von eventuellen Verschmutzungen zu reinigen und versuchte aufs Neue, die Tür zu öffnen und Tony und Dorkas den Weg in die Halle freizumachen. Aber das Geräusch eines sich öffnenden Schlosses war nicht zu hören.

»Es ist ein Ersatzschlüssel, weil ich meinen Bund verlegt habe«, erklärte ein sichtlich genervter Conran. »Ich werde in meinem Büro noch einmal danach suchen. Warten Sie hier, ich bin gleich zurück.«

Damit eilte er zurück in die Galerie. Tony Tanner und Dorkas vermieden es, sich anzuschauen.

Dorkas betrachtete intensiv seine Schuhspitzen. Tony kontrollierte noch einmal den Fotoapparat, den Dorkas besorgt hatte. Es war ein altmodisches, aber gutes Gerät, mit dem ihm akzeptable Aufnahmen gelingen sollten. Die Zeit verstrich.

 

Irgendwo in der Nähe musste es eine Zahnarztpraxis geben, denn man konnte das Sirren eines Bohrers hören und das Klimpern, mit dem Instrumente in eine Metallschale geworfen wurden. Ein Drucker ratterte, Telefone klingelten und wurden von undeutlichen Stimmen abgelöst, ein Taubenschwarm flog mit klatschenden Flügeln aus einem benachbarten Hof auf und schraubte sich in die Luft.

Tony schaute auf die Uhr. »Wir sollten vielleicht doch einmal nachfragen, ob er uns vergessen hat.«

»Hielten Sie das für angebracht?«, zauderte Dorkas.

»Nicht nachdem wir seit einer geschlagenen Viertelstunde hier herumstehen.«

»Wir könnten ja vorgeben, dass wir … uns mal die Hände waschen müssen«, schlug Dorkas vor.

»An Ihnen ist ein Diplomat verloren gegangen.«

 

Als sie über den Hof zurückgingen, ertönten Polizeisirenen, die sich zu nähern schienen.

Sie kamen in die Galerie und bleiben zögernd an der Tür stehen. Nichts rührte sich.

Dorkas begann, sich lautstark zu räuspern. Ein Aufmerksamkeitserfolg war ihm nicht beschieden.

»Kommen Sie!«, sagte Tony.

Sie gingen um die Ecke und prallten schon nach den ersten Schritten zurück. Zwischen zwei Vitrinen mit Erzeugnissen des modernen Kulturlebens war ein Arm zu sehen. Beide stockten wie vor einer gläsernen Wand. Dann fühlte sich Tony von Dorkas vorwärts geschoben.

Der Arm gehörte Herrn Conran, der reglos auf dem Boden lag.

»Vielleicht ist es ja so eine Art Kunstaktion«, wisperte Dorkas in unsicherer Hoffnung.

Tony trat näher und beugte sich über den Liegenden. Die Augen Conrans waren offen und schauten starr zur Decke. Unter seinem Kopf war eine kleine Blutlache.

»Er ist tot.« Die Feststellung war ebenso lapidar wie überflüssig.

»Wir müssen Hilfe holen«, rief Dorkas. Bevor ihn Tony hindern konnte, eilte er zum Eingang.

Der Gedanke an ein Telefonat war ihm nicht gekommen. Als er durch die Tür auf die Straße schauen konnte, stockte seine Bewegung. Zwei Schritte trieb ihn sein Schwung noch vorwärts, dann blieb Dorkas mit hängenden Schultern stehen.

»Herr Tanner«, sagte er tonlos. »Es gibt ein Problem!«

Dorkas erwachte langsam aus seiner Erstarrung und schob sich zentimeterweise nach hinten, als müsse er auf jedern Fall vermeiden, ein schlafendes Ungeheuer durch eine unbedachte Bewegung aufzuwecken. Dann drehte er sich um und schaute Tony Tanner hilfesuchend an.

An Dorkas vorbei konnte Tony jetzt erst einen Blick auf die Straße werfen.

»Wir haben tatsächlich ein Problem«, bestätigte er.

 

Auf der Straße vor der Galerie standen einige Polizeiwagen. In der Deckung der Motorhauben und Fahrzeugtüren hockten die uniformierten Insassen und beobachteten gespannt die Galerie und ihre Umgebung. In einem Fenster spiegelten sich die Köpfe einer Zuschauermenge, die sich irgendwo abseits aneinander drängte. Die Szenerie auf der Straße wirkte wie eingefroren – eine Fotografie, die in ihrer Erstarrung umso absurder wirkte, weil sie allzu offensichtlich den Keim wilder Aktivität in sich barg. Die Blinklichter rotierten und warfen hektische Blitze auf die Scheiben der gegenüberliegenden Häuser. Aus den offen stehenden Wagentüren krächzten die Funkgeräte. Ein Hubschrauber flog heran. Sein

Rotorengeräusch hagelte als zerhackte Lärmbrocken in die nervöse Stille. Über dem Haus blieb der Helikopter stehen, dann entfernte er sich, blieb aber immer noch hörbar.

»Wir sollten rausgehen und die Sache erklären«, murmelte Dorkas. Er stand immer noch starr und hielt den Kopf gesenkt, als müsse er jetzt eine kleine, aber schmutzige Sünde beichten.

 

Im Spiegel eines gegenüberliegenden Fensters erkannte Tony schwarze Gestalten, die über das Dach ihres Hauses huschten.

»Ich fürchte, so einfach kommen wir aus der Angelegenheit nicht mehr raus«, sagte er.

Dorkas sackte noch ein wenig mehr in sich zusammen. Tony zog ihn zurück in das Innere der Galerie. Es war, als müsste er eine Kiste über den Boden schleifen, und er merkte einmal mehr, wie kraftlos sein rechter Arm noch war.

»Was soll das?«, murmelte Dorkas weiter.

»Sie können ruhig lauter sprechen. Ich möchte nur vermeiden, dass dieser prachtvolle junge Mensch mit dem Gewehr da hinten etwas macht, das sich nicht mehr rückgängig machen lässt.«

Dorkas drehte sich. Er brauchte eine Weile, bis er die Szene so weit erfasst hatte, dass er die Einzelheiten erkannte.

»Sie meinen diesen Mann da hinten?«

»Ich meine den Scharfschützen. Völlig richtig. Ein Sniper.«

»Snip…, Sie meinen doch nicht …?«

»Egal was ich meine, es spielt im Augenblick keine Rolle mehr. Aber ich glaube, dieser Kerl da draußen ist nur für die Schau da. Soweit ich mich erinnere, kann man von der Straße aus nur sehr schlecht in die Galerie reinschauen, solange hier drinnen die Beleuchtung nicht angeschaltet ist. Also knallt er uns schlimmstenfalls ab, wenn wir nach draußen kommen.«

 

Plötzlich dröhnte auf der Straße ein Lautsprecher. Man hörte Atemgeräusche, Pusten, als der Polizist das Mikrofon prüfte und dann erklang eine ruhige befehlende Stimme: »Lassen Sie die Geisel frei und kommen Sie dann mit erhobenen Händen auf die Straße.« Die Stimme hatte dieselbe Gleichgültigkeit einer Ansage in der Londoner Underground, die stets mit »Mind the gap« abschloss.

»Geisel? Welche Geisel?«, keuchte Dorkas. Er wurde eine weitere Spur bleicher, als Tony Tanner mit einer Kopfbewegung auf die Leiche von Conran deutete.

»Wir müssen die Sache aufklären«, sagte Dorkas nach kurzem Nachdenken. Er bemühte sich hörbar, seiner Stimme Festigkeit zu geben. Das Ergebnis war zweifelhaft. Er klang nun wie ein sehr nervöser Schüler, der einen Text vorlesen muss. »So was kann man doch aufklären?«

»Na schön. Und was sagen Sie denen da draußen?«

»Die Wahrheit natürlich!«

»Ich bin beeindruckt. Ich bin sogar sehr beeindruckt.« Tony Tanner zog Dorkas noch weiter in die Galerie, wo sie nun durch die Stellwände vor jedem Blick von der Straße geschützt waren. Dann ließ er sich in die Sitzgarnitur fallen. Vor ihm stand die Vitrine, in der Stierhoden eine ernstzunehmende künstlerische Aussage oder zumindest die Geldgier eines jungen, sich als Künstler aufspielenden Taugenichts repräsentierten.

»Unser Dialog eben war schon filmreif«, seufzte Tony.

»Was soll denn diese Bemerkung«, schnappte Dorkas, aber mit deutlich gedämpfter Stimme.

»Was ich sagen will, ist, dass wir zurzeit nur minder originell sind.«

»Ich will hier keinen Preis für den besten Dialog gewinnen, Herr Tanner, ich will hier nur noch raus.«

»Willkommen im Club! Die Frage ist nur – wenn Sie hier rauskommen, wohin kommen Sie dann?«

Wäre Dorkas eine Comic-Figur gewesen, dann hätte jetzt über seinem Kopf ein großes Fragezeichen gestanden. Er hob die Schultern und ließ seine Blicke schweifen, bis sie auf die Leiche fielen und er zusammenzuckte.

»Wie wollen Sie das erklären?«, hakte Tony Tanner nach.

»Brauche ich doch nicht. Ich sage nur, wie es war. Das sollte reichen!«

»Sollte es? Und stellen Sie sich nicht so auf die Zehenspitzen, es kann sein, dass man sie von einem Fenster über den Stellwänden sehen kann!«

»Na und? Sollen Sie mich doch sehen!«

 

Tony Tanner streckte einen Zeigefinger aus, machte ein leises Puh und erntete sofortigen Erfolg, der sich akustisch in einem Platschen ausdrückte. Es war das Geräusch, mit dem sich Dorkas hinter einen Sessel warf.

Es wirkte auf Tony Tanner wie ein Ausschnitt aus einer dieser elenden Fernsehshows, in denen sich Leute vor der Kamera zum Affen machen, weil sie hoffen, dafür einen Geldpreis zu kassieren. ‹berhaupt hatte die gesamte Situation für ihn etwas vollkommen Unwirkliches.

Eine Instanz in seinem Bewusstsein weigerte sich, sie zu akzeptieren. Es war alles viel zu hanebüchen, um wirklich ernst genommen zu werden. Das Ganze war wildgewordenes Studententheater, ein einziger riesiger blöder Sketch, mit dem Bemühen, dem gelangweilten Publikum wenigstens ein müdes Lachen abzuzwingen. Und obwohl er sich über die

Fehleinschätzung im Klaren war, half es ihm ruhig und gelassen zu bleiben. So ruhig und gelassen, dass er die Vorteile seiner Ruhe und Gelassenheit realistisch einschätzen konnte: Er hätte ebenso gut toben oder hysterisch weinen können, es machte keinen Unterschied. Sie saßen in der Falle.

Dorkas’ Kopf erschien wie eine Kasperlepuppe über der Sessellehne.

»Sie meinen doch nicht ernsthaft, die würden schießen«, erkundigte er sich.

»Sie sind immerhin ein Geiselnehmer. Zumindest für die Polizisten da draußen«, fügte Tony an, als er den verständnislosen Blick des Wissenschaftlers bemerkte.

»Was passiert jetzt?«

»Erst einmal gar nichts, schätze ich. Sie werden abwarten, zumindest solange sie noch glauben, dass wir tatsächlich eine Geisel haben. Aber irgendwann werden sie kommen und uns holen, so oder so.«

Dorkas peilte zur Stellwand und wuchtete sich dann in den Sessel. Dort blieb er mit zur Seite geneigtem Oberkörper sitzen.

»Wir müssen die Sache aufklären«, sagte er. »Schließlich haben wir mit dem Verbrechen nichts zu tun.«

»Ich habe auch keine knackigen Blondinen vergewaltigt und trotzdem wollten mir das die Staatsorgane nicht glauben. Und hier geht es um Mord, das ist vielleicht noch eine Nummer heftiger.«

»Um einen Mord, mit dem wir gar nichts zu tun haben, wohlgemerkt.«

 

Obwohl das Gespräch mit einem Menschen, der den Eindruck erweckt, als wollte er gerade unter einen Tisch schauen, etwas ungewohnt war, war es andererseits beruhigend zu bemerken, dass Dorkas langsam aus seiner Lähmung erwachte. Er hatte gerade einen ausreichenden Grad von Lebendigkeit wiedererlangt, um entsetzt vom Sessel zu kippen, als eine Explosion das Gebäude erbeben ließ.

Die Wucht des Luftdrucks schleuderte die Hintertür aus ihrer Verankerung. Sie rutschte ein Stück über den Boden und krachte dann gegen eine Vitrine. Eine Wolke von Staub drang in die Galerie. Glassplitter und Betonbrocken fegten herein und prasselten gegen die Stellwände.

Dorkas krallte sich in das Sesselleder und blickte sich gehetzt um. Tony betrachtete versonnen die Betonbrocken, die nun den Boden bedeckten.

»So viel zum Thema Wir sind sooo nahe dran

»Die Halle? Sie meinen, das war die Halle?«

»Himmel noch mal, was soll es sonst gewesen sein? Zumindest haben wir jetzt die Gewissheit, dass die Lösung tatsächlich nahe war«, erklärte Tony und schnippte blasiert ein Stäubchen von seiner Hose. Er beobachtete interessiert Dorkas, der die Sitzfläche des Sessels vom Gestell abgerissen hatte und nach hinten gepurzelt war. Der wirkte nun wie eine sehr unglückliche und schändlich steife Schildkröte, wie er so auf dem Rücken lag, das Lederkissen immer noch auf den Bauch gepresst. Erst als ihn die Gnade der Schwerkraft zur Seite fallen ließ, raffte sich Dorkas wieder auf. Er nutzte seine Krawatte, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

»Tatsächlich«, sagte er leise. »Sie haben recht. Dabei war ich selbst nicht einmal so besonders sicher. Aber jetzt ist es gewiss. Und wir haben ja noch meine Aufzeichnungen von gestern. Ich brauche nur etwas mehr Zeit und Muße, dann wird mir wieder alles vor Augen stehen. Kommen Sie, machen wir, dass wir nach Hause …«

Dorkas betrachtete das eindeutig zynische Grinsen, das sich auf Tonys Gesicht abzeichnete, dann wurde ihm wieder die ganze Misere deutlich.

»Es mag sein, dass Sie sehr viel Zeit und Muße bekommen«, kommentierte Tony Tanner. »Aber ich fürchte, Ihre Aufzeichnungen werden Sie nicht ins Zuchthaus mitnehmen dürfen.«

»Ich habe Beziehungen. Irgendwie … Pillbury! Pillbury könnte sie mir reinschmuggeln, ach was, was rede ich da eigentlich …« Dorkas rieb sich hilflos die Stirn, dass helle Striemen auf seiner Haut zurückblieben.

»… was war das?«

»Klingt wie ein Telefon.«

Die melodische Abfolge elektronischer Geräusche, die den Klang alltäglicher Normalität mit sich brachte, bildete einen boshaften Gegensatz zu der Umgebung und ihrer Situation.

Tony lief gebückt in die Richtung des Geräusches. Unter seinen Sohlen knirschten laut die Glassplitter. Hinter sich hörte er Dorkas schnaufen.

 

Hinter einer Stellwand, an der ein großes Gemälde der Kategorie junge Wilde hing, fanden sie den Büroeingang. Die Einrichtung ließ erkennen, dass sie in einer Art Vorzimmer waren. Ein Metallschreibtisch nahm den größten Teil des Raumes ein, an den Wänden standen ein Computertisch und einige Regale mit Aktenordnern, Ausstellungskatalogen und dickleibigen Kunstbänden. Eine weitere Tür führte in das Büro Conrans. Das etwas protzige, kupferne Namensschild ließ über den Benutzer erst gar keinen Zweifel aufkommen. Der unvermeidliche Schreibtisch war in diesem Fall aus Kirschholz mit einer grünledernen Platte. In der Ecke luden einige Sessel und ein Tisch zum Sitzen ein. Keiner der beiden Räume besaß ein Fenster.

Tony brauchte einige Sekunden, um sich diesen Überblick zu verschaffen. Das Telefon tutete unterdessen weiter. Es gab eine kurze Unterbrechung, dann setzte der gleichmäßige Ton wieder ein.

»Wahlwiederholung«, sagte Tony Tanner.

»Wie meinen?«

»Ach nichts.«

Die beiden Männer schauten das graue Telefon an und waren unentschlossen. Schließlich griff Tony nach den Hörer. Er musste sich zügeln, um sich nicht wie gewohnt mit Namen zu melden und stattdessen nur ein hartes Ja auszustoßen.

»Mein Name ist Doktor Eliah Sodenbergh«, kam es aus der Muschel. »Ich bin der Polizeipsychologe.«

Die männliche Stimme war so klar, rein und sauber, als wäre sie gerade frisch desinfiziert worden. Bei dem Klang musste Tony Tanner sofort an den Geruch von Zahnpasta denken.

Er versuchte, sich den Mann am anderen Ende der Leitung vorzustellen, aber seine Fantasie griff ins Leere. Als Tony Tanner nichts sagte, sprach der Psychologe weiter: »Ich hoffe, wir beide können ins Gespräch kommen, um miteinander diese missliche Situation zu klären. Ich bin sicher, das ist auch in Ihrem Sinne.«

»Schnauze halten ist in meinem Sinne«, zischte Tony. »Nächster Anruf in einer Stunde, dann stelle ich die Forderungen. Bis dahin keinen Mucks und vor allem keine Tricks, sonst ist Conran reif für die Tupper-Dosen. Glauben Sie nicht, die Bullen können uns austricksen. Wir haben Kontakt nach draußen, wir werden alles gewahr. Und noch so eine Zimmerbombe, dann geht noch nicht mal mehr dieses Dreckstelefon, dann liegt die Verantwortung bei euch, ihr habt doch einen Hirnriss!«

»Geben Sie mir Conran …!«

»Der kann jetzt nicht!«

Damit warf Tony den Hörer zurück, als hätte sich das Stück Plastik übermäßig erhitzt.

Dorkas starrte ihn ungläubig an. »Was sollte das denn nun?«, heulte er förmlich auf.

Tony zuckte die Schultern und wurde sich dabei klar, dass diese Geste inzwischen zu seiner häufigsten Ausdrucksform geworden war.

»Ich wollte Zeit schinden, mehr nicht«, antwortete er. Er hatte mindestens eine Stunde herausgeholt. Als er sich auf den Schreibtisch setzte, kamen Tony allerdings heftige Zweifel am Nutzen seiner Taktik. Vielleicht hätte er sich auf ein Gespräch einlassen sollen. Vielleicht hatte er die Polizei jetzt so nervös gemacht, dass sie in den nächsten Minuten zu einer

Befreiungsaktion starten würden. Und selbst wenn der Trick funktionierte – was war nach der Stunde, die er als Galgenfrist herausgeschlagen hatte? Noch eine Stunde vielleicht, das konnte hinkommen und dann möglicherweise eine weitere. Aber dann? Es war alles nichts als ein Aufschub, der wenig Hoffnung versprach.

»Also«, wandte sich Tony Tanner an Dorkas, »Sie haben noch etwa 58 Minuten, um uns aus dieser Lage zu manövrieren.«

 

Er bekam keine Antwort. Nachdem sie eine Weile dumpf vor sich hingebrütet hatten, stand Tony auf und untersuchte die Büros. Jetzt, als er vor Conrans Arbeitsplatz stand und einige Papiere durchblätterte, hatte er wirklich das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Er legte die Korrespondenz ungelesen wieder an ihren Platz und schaltete den Fernseher ein, der auf einem Wandbrett stand. Es dauerte eine Weile, bis die Bildröhre ihre Betriebstemperatur erreicht hatte. Vorher erklang schon ein aufgesetztes Lachen aus dem Lautsprecher, das die Dialoge irgendeiner Seifenoper in den Verdacht, komisch zu sein, bringen sollte. Tony schaute sich die Szene kurz an. Hoffentlich werde ich nie so sehr verblöden, dass ich diesen Unfug lustig finde, dachte er. Immerhin waren die Darsteller außerordentlich hübsche Menschen.

Dorkas sprang unterdessen im Vorzimmer hin und her. Es sah aus, als müsste er einer unsichtbaren Büffelherde bei einer Stampede ausweichen. Schließlich begann er, auf dem Schreibtisch zu kramen, um sich eine Ablenkung zu verschaffen.

Tony begann unterdessen, durch die Kanäle zu schalten.

»Sagt Ihnen der Name Hornsby etwas?«, erkundigte sich Dorkas plötzlich aus dem Nebenraum.

»Nicht dass ich wüsste.«

»Hal … Hal Hornsby?«

»Möglich. Warum fragen Sie?«

»Weil es hier ein Notizbuch gibt, in dem mehrere Treffen von Miss Pears mit Hornsby eingetragen sind.«

»Wer ist Miss Pears?«, fragte Tony, der nur mit halbem Ohr zugehört hatte.

»Ich nehme stark an, es handelt sich um die Dame, die uns auch heute empfangen hat.«

»Und die gibt Ihnen ihr Notizbuch?« Tony riss sich von dem Anblick einer Sportveranstaltung los und schaltete in den nächsten Kanal.

»Ich habe es in der untersten Schublade unter einem Stapel Betriebsanleitungen gefunden«, gab Dorkas zu.

»Miss Pears ist ein unheimlich scharfes Teil …«

»Wie, was? Ich verstehe nicht so ganz. Herr Tanner, ich glaube, diese Bemerkung passt nicht zu unserem derzeitigen Thema.«

»Die Pears ist ja so was von endgeil verschärft. Schauen Sie sich die Dame doch nur an.«

Jetzt schob Dorkas seinen Kopf durch die Tür. Tony deutete auf den Bildschirm.

»News Channel 66«, sagte er knapp.

 

Und da war sie. Umgeben von Reportern, die ihre Mikrofone oder kleine Diktiergeräte entgegenhielten, erzählte sie von der fürchterlichen Geiselnahme und ihrer mutigen Flucht. Die Kamera filmte sie von schräg oben, was eine herzerfrischende Aussicht in ihren Blusenausschnitt ermöglichte. Manchmal stockte ihre Stimme, dann biss sie sich leicht auf die Lippen und wischte sich schnell eine Träne aus den Augenwinkeln. Sie sah so süß, madonnenhaft und zugleich begehrenswert aus, dass ihr bestenfalls ein blinder und halbtoter Homosexueller widerstanden hätte.

»… eiskalt …«, drang ihre zögernde Stimme aus dem Lautsprecher. Ein Schauer überlief sie und sie schwankte, sodass hilfreiche Hände sie stützen mussten. »Eiskalt, brutal und berechnend. Es sind Killer. Ich kann nicht verstehen, warum die Polizei immer noch zögert, das Haus zu stürmen. Nur so hat Herr Conran eine Chance. Nur so.«

Was folgte war ein Stimmengewirr, als die Reporter ihre Fragen loswerden wollten.

Tony Tanner drückte seine Fingerspitzen auf den Bildschirm, dorthin, wo das Gesicht der Miss Pears war.

»Sehen Sie das?«, fragte er.

»Es gibt Fettflecke, ansonsten kenne ich mich nicht so sehr mit diesen Fernsehgeräten aus.«

»Ach was. Ich meine die Augen! Als wir heute früh hier waren, sahen ihre Augen ganz anders aus. Viel dunkler.«

Jetzt schob sich auch Dorkas näher an den Bildschirm und betrachtete das Gesicht der Frau.

»Tatsächlich. Ihre Iris scheint geschrumpft zu sein. Vielleicht trug sie Kontaktlinsen?«

»Und warum dann Kontaktlinsen in XXL-Größe? Das gibt keinen Sinn.« »Das alles hier ergibt keinen Sinn«, verkündete Dorkas kleinlaut.

Vor seinen schreckgeweiteten Augen änderte sich das Bild. Hausdächer, aus der Luft aufgenommen, flimmerten über die Mattscheibe. An dem Schatten, der am oberen Bildrand langwischte, war erkennbar, dass die Aufnahmen aus einem Hubschrauber stammten.

Tony drehte einige Knöpfe, bis er den Ton abgestellt hatte. Richtig, da war auch schon das leise Tuckern zu bemerken, mit dem sich der Helikopter näherte.

 

Eine Rauchsäule zeigte an, wo die Explosion die Halle zerrissen hatte. Das Bild wurde unscharf und begann zu wackeln, dann brach die Übertragung ab. Trotzdem konnte Tony noch für einen Moment schwarz gekleidete Gestalten erkennen, die sich über die Trümmer im Hof schlichen.

»Sie kommen«, sagte er tonlos. Sein Mund war trocken, seine Zunge klebte am Gaumen. Ein plötzlich aufschießender Instinkt trieb ihn aus diesem engen Raum hinaus. Hastig schob er den erstarrten Dorkas durch die Tür, durch das Vorzimmer und in den Ausstellungsraum.

Von draußen glaubte er, Kommandos zu hören.

Etwas flog von der Hintertür in die Galerie, sprang zweimal auf und rollte dann ein Stück. Dann folgten weitere Gegenstände und prallten mit metallischem Geräusch auf den Boden.

Das war’s jetzt, raste ein Gedanke durch Tony Tanners Kopf. Granaten!

Er war vor Schreck wie gelähmt. Eine harte Hand packte seine Schulter, dann schlang sich ein Arm um seinen Hals, presste ihm die Luft ab und riss ihn brutal nach hinten. Tonys Hände verkrampften sich. Er krallte sich in die Schultern von Dorkas, den er eben noch geschoben hatte, und zog ihn mit sich, als würden sie ein absurdes Eisenbahnspiel spielen.

»Augen zu«, zischelte es an Tonys Ohr. Eine Hand legte sich auf sein Gesicht. Obwohl nur Sekundenbruchteile vergingen, registrierte er den Geruch eines Lederhandschuhs.

 

Eine Detonation erschütterte die Galerie. Das Krachen schien jede Zelle in Tonys Körper durchzuschütteln. Für einige Sekunden kämpfte er darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren.

Zugleich mit dem Knall blitzte ein grelles Licht auf, so gleißend und schneidend, dass zwischen den Handschuhfingern, die Tonys Gesicht bedeckten hindurchstieß wie Speerspitzen.

Die Hand verschwand von seinem Gesicht. Tony riss die Augen auf. Rote Flecken tanzten vor seinem Gesichtsfeld. Dennoch erkannte er, dass sie hinter einer Mauerkante standen.

Dorkas gab ein Gurgeln von sich. Er streckte die Arme vor und wollte wie ein Schlafwandler zurück schlurfen. Nur mit Mühe konnte ihn Tony zurückhalten. Nur Bruchteile von Sekunden waren vergangen, da schmetterte die nächste Detonation und ließ die Luft zittern. Durch das Pfeifen in seinen Ohren konnte er hinter sich ein Geräusch hören. Bevor er sich umblicken konnte, flog etwas an seinem Kopf vorbei.

Dann wurde er am Arm gepackt und vorwärtsgezogen. Es gelang ihm, Dorkas an der Krawatte zu erwischen und hinter sich herzuzerren. An einer Türfüllung rammte sich Tony schmerzhaft den Ellbogen.

»Hier runter!«

 

Tony Tanner sah eine enge Stahltreppe vor sich, die in die Tiefe führte. Jetzt konnte er auch zum ersten Mal einen Blick auf den Mann werfen, die ihn bis zu diesem Punkt gezerrt hatte. Es war für ihn selbstverständlich gewesen, dass es sich nur um einen Polizisten oder ein Mitglied einer Spezialeinheit handeln konnte. Er erblickte einen Mann, der seiner Kleidung nach eher für eine Landpartie ausgerüstet war. Eine braune Jacke mit Lederbesatz an Ellbogen und Schultern zu einer dunkelgrünen Hose, beide aus grobem Kord, darunter ein kariertes Flanellhemd und feste, braune Schuhe. Mit einem gewissen Erstaunen registrierte Tony, dass sich unter aller Panik so etwas wie spontane Zustimmung für die Kleiderauswahl des Mannes regte. Er war sich sicher, dass der stilvolle Herr anlässlich einer Geiselnahme in der Stadt genau so etwas tragen musste. Dann fiel sein Blick auf das Gesicht des Mannes, der inzwischen auf der Wendeltreppe unter ihm war, dann erkannte, dass Tony Tanner Schwierigkeiten hatte, Dorkas vorwärtszutreiben und wieder einige Stufen hochsprang, um mit einem Griff an die Schulter des Wissenschaftlers dabei behilflich zu sein.

Tony Tanner wusste, dass er diesen Mann kannte!

 

Über ihnen ertönten laute Stimmen, dann vibrierten wieder die Wände, als eine erneute Detonation das Gebäude erschütterte. Das grelle Licht schlug für einen Moment wie die kompakte Masse eines Meißels durch die offene Tür und warf harte Schatten.

»Eine Haley & Weller E 182«, bemerkte der Mann beiläufig. »Für dieses Dinger bezahlt man in Zagreb 150 Dollar das Stück, aber sie sind jeden Cent wert. Es wird sie für einen Moment aufhalten. Damit hatten sie garantiert nicht gerechnet!«

Sie kamen am Fuß der Treppe an. Gemeinsam schoben sie den hilflosen Dorkas durch einen schmalen Gang zwischen Kisten und verhängten Bilder vorwärts. Sie befanden sich im Magazin der Galerie. Der Gang endete vor einer Wand.

Der Mann warf eine Kiste zur Seite. Nun war ein Loch in der Wand zu sehen, gerade groß genug, um auf Knien durchzukriechen.

Mit Erleichterung bemerkte Tony, dass Dorkas ohne Aufforderung oder Hilfestellung auf die Knie fiel und sich durch die Öffnung schob. Während er wartete, schaute er sich zu dem Mann um. Er wusste, er kannte ihn, aber unter all den Fetzen von Gedanken und Eindrücken, die in seinem Kopf wirbelten, konnte er diesen weißhaarigen Kopf nicht einordnen.

»Schnell, es geht um Sekunden!«

 

Tony muste nach dieser Aufforderung seinen Schädel auf wenig urbane Art in den Hintern von Dorkas rammen und diesem damit gleichzeitig einen Vorwärtsschub verleihen. Zuletzt warf sich der Mann durch das Loch, wandte sich noch einmal um und zerrte die Kiste wieder in ihre ursprüngliche Position.

»Rechts lang«, befahl er. Aus seiner Tasche zog er eine Taschenlampe, in deren Schein sie durch Kellergänge hasteten.

»Was ist eine Haley & Dingens E Soundso?«, murmelte Dorkas unvermittelt.

»Eine kombinierte Blend- und Lärmgranate. Damit sollen Geiselnehmer für die entscheidende Sekunde irritiert werden, wenn der Sturmtrupp angreift.«

»Die Dinger funktionieren«, stellte Dorkas fest und hätte um eine Haar eine Mauerecke gerammt, wenn Tony Tanner nicht wieder den rettenden Griff zu seiner Krawatte gefunden hätte.

Kairo, blitzte es in Tony Kopf auf. In Kairo war er ihm begegnet!

Der Mann blieb vor einer Tür stehen und drehte sich zu seinen Begleitern um.

»Wenn wir durch diese Tür gehen, ist Haltung angesagt. Sortieren Sie Ihre Kleidung. Wir dürfen nicht auffallen. Keine Hast. Ihre Krawatte sitzt schief. Richten Sie den Knoten. Wir gehen ganz ruhig zum Wagen. Sie beide steigen auf der Fahrerseite ein, Sie …« – der Finger deutete auf Tony, » rutschen durch auf die andere Seite. Schnallen Sie sich an und bleiben Sie ganz gelassen. Sonst ist der Plan gescheitert.«

Damit öffnete er die Tür. Sie gingen die wenigen Schritte zu einem schweren Wagen, der auf einem Hof abgestellt war. Tonys erprobte Kenntnis aller Dinge der menschlichen Eitelkeit sagte ihm sofort, dass es sich um einen Bentley Arnage handelte. Der Wagen sah aus, als wäre er tiefer gelegt worden, aber sicher war er sich nicht – was ihn enorm fuchste. Der Hinterhof schien viel zu eng, um die schwere Limousine zu drehen. Der Fahrer löste das Problem durch einen herzhaften Tritt auf das Gaspedal. Es gab ein kurzes Reifenquietschen, dann wischte das Heck zur Seite, und zweihundertachtzig PS rissen den Wagen in eine Komplettdrehung.

 

Vorsichtig fuhr der Bentley auf die Straße und rollte nach links. Tony und Dorkas, die stocksteif wie Puppen auf dem weichen Leder der Rücksitze saßen, konnten auf der rechten Seite die Blinklichter von Polizei- und Krankenwagen erkennen. Die Erstarrung hatte sich dort gelöst, Menschen liefen wirr durcheinander.

Mit geradezu provozierender Langsamkeit rollte der Bentley die Straße entlang. Es wimmelte von Polizisten. Vor der nächsten Kreuzung versperrte ein quergesteller Lieferwagen die Durchfahrt. Daneben standen drei Uniformierte und gaben Handzeichen zum Anhalten.

Tony spürte, wie ein Schweißtropfen übr seine Stirn rollte, den Nasenrücken abwärts glitt und als Anhängsel unter seiner Nasenspitze hängen blieb. Er wagte nicht, eine Bewegung zu machen, die ein scharfer Beobachter – und zwei der Polizisten starrten mit berufsmäßigem Misstrauen in den Wageninnere – als Zeichen von Nervosität deuten konnte. Andererseits waren Schweißtropfen an der Nasenspitze auch kein Merkmal für kühle Gelassenheit.

Der Fahrer ließ sein Seitenfenster herab und hielt dem Polizisten seinen Ausweis hin, bevor der überhaupt neben den Wagen getreten war.

»Wir können aber auch gern so lange warten, falls Sie es für besser halten«, sagte er höflich.

»Natürlich nicht, Sir«, antwortete der Polizist diensteifrig und salutierte. »Wenn Sie bitte links an der Sperre vorbei fahren würden und Vorsicht auf die Bordsteinkante …«

Damit glitt das Seitenfenster wieder hoch, und der Bentley kroch vorsichtig durch die freie Spur. Zwischen einem Hydranten und dem Lieferwagen war kein Zentimeter Spielraum, aber der Fahrer lenkte den Wagen mit zwei Fingern am Lenkrad und einem kurzen Blick auf die Außenspiegel ohne Zögern zwischen den Hindernissen durch. Dann beschleunigte er leicht, ohne auffällige Eile an den Tag zu legen.

Tony hatte das Bedürfnis, sich zu kneifen, um festzustellen, dass er nicht träumte. Eben noch sah er sich der Tatsache gegenüber, dass er chancenlos in die Fänge der Justiz geriet.

Und jetzt hatte er sein Hinterteil auf feinstem Conolly-Leder platziert und spürte die angenehme Kühle aus den Düsen der Klimaanlage. Er wusste, es war an der Zeit, etwas zu sagen. Sich zu bedanken, obwohl es ihm absurd erschien (Danke, dass Sie Blendgranaten geworfen und uns durch einen Keller vor der Polizei gerettet haben!). Also gönnte sich Tony Tanner noch einige Momente der Entspannung, genoss einfach das wundervolle, leise Dahingleiten und schaute auf die Passanten, die in einer Welt der Normalität lebten, die auf beruhigende Weise die Ereignisse in der Galerie zu leugnen schien.

»Da, da, ich kenne ihn«, stieß Dorkas hervor und klopfte gegen die Scheibe. Tonys Kopf fuhr herum, er erkannte im Innenspiegel, dass auch der Blick des Fahrers zur Seite schwenkte.

In einem Wagen am Straßenrand war der weißhaarige Kopf eines Mannes erkennbar, durch die Haarfarbe ihrem Fahrer nicht einmal unähnlich.

»Sie haben recht«, knurrte der Fahrer. »Die Sache ist noch nicht vorbei.«

Damit trat der das Gaspedal durch. Der Bentley knickte auf der Hinterachse ein und begann rasant schnell zu beschleunigen. Im gleichen Moment lösten sich drei Wagen vom Straßenrand. Ihre Motorhauben stiegen hoch, unter den Antriebsrädern quoll weißer Qualm auf, als sie die Verfolgung aufnahmen. Sie kamen schnell näher.

Tony und Dorkas wurden von der Beschleunigung in die Sitze gedrückt. Eine Herzschlag später fielen sie nach vorne und wurden nur noch durch ihre Gurte gehalten, denn der Bentley verzögerte und wurde in eine Querstraße getrieben. Dort kam dann erneut der Hammerschlag der brutalen Beschleunigung, der die Passagiere an die Rückenlehnen nagelte. Die Häuser, die am Straßenrand abgestellten Wagen, die Passanten jagten am Fenster vorbei, als befänden sie sich im freien Fall. Die normalen physikalischen Kräfte waren vergessen, Beschleunigung und Verzögerung zerrten am Körper, und der Verstand versuchte, die Dinge zu verarbeiten, die schon vergangen und unmaßgeblich waren, wenn er sie bewältigt hatte.

 

Die Straße wurde zu einem schmalen Tunnel mit Wänden aus vorbeiwischenden Farben und Gegenständen, die sich zu einem hellen Grau mischten. Das Ende der Straße stürzte auf sie zu wie ein Komet.

Der Fahrer bremste erneut. Das Heck des Bentley bäumte sich nach oben, von den Vorderreifen stieg Rauch auf, das Lenkrad wurde nach links gewirbelt, dann nach rechts, der Wagen brach aus und radierte quer über die Straße, dann kam wieder der Einsatz des Motors, das Triebwerk dröhnte und riss den Wagen in die nächsten Straße.

»Haben Sie eine Waffe?«

Die Frage kam so gelassen, dass Tony sie gerade deswegen nicht verstand. Dann schüttelte er nur den Kopf.

Irgendetwas explodierte an der Seitentür eines parkenden Wagens vor ihnen. Gerade als sie vorbeihuschten, sirrten die Splitter über die Straße und schlugen gegen den Bentley. Tony wand sich, um den fest arretierten Sicherheitsgurt lockern zu können und wand sich um. Die Verfolger waren unmittelbar hinter ihnen. Es erschien unglaublich, dass sie noch schneller gewesen waren als der Bentley. Aus einem Seitenfenster schob sich der Oberkörper eines Mannes. Er legte eine Pistole an.

Es knallte. Tony zuckte zusammen. Die Heckscheibe splitterte. Aber der Schuss war in ihrem Wagen gefallen. Der Fahrer hielt mit der linken Hand das Lenkrad, hatte sich umgewendet und feuerte mit rechts durch die Heckscheibe. Der Mann in dem Verfolgerauto riss den Mund auf, die Pistole entglitt seiner Hand und der Oberkörper sackte zusammen.

Der nächste Schuss. Es war ein tiefer, klarer Knall, der Tony an das Gebell eines Riesenhundes denken ließ und die Gewalt, die sich in der Waffe konzentrierte, deutlich machte.

Wieder platzte ein Loch in der Heckscheibe auf. Der Verfolgerwagen begann zu schlingern, fiel etwas zurück, stablisierte sich, musste dann scharf abbremsen, weil ein anderer Wagen den Weg blockierte. Noch ein Abschuss, noch einer, dann war hinter der Frontscheibe das Aufbäumen eines Körpers zu erkennen, der Wagen brach aus, prallte scheppernd gegen ein abgestelltes Auto, wurde hochkatapultiert, drehte sich in der Luft und schlug in einem Vorgarten ein.

Für einige Sekunden verschwanden die Verfolger aus dem Blickfeld, der Bentley jagte quietschend um einen Kreisverkehr. Als die beiden Verfolgerwagen wieder auftauchten, hatte der Bentley den Kreis fast durchfahren und war für sie unerwartet auf der Seite. Der Fahrer bremste, zugleich fuhr das Seitenfenster herunter. Jetzt wechselte die Pistole in die linke Hand.

Die Seitenscheibe des hinteren Wagens barst, auf der Gegenseite bedeckte roter Nebel die Scheiben. Der Fahrer sackte zusammen, sein Wagen fuhr geradeaus, knallte gegen den Bordstein, sprang hoch und zertrümmerte an einer Wand.

Der Bentley raste durch die herumfliegenden Wrackteile, musste scharf abbremsen, als der Motorblock vor seinen Kühler flog.

»Der dritte ist weg«, stellte der Fahrer gelassen fest. Und dann fügte er ein Schade hinzu.

 

Sie beeilten sich, eine Hauptstraße zu erreichen und in dem Verkehr unterzutauchen. Eine Weile schwiegen sie. Dorkas drehte sich nach der Heckscheibe um. Es gab nur zwei kleine Löcher, obwohl der Mann mehrmals geschossen hatte.

Dorkas hatte seinen Retter längst erkannt. Er war bereits mit ihm zusammengetroffen, und er wusste, dass dieser Mann ein Jäger war, und Tony Tanner war sein Wild. Darum sagte er nichts und sann verzweifelt auf eine Möglichkeit, Tony unbemerkt warnen zu können.

Tony Tanner hatte seinen Retter ebenfalls erkannt. Es war der Mann, der ihm bereits zwei Mal das Leben gerettet hatte, und jetzt möglicherweise ein drittes Mal. Seine Absichten schienen jedoch nicht lauter zu sein, und so sagte er nichts, um Dorkas nicht zu beunruhigen. Er beschloss, Dorkas bei Gelegenheit heimlich zu warnen.

»Ich will nichts beschönigen«, sagte Jeremy Steele, »ich habe Sie aus reinem Egoismus gerettet. Und Sie werden mich nicht mehr los!«

»Die Aussicht hat etwas Beruhigendes. Aber ich nehme an, London ist für die nächste Zeit nicht unbedingt das richtige Pflaster für uns …«, antwortete Tony Tanner.

»Haben Sie einen Vorschlag?«

»Italien«, fiel Dorkas ihnen plötzlich ins Wort. »Wir müssen nach Italien. Es war nämlich nicht Benevent, was Little gesehen hatte. Das Wort sollte Benvenuto heißen. Und das bedeutet bekanntlich Willkommen

»Italia. Con molto piacere!«, sagte Steele. Seine stahlblauen Augen blitzten auf, und dann gab er wieder Gas.

 

Es war eine klägliche Gesellschaft, die sich in der untersten Etage der Tiefgarage versammelt hatte.

Über ihnen waren zwei weitere Parkebenen, darüber lag das marmorverkleidete Foyer, in dem ein freundlicher, aber aufmerksamer Farbiger in Uniform die Ankommenden begutachtete und Unbekannte freundlich, aber bestimmt nach ihrem Ziel fragte. Und darüber wiederum erhob sich ein vielstöckiges Apartmenthochhaus. Die Quadratmeterpreise in dieser

Gegend Londons kamen in etwa dem Jahreseinkommen der Arbeiter gleich, die an genau derselben Stelle, in den Docks der Hauptstadt, die Güter des Empire aus den Frachtkähnen in die Lagerhäuser geschleppt hatten. Inzwischen war hier das neue London, bevölkert von den Halbgöttern der Börse, von Künstlern, Möchtegern-Künstlern, Neureichen und anderen, die die Mühen eigener Entscheidungen durch den Sog des neuesten Trends ersetzten.

Steele hatte sich in diesem Gebäude ein Apartment gekauft, um es im Bedarfsfall als Ausweichquartier zu nutzen. Er wunderte sich immer wieder über die Gesichtslosigkeit, die von den modernen Fassaden auf die Bewohner abzufärben schien. Selbst die bemühte Individualität in Kleidung und Gebaren, die Steele registrierte, mündete wieder in graue

Auswechselbarkeit. Und genau das war es ja, was Jeremy Steele suchte.

 

Er schaute sich seine drei Begleiter an. Der Anblick war wenig erhebend. Dorkas lehnte an einer Betonsäule, vor ihm befand sich ein Schutzwall aus drei riesigen Koffern. Unter dem Arm klemmte ein großes, in braunes Packpapier gewickeltes und sorgfältig verschnürtes Paket. Dorkas weigerte sich, es auch nur zu seinen Füßen abzustellen. So wie er sich hinter seinem Gepäck verschanzt hatte, müde, rotäugig und schlecht rasiert, erinnerte er an einen Missionar zu Kolonialzeiten, der sich hinter einer improvisierten Barrikade dem Angriff der Zulus ausgesetzt sieht.

Tony Tanner stand neben einem kleinen Aluminumkoffer und bemühte sich, einen letzten Rest von weltmännischer Gelassenheit auszustrahlen. Er trug eine graue Flanellhose, einen dunkelblauen Blazer mit zwei Reihen von verzierten Goldknöpfen, und dazu ein beigefarbenes Hemd mit einer groben Strickkrawatte. Auf den ersten Blick wirkte er genau so, wie er wirken wollte: ein Städter der gehobenen Kategorie, der seinen freien Tag an der Küste oder auf dem Land verbringen will. Und so genannte freie Tage lagen ja vor ihm: etwa 360 an der Zahl.

Steele jedoch war gewohnt, auch den zweiten Blick zu werfen. Seine jahrelange Gewohnheit, sein Gegenüber mitleidlos und ohne einen Funken von menschlicher Sympathie auf Schwächen abzusuchen, ließ ihn auch hier sofort fündig werden. Dazu brauchte er nicht einmal auf die dunklen Ringe unter den Augen zu schauen. Der schlecht gereinigte Fleck auf dem Revers der Jacke und die ungeputzten Schuhe reichten schon aus, um sein Urteil zu fällen.

Bei einem Typen wie Tony Tanner, den Steele heimlich im Verdacht hatte, dass er einen großen Teil seiner Zeit vor dem Spiegel verbrachte, wirkten solche Mängel stärker, so als hätten er noch den schäbigen Rest vom Frühstücksei am Kinn hängen.

 

Boo Little stand etwas abseits und war das klare Abbild jener Anti-Figur, von der man gern sagte, dass man mit ihr »keinen Krieg gewinnen« kann. Little erweckte den Eindruck, als könnte er sich nur mit größter Selbstdisziplin selbst vor einem hysterischen Anfall bewahren.

Es war, als würde Steele einen Mann beobachten, der gerade in einem Kino einen besonders üblen Horrorstreifen anschaut, von dem der Beobachter selbst aber nichts mitbekommen kann. Littles Augen zuckten nervös von einer Seite zur anderen, er biss sich auf die Lippen, sackte in sich zusammen und straffte sich dann wieder in einem mühsamen Versuch, Haltung zu bewahren.

Wir sollten diesen Kerl hierlassen, dachte Steele. Er wird nur Probleme machen.

»Einfach wird es sicher nicht«, sagte er dann. »Ich meine nicht allein die Polizei, die jetzt wie ein wütender Hornissenschwarm reagiert. Auch die Leute, die uns verfolgt haben, werden nicht aufgeben.«

»Warum bleiben wir nicht hier?« Tony Tanner musste sich ausführlich räuspern, bevor er die Worte über die Lippen brachte. »Verschwinden wir einfach für eine Weile in irgendeiner Pension und lassen die Aufregung abebben.«

»Die Aufregung wird nicht abebben«, antwortete Steele. »Sie wird vielleicht in der Öffentlichkeit abebben, weil die Medien wichtigere Themen haben. Aber die Polizei wird eine Sonderkommission einrichten, und das ist für uns wesentlich unangenehmer als der Aufruhr am Anfang. Und außerdem, ich wiederhole mich allerdings nur ungern, gibt es noch andere, die Ihnen an den Kragen wollen.«

Dorkas verdreht die Augen und linste zu Tony Tanner hinüber, ob dieser die unverhohlene Drohung Steeles auch richtig verstanden habe.

»Wieso uns? Sie waren doch auch im Wagen?« Tony Tanner schien es nicht begriffen zu haben.

»Nun gut. Es ist im Übrigen auch egal. Es gibt diese Typen, die sind hinter uns her, und sie werden keine Rücksicht nehmen.«

Dorkas schaute von Tony Tanner zu Jeremy Steele und wieder zurück. Die beiden Männer sprachen mit ruhigen Stimmen. Dennoch war die Spannung zwischen ihnen deutlich spürbar.

Ächzend wuchtete Dorkas das Paket unter den anderen Arm und bewegte die freie Hand, um die steif gewordenen Finger neu zu beleben. »Wir müssen nach Italien«, stellte er dann trocken fest. »Es ist ein Befehl.«

»Ein Befehl?« Das Echo kam mit zwei Stimmen. Dorkas duckte sich ein wenig.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, erklärte er dann eilig. »Ich will nicht sagen, dass ich den Befehl gebe. Es ist ein Befehl an uns, verstehen Sie?«

»Ein Befehl von wem? Und was war das überhaupt für ein Befehl?«

»Ich rede von dem Benvenuto, das der Bote uns übermittelt hat. Mehr Informationen brauche ich nicht, um zu wissen, was von uns verlangt wird. Und von wem? Ja, also wenn ich Ihnen jetzt einen Namen nenne, nutzt das gar nichts, weil hinter der Person ganz andere Dinge stehen. Und welche Dinge das sind, werden wir erst dann erfahren, wenn wir in Italien sind.«

»Italien ist groß«, knurrte Steele. Er hasste es, dass dieser dickliche Kerl plötzlich den Eindruck erweckte, als wäre er der Chef. Andererseits schien es ihm von Bedeutung zu sein, und er war nicht so abgebrüht, um nicht zu spüren, dass es eine besondere Wichtigkeit hatte, was Dorkas sagte. Also ließ er den Dicken weitersprechen.

»Ich kenne das Ziel. Es liegt in Norditalien, und das sollte erst einmal reichen.« Dorkas hüllte sich in ein wissendes Schweigen, was Steele jetzt doch richtig ärgerte.

»Also irgendwo zwischen Bolzano und Roma … Herculaneum, Stabiae, Holunderzweig! Mir reicht diese Angabe nicht, verdammt noch mal«, grollte Steele. An seiner Schläfe begann eine Ader zu wachsen. Little zuckte merklich zusammen und knetete in einer kindischen Pantomime der Verlegenheit die Hände.

 

Dorkas spürte, wie sich auf seiner Stirn Schweiß bildete. Die Agressivität Steeles war für ihn körperlich spürbar und hüllte ihn ein, heiß und bedrückend, als hätte er die Tür zu einem Saunaraum aufgerissen. Trotzdem hob Dorkas die Augen und stellte sich dem kalten Blick Steeles.

»Es ergibt keinen Sinn, wenn wir alle diesen Namen wissen. Sollte einer von uns geschnappt werden, dann hat er eben weniger zu verraten. Und dafür wird er nur dankbar sein.

Wir sollten alle unsere Eitelkeit zurückschrauben und zu den Fakten zurückkehren.« Dorkas hatte wie in der dritten Person gesprochen. Was und wie er es er gesagt hatte, war verständlich und ehrlich gewesen.

Steele starrte den anderen für einige Sekunden an. Dann kräuselte ein angedeutetes Lächeln seine Mundwinkel. Für einen Moment erinnerte er sich an seine Elena, die ihren aufbrausenden Ehemann mit einem einzigen Halbsatz, mit ihrer typisch weiblichen Schnippischkeit auf den Boden der Tatsachen zurückbringen konnte. Dein barbarisches Temperament zügeln, nannte sie das mit der Arroganz der Südländerin, die damit ausdrücken wollte, dass man jenseits der Alpen noch mit Fellkittel und Keule durch die Welt zu laufen schien.

»Akzeptiert«, knurrte Steele. »Es ist so: Ich habe einen Mann organisiert, der uns mit einem Fischerboot nach Irland bringt. Er glaubt, wir hätten etwas mit der Real IRA zu tun, darum hilft er uns. Von Irland aus fliegen wir mit einem Kleinflugzeug. Spätestens dann werden Sie Ihr Geheimnis aber lüften müssen.«

»Ich schätze einmal, wenn wir schon im Nordwesten sind, ist das härteste Stück geschafft«, ergänzte Tony Tanner und legte damit den Finger auf die offene Wunde.

 

Sie saßen in London fest. Es war eine absurde Vorstellung: In jeder Sekunde fuhren Hunderte von Menschen in die Metropole und verließen sie, und trotzdem schien darin für die vier Männer ein unüberwindbares Problem zu liegen. Sobald sie auch nur die Straße betraten, konnte der erste Passant derjenige sein, der sie an die Polizei verriet oder der eine Waffe zückte. Der Faktor Angst und Unsicherheit wog schwerer als alle tatsächlichen Risiken. Aber auch die waren groß genug. Das Radio meldete Verkehrsbehinderungen an den großen Ausfallstraßen. Nicht für jede war eine Polizeikontrolle verantwortlich, es waren auch mehrere Unfälle gemeldet worden.

Steele ließ sich dadurch nicht täuschen. Es gehörte zur offiziell geleugneten Polizeitaktik, künstliche Unfallstellen aufzubauen, um auf diese Weise Nadelöhre zu schaffen. Die Öffentlichkeit würde die Polizeioberen in der Luft zerfetzen, wenn sie es wüsste, aber sie wusste es nicht. Dabei war die Sache simpel: Man nahm drei Lastwagen, schuf mit Überholmanövern für einige Sekunden eine unklare Verkehrssituation, provozierte eine Vollbremsung, warf zwei Schrottautos von der Ladefläche und dann hatte man genau das, was man wollte. Die Zivilbeamten, die in Pkw hinter den Lastwagen herfuhren, machten dann erst einmal ausreichend Wirbel, um jeden Zuschauer abzulenken, aus einem der Lastwagen hüpften blutig geschminkte Statisten, deren Anblick jeden Beobachter in Panik versetzen musste und jedes Misstrauen im Ansatz erstickte.

 

Der Rest war dann Routine. Beamte markierten mit Kreide nicht vorhandene Reifenspuren, Abschleppwagen fuhren auf, Polizisten regelten den Verkehr und nutzen die Gelegenheit, jeden vorbeifahrenden Wagen unauffällig unter die Lupe zu nehmen. Dabei half ihnen zusätzlich die allgemein menschliche Sensationsgier, die dafür sorgte, dass sich jeder Hals in die Richtung der zertrümmerten Autos der mit Laken bedeckten Gestalten drehte.

Natürlich bedurfte es eines entsprechenden Anlasses, um solchen Aufwand zu rechtfertigen.

Jeremy Steele war überzeugt, dass der gestrige Auftritt mehr als ausreichend war. Er musste sich selbst eingestehen, dass auch er eine Unsicherheit empfand, die an ihren Grenzen in den Breich ratloser Panik übergehen konnte. Jetzt mussten sie alle Disziplin wahren. Er kannte solche Situationen und wusste, dass jeder kleine Schritt hin zur Panik nicht mehr rückgängig zu machen war. Ein Fehler folgte auf den nächsten und in kürzester Zeit befand man sich nicht mehr auf der schiefen Ebene, sondern im freien Fall. Dieser schwabbelige Dorkas hatte also irgendwie recht.

 

Der zappelige Little war hingegen genau das, was man im Augenblick nicht brauchen konnte.

»Na schön«, stellte Steele jetzt fest. »Hier herumstehen nutzt nichts, wir müssen Entscheidungen treffen. Wir werden hier noch eine Weile warten. Die Chance, dass in den nächsten Stunden jemand diese Parkebene betritt, stehen eins zu einer Milliarde. Im Notfall verstecken wir uns in dem Van da drüben. In, sagen wir mal … drei Stunden fahren wir.«

Little drückte sich die Finger an die Schläfen, dann begann er plötzlich mit den Fäusten auf seinen Schädel zu schlagen.

»Wir dürfen hier nicht bleiben. Sie kommen …« schrie er. Seine Stimme überschlug sich und mündete in einen Schrei, der in den Ohren schmerzte und als dröhnender Nachhall aus den dunklen Ecken der Halle zurücksprang. Little hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. In seinem Hirn vernetzten sich Neuronen zu neuen Strukturen, jagten elektrische Impulse durch seine Nervenbahnen, zerrten verborgene Schrecken aus seinem Unbewussten und formten sie zu neuen Chimären.

»Ich glaub’s nicht. Was will der denn jetzt?«, fauchte Steele. Er hätte diesem Trottel am liebsten auf der Stelle die Gurgel durchgeschnitten.

»Lassen Sie ihn«, fuhr Tony Tanner dazwischen.

 

Sie warteten, bis sich Little etwas beruhigt hatte. Der Amerikaner sank in die Knie und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab. Sein Atem ging keuchend, Schweiß floss über seine Stirn, als hätte er gerade eine besondere körperliche Anstrengung auf sich nehmen müssen. Immer wieder schüttelte er heftig den Kopf und wimmerte leise. Der Anfall war so heftig und kam derart unerwartet, dass alle anderen peinlich berührt zuschauten und sich fragten, was sie tun sollten. Schließlich raffte sich Little wieder auf.

»Danke, es geht schon wieder«, nuschelte er.

»Sie werden uns sagen müssen, was Sie gesehen haben. Selbst wenn es schwerfällt«, drängte Dorkas.

»Ich weiß. Aber ich … ich finde keine Worte …«

Wie konnte Little Worte für etwas finden, was die Grenzen menschlichen Verstehens sprengte? Er konnte höchstens aus Leibeskräften kreischen und damit einen Eindruck vermitteln, um was es ging. Jetzt, als sich sein Puls wieder verlangsamte, verblassten die Bilder, die ihn eben noch bis aufs Blut gequält hatten. Es blieb wenig mehr als ein schlechter Geschmack, eine trübe Stimmung, die alles durchdrang und alles verseuchte.

Little schaute sich hilfesuchend um, bettelte wortlos um Ablass von seiner Verpflichtung. Aber er fand sich eingekeilt zwischen drei Augenpaaren, die ihn abschätzig, besorgt, peinlich berührt betrachteten. Es gab keinen Ausweg – ihre angespannten Mienen waren wie Verbotsschilder, die Little signalisierten Hier kommst du nicht vorbei, es sei denn du …

 

Es war ein Zeichen von Resignation, dass Little sich endlich angestrengt bemühte, in seiner Erinnerung einige der Bilder neu zu beleben. Die Widersprüchlichkeit dieses Bemühens war geradezu lachhaft. Da konnte er froh sein, dass sich diese visuellen Explosionen, die sein Bewusstsein zu sprengen drohten, endlich auflösten und nun kämpfte er darum, sich wieder an genau diese Folter erinnern zu können. Zumindest der stechende Schmerz in seinem Kopf kehrte sofort zurück. Little biss die Zähne zusammen. Und tatsächlich. Der Schmerz brachte ein Lumpenkleid einzelner Erinnerungen mit sich.

Was Little überfallen hatte, war aber keine zusammenhängende Vision gewesen. Gerade ihre Mosaikhaftigkeit, das willkürliche Aufblitzen, der schnelle Wechsel, der die Empfindungen einsaugte und ins Leere taumeln ließ, während sich schon die nächste Szene aufdrängte, brachte Little an den Rand der Verzweiflung.

Nach einer Weile, in der sich keiner der Männer regte, fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.

»Es ging um Hüllen und in denen war irgendetwas – etwas Bedrohliches«, sagte er dann zögernd.

»Was habe ich mir unter Hüllen vorzustellen?«, fragte Steele. Er machte sich keine Mühe, seine Skepsis zu verbergen.

Dorkas kratzte sich hörbar den Kopf und betrachtete seine Schuhspitzen, Tony Tanner nahm die Decke ins Visier. Sein Blick fiel auf Rohrleitungen, die unter der lindgrünen Betondecke entlangliefen. Mache waren in aluminiumfarbene Isolierhüllen verpackt, andere schimmerten in verzinktem Blech und hatten einen kastenförmigen Querschnitt.

»Könnte Hülle was mit Rohren zu tun haben?«

Jetzt war Tony im Kreuzpunkt aller Blicke und so bemerkte nur er, dass Little hektisch zu nicken begann. Es war wieder so still, dass das Brummen eines Ventilators zu vernehmen war.

»Wie tief sind wir hier?«, fragte Tony Tanner, an Steele gerichtet.

»Was soll diese Frage?«

»Wie tief sind wir hier? Glauben Sie mir, wenn ich lediglich Lust auf Konversation hätte, dann würde ich mir bestimmt einen anderen Gesprächspartner aussuchen!«

»Ich weiß es nicht genau«, musste Steele eingestehen. »Aber wir sind hier sicherlich unter Themse-Niveau.« Nach dieser Feststellung begann auch er, mit den Blicken die Leitungsschlangen unter der Decke abzusuchen.

 

Was er sah, gefiel Steel, überhaupt nicht. Es ärgerte ihn, dennoch musste er sich eingestehen, dass er ohne das Laienspiel dieses Yankee-Spinners nicht auf diese Gefahr aufmerksam geworden wäre. Bei näherer Betrachtung wurden die Leitungen über ihnen zu einer höher gelegenen Jogging-Strecke, die auch dem unfähigsten Beobachter die Möglichkeit zum Anschleichen und Lauschen gab, sofern er nur auf irgendeine Weise in einen der quadratischen Luftkanäle der Klimaanlage hineinkam.

Noch während er mit erhobenem Kopf die Decke studierte, Abzweigungen und Wanddurchbrüche suchte und prüfend einschätzte, spürte Steele, wie sich seine Nackenhaare langsam aufstellten. Ein Gefühl der Unsicherheit prickelte unter der Haut. Sein Instinkt war schneller als die rationale Beurteilung. Sie mussten hier weg! Sie hätten nie hier sein dürfen.

Bevor er noch seine Entscheidung formulieren konnte, erkannte Steele, was seinen Instinkt in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Jetzt erst drang das Geräusch in sein Bewusstsein. Es war ein feines, kaum merkliches Geräusch. So leise und fein, dass es sich nur für Sekundenbruchteile aus dem üblichen Hintergrundrauschen in seinem Gehör abhob. Es kam von der Decke.

 

Ein Schaben und Kratzen – das mussten Ratten sein. Aber Ratten liefen schneller, hastiger, hatten harte Krallen, und sie waren zu leicht, um ein solches Geräusch in einem der Luftkanäle zu verursachen.

»Verschwinden wir hier – sofort!«, entschied Steele knapp. Ohne es zu bemerken, zog er den Kopf ein, als könnte im nächsten Moment etwas auf ihn herabfallen.

Er deutete auf den Van, der weiter hinten auf dem Parkdeck stand, riss Dorkas Koffer an sich und schritt ohne weiteren Blick auf seine Begleiter auf das Fahrzeug zu. Die Großraumlimousine war ein US-Fabrikat, ein rollendes Wohnzimmer mit drehbaren, beigefarbenen Ledersesseln, dimensioniert für Dinosaurierhintern, und einer Deckenkonsole mit Fernsehmonitor und Musikanlage.

Das schnelle Trappeln der Schritte übertönte für den Augenblick jedes andere Geräusch.

Dorkas mühte sich ungeschickt mit seinem dritten Koffer ab, wobei er krampfhaft sein Paket unter dem Arm eingeklemmt behielt.

Tony Tanner und Little waren schon am Wagen und bemühten sich, diese Szene nicht komisch zu finden. Es gelang ihnen nicht völlig.

Plötzlich knallte ein metallisches Scheppern durch die Tiefgarage. Tony Tanner sah Steele erschrocken an.

»Was war das?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls nichts Gutes!« Steele antwortete und zog zugleich den Reißverschluss seiner Jacke auf. ‹ber seinem Hemd lief der Nylongurt eines Holsters.

»Helfen Sie ihm endlich«, befahl Steele ungeduldig. »Sonst stehen wir morgen noch hier.«

Schuldbewusst machten sich Little und Tony daran, die Koffer zum Wagen zu bringen.

 

Ein feiner Faden von Mörtelstaub rieselte von der Decke, als wären die Rohrhalterungen überlastet und würden sich lockern. Steele wartete an der geöffneten Hecktüre, hinter der sich ein Gepäckabteil befand. Er blieb ruhig, aber dieses Mal war es Tony Tanner, der hinter die Fassade blickte, die mahlenden Kaumuskeln Steeles bemerkte und seine Folgerungen zog.

Die Sitzverteilung ergab sich mehr oder weniger von selbst – Tony Tanner landete auf dem Beifahrersitz, Dorkas ließ sich schnaufend in einen der Sessel im Passagierabteil fallen und Little setzte sich neben ihn.

»Tür zu«, bellte Stelle von vorne. Little mühte sich mit der seitlichen Schiebetür ab. Sie steckte in einer Verriegelung fest und Little gelang es unter Aufbietung aller Kräfte nicht, den Widerstand zu überwinden.

»Machen sie endlich die verdammte Tür zu«, schrie Steele von vorne und drehte sich, um einen Blick nach hinten werfen zu können. »Solange die Tür nicht geschlossen und eingerastet ist, lässt sich der Motor nicht starten!«

Little fummelte verbissen an der Verriegelung, drückte einen kleinen Hebel nach unten, zog, drückte den Hebel nach oben, zog wieder an der Tür, ohne dass sie sich auch nur einen Millimeter bewegte.

Noch bevor Steele sein scharfes »Machen Sie es von außen« herausgequetscht hatte, war Tony Tanner auf dem Weg. Er stieg aus, ließ die Beifahrertür offen und machte die drei Schritte, die ihn zum Griff der Schiebetür brachten. In diesem Moment bemerkte er einen üblen Geruch. Während er das aufgeklebte Schild auf dem Türblech studierte, das im

Comicstil und absolut idiotensicher die Funktion der Verriegelung darstellte, versuchte er den Gedanken zu verdrängen, dass dem entnervten Little eine gewisse Peinlichkeit passiert war, die ein Gentleman vom Kaliber eines Tony Tanner naturgemäß zu ignorieren hat. Er stellte den kleinen Hebel in die Mittelposition und wurde sich darüber klar, dass er den Geruch irgendwoher kannte. Dann warf er die Schiebetür zu. Little grinste verlegen und sank zurück in seinen Sessel.

 

Der Mief wurde stärker, es gab keinen Grund mehr für Tony Tanner, ihn nicht unter penetranter Gestank einzuordnen. Jetzt konnte er ihn einordnen. Stalka und sein Musse vorsichtn, kam ihm in den Sinn. Es war der Gestank, den er aus den endlosen, dunklen Röhren der Kanalisation kannte.

Noch während das Krachen der zugeschmetterten Tür durch die Garage dröhnte, startete der Motor. Die Abgasrohre bliesen eine fette, schwarze Rußfahne über den Boden.

Steele legte den Wählhebel der Automatik auf r, behielt den Fuß auf der Bremse und wartete, bis Tony Tanner eingestiegen war. Aber der erstarrte in diesem Moment zur Salzsäule.

Steele brauchte einige Sekundenbruchteile, um zu registrieren, dass etwas nicht stimmen konnte. Einige weitere Sekundenbruchteile dauerte es, bis er in den Außenspiegel geschaut hatte. Dann gab er Vollgas. Der Motor brüllte auf, schüttelte die gesamte Karosserie. Die Antriebsräder kreiselten auf dem glatten Untergrund, bekamen Griff, trieben quietschend weißen Qualm zur Seite.

Die Verzögerung rettete Tony Tanner das Leben. Sie war für ihn lang genug, um aus der Erstarrung zu erwachen und einen Sprung nach hinten zu machen. Die Kante der Beifahrertür wischte haarscharf an seinem Gesicht vorbei, als der Wagen beschleunigte. Ein zweiter Schritt sollte ihn endgültig aus der Gefahrenzone bringen. Statt dessen prallte er gegen eine Betonsäule, schlug sich den Kopf an und rutschte, mit dem Rücken am rauen Beton entlang schrappend, halb betäubt zu Boden.

 

Ein Krachen, laut genug, um durch das Aufheulen des Motors zu dringen. Das verzinkte Blech eines Luftkanals unter der Decke beulte sich. Die Delle wurde unter heftigen Schlägen größer, ein gezacktes Loch platzte auf. Etwas drängte sich durch, riss an den Rändern des Loches, zerrte trotz scharfer Kanten.

Der Wagen hatte im Halbkreis zurückgesetzt. Steele bremste quietschend, der Motor blubberte im Leerlauf, während der Fahrer die Automatik in D-Stellung schob.

Tony Tanner bemerkte den Blick, den Steele ihm zuwarf. Er drückte sich mit den Ellbogen ab, kam in die Hocke und konnte sich schwankend aufrichten. Er war noch nicht klar im Kopf. In seinem Schädel schlug ein Hammer, seine Zunge lag wie ein nasser Pappdeckel in seinem Mund und störte beim Atmen. Er konnte alles wahrnehmen, aber es wirkte wie etwas, das sich in einer Schaufensterscheibe spiegelt – nichts, was ihn wirklich anging. Mühsam und mechanisch setzte Tony Tanner einen Fuß vor den anderen und verringerte den Abstand zum Wagen.

 

Es war eine Klaue, die sich durch das Loch im Luftkanal schob. Ich sehe irgendetwas, das mich an eine Affenhand erinnert, dachte Tony Tanner, aber kein Affe hat solche Krallen an den Fingern, und kein Affe hat so ein zotteliges, schlammfarbenes Fell. Wie ein Schlafwandler schlurfte Tony vorwärts und glotzte dabei zur Decke.

Die Befestigung des Luftkanals löste sich, mit einem Knall platzte eine Verbindungsnaht und langsam, wie ein Verbindungsgang, der an ein Flugzeug angedockt werden soll, senkte sich das eckige Gehäuse. Das metallische Kreischen schmerzte in den Ohren, aber es weckte Tony Tanner aus seiner Betäubung. Die Panik durchzuckte ihn wie ein Elektroschock. Er startete zu einem Sprint.

Zu spät. Aus dem nun offenen Ende des Kanals quoll es wie eine schlammfarbene Masse, prallte auf den Boden, auf das Wagendach, spritzte scheinbar wieder in die Höhe, entfaltete sich zu einzelnen Gestalten.

Es waren nur Einzelheiten, kleine Splitter, die Tony registrieren konnte. Der Schreck schien alles zu verdunkeln und dazwischen schnitten Stroboskop-Blitze aus plötzlicher, glasharter Klarheit und füllten das Bewusstsein mit Bildern von langem, zottigem, schlammfarbenem Fell, von klumpigem Schmutz verklebt, aus dem es tropfte; mit Bildern räudiger, verschorfter Hautflächen, kahlen Köpfen, breiten, flachen Stirnen unter denen schwarze Augen glitzerten.

Das sind keine Affen, dachte Tony Tanner, das sind Menschen oder zumindest eine Art von Menschen, denn sie tragen eine Art Kleidung und haben die Gestalt von Menschen. Und dann dachte er weiter, dass er nicht denken sollte, sondern sich lieber in den Wagen flüchten.

 

Jeremy Steele konnte nicht direkt verfolgen, was geschah. Für ihn war Tony Tanner wie ein Spiegel, in dem er erkannte, dass sich irgendetwas Unerhörtes zutragen musste. Er sah die völlige Ratlosigkeit im Gesicht des Mannes, die bemühte Suche nach einer Kategorie, die eine Erklärung möglich machte. Dann erklang das Schreien von Metall, und Tony Tanner setzte sich unerwartet schnell in Bewegung. Etwas prallte auf das Wagendach, beulte es nach innen aus und ließ die schwere Karosserie wanken.

Noch bevor Steele zur Waffe greifen konnte, füllte sich der Rahmen der Beifahrertür mit einer stinkenden, schlammfarbenen Gestalt. Die Schultern des Angreifers waren so breit, dass er nicht ohne Weiteres durch die Tür passte. Er rammte die Türholme, hob den Wagen in die Höhe und musste sich dann mit heiserem Knurren dem Gewicht beugen. Der Wagen fiel zurück auf den Boden, krachte ächzend in die Federung. Der Aufprall prellte Steele seine Waffe aus der Hand. Mit gefletschten Zähnen musste er zusehen, wie die Pistole im Fußraum zwischen den Sitzen verschwand.

 

Mit wütendem Schnaufen arbeitete sich der Angreifer in den Wagen. Der Gestank, den er auströmte, den er mit jedem gurgelnden Atemzug ausblies, war betäubend. Schlimmer noch war der Anblick des kahlen, schorfigen Schädels mit den schwarzen Augen, der breiten, wie flachgeschlagenen Nase und dem aufgerissenen Maul, in dem gelbe Zahnstummel zwischen braunen Speichelflocken schimmerten. Das Bild war geeignet, selbst einen Jeremy Steele zu lähmen. Aber Steele hatte gelernt, sich in Teile aufzulösen – den Teil, der vor Schreck gelähmt war. Und den anderen Teil, der sich um nichts und niemanden scherte und sein Ding durchzog.

In diesem Fall bedeutete es, dass sich Steele nach vorne warf, gerade als die Krallen des Angreifers durch die Luft pfiffen, um ihn zu packen. Das Leder des Fahrersitzes wurde in Streifen zerfetzt. Steele stieß sich die Rippen am Wählhebel, knallte mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett, biss sich auf die Zunge. Sein Mund füllte sich mit dem Metallgeschmack seines eigenen Blutes, er spürte es wie ein Betäubungsmittel. Automatisch tastete seine Hand nach der Waffe. Der Angreifer war über ihm, drückte ihn tiefer gegen die Bodenmatten, während er immer noch die Polsterung in Fetzen riss. Die Luft wich aus Steeles Lungen, Funken tanzten vor seinen Augen.

 

Steeles Fingerspitzen stießen an einen harten Gegenstand. Er griff zu, versuchte, sich klarzuwerden, was es war. Glück gehabt, es war die Pistole. Aber nun musste er sie so in die Hand bekommen, dass er sich auch gezielt abfeuern konnte. Ein schwieriges Unterfangen, wenn man in der Situation eines Altautos ist, das in der Presse zu einem handlichen Paket verarbeitet werden soll. Ein schmerzhafter Stoß traf seinen Rücken und rammte Steele noch ein Stück in den Fußraum. Die Pistolenhand flog gegen Blech, fast wäre ihm die Waffe aus den Fingern gesprungen. Instinktiv klammerte er – und spürte die Griffschale. Als hätte er die Lösung einer Gleichung gefunden, glitt sein Zeigefinger um den Abzug, warf sein Daumen den Sicherungshebel um.

Zwei Schüsse in schneller Folge – aber die Wirkung blieb aus. Steele konnte spüren, wie der Körper über ihm leichter zu werden schien, als die Treffer ihn nach oben trieben. Der Effekt verging nach einer Sekunde und das Schnaufen verwandelte sich in ein kehliges Kreischen. Noch wütender als vorher wühlte der Angreifer und versuchte, Steele in die Krallen zu bekommen. Der hatte nur noch einen Trumpf. Er schaltete das Magazin auf Explosivgeschosse und feuerte. Jetzt hob der Angreifer förmlich ab, wurde gegen den Wagenhimmel geschleudert. Wie eine Feder, auf die der Druck nachlässt, sprang Steele auf.

Er warf sich auf die Reste des Fahrersitzes, schleuderte dann mit einem Tritt die Überreste des Angreifers auf der Beifahrerseite aus dem Wagen. Die Decke über ihm war mit einer schaumig-roten Masse aus Fell und Haut bedeckt. Als ein Bluttropfen Steeles Hand traf, zuckte der mit einem Schmerzensschrei zurück. Die zähe Flüssigkeit wirkte ätzend wie eine Säure.

 

Als hätte ihn eine Explosion dorthin geschleudert, sprang der nächste Angreifer in die offene Tür. Steele schoss, einmal, zweimal. Er sah den Blutnebel, der sich hinter dem Rücken des Angreifers bildete, sah Fleisch und Fell spritzen. Trotzdem wurde die Attacke nicht unterbrochen.

Spätestens jetzt wusste auch Jeremy Steele: Sie hatten ein Problem!

Fortsetzung folgt …