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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.9

Wo die Erde blutet – Teil 9

Kurze Zeit vorher spielte sich in derselben Stadt eine Szene ab, von der die vier Männer nichts ahnten.

Hauptpersonen dieser Szene waren wiederum zwei Männer mittleren Alters, deren Kleidung und Auftreten sie dem ersten Anschein nach in die besseren Zirkel der westlichen Gesellschaft einordnete. Der zweite Blick registrierte zu knapp sitzende Hosen mit zuviel Schlag, unpassende Krawatten- und Hemdfarben, protzige Krawattennadeln, bombastische Siegelringe und eindeutig zu lange Haare im Nackenbereich.

Oder, um es prägnanter auszudrücken, die Männer waren Vertreter jener halbseidenen Eleganz, die sich vorzugsweise in der Dämmerungszone zwischen Ober- und Unterwelt entwickelt.

 

Nachdem sie ihren Jaguar geparkt hatten, beeilten sie sich, die Eingangstreppe eines nicht ganz nahe gelegenen Hauses zu erreichen. Da zur betreffenden Zeit weder Regen noch Schneesturm herrschte, wirkte diese Eile auffällig. Da aber keiner der beiden Herren unterwegs einen Blick auf die Uhr warf, musste man vermuten, dass sie sich nicht wegen einer Verspätung beeilten, sondern weil sie nicht auf der Straße gesehen werden wollten.

Herbie Gerrard und Dough Leonard hatten in der Tat keinen Drang zur Öffentlichkeit. Das hing mit ihrer Art zusammen, sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Beide sprangen die Treppen hoch und blieben vor der geschlossenen Tür stehen, den Rücken zur Straße gewendet.

Auf ihr Klingeln geschah erst nichts, dann wurde der Briefschlitz geöffnet. Herbie Gerrard ging in die Knie und peilte durch die schmale Öffnung.

»Wie ist das Wetter?«, kam es von innen.

»Jetzt hör mal, du kennst mich doch, was soll der Scheiß«, protestierte Herbie.

»Wie ist das Wetter?«

»Sonne im Norden und Schnee im Süden«, leierte Herbie Gerrard herunter. Dann stockte er und warf einen hilfesuchenden Blick auf Dough Leonard. Der soufflierte: »Regen im Westen und Sturm im Osten.«

»In Ordnung«, beschied die Stimme aus dem Inneren des Hauses. Verschiedene Riegel wurden zur Seite geschoben, dann öffnete sich die Tür, und Gerrard und Leonard schlüpften hinein.

»Mach diesen Scheiß nicht noch mal mit mir, sonst …«, fauchte Gerrard und tippte dem Türhüter mehrmals auf die Brust. Das fiel im um so leichter, als der Mann einen Kopf kleiner war als Gerrard.

»Alles klar«, antwortet der Angesprochene. »Ich werde dem Boss sagen, er soll sich seine Sicherheitsvorkehrungen irgendwohin stecken, weil Herbie sich nichts merken kann.«

Dann deutete er zu einer Tür, die in den Keller führte. »Hier lang, die Herrschaften. Und unten immer geradeaus.«

Mit merklicher geringerem Schwung folgten die beiden der Aufforderung. Die Treppe führte steil in die Tiefe. Nur eine rote Lampe, die an ein Notlicht denken ließ, machte die Stufe einigermaßen sichtbar. Die Hand am Geländer stiegen Gerrard und Leonard langsam die Treppe herunter. Sie waren auf architektonischem Gebiet keine Kenner, aber ihnen wurde bald klar, dass ihr Weg sie nicht in einen normalen Keller führen konnte. Viel zu steil ging es herab und vor allem viel zu tief. Beide hatten genügend Zeit darüber nachzudenken, ob es eine gute Idee war, sich auf diesen Job einzulassen.

 

Die Sache hatte am vorigen Abend mit einem Anruf begonnen. Der Mann auf der anderen Seite der Leitung war auf eine ganz spezielle Art ein Arbeitsvermittler. Er kannte so gut wie jeden in der Londoner Unterwelt, konnte die Fähigkeiten und Schwächen jedes Einzelnen einschätzen, wusste vor allem, wo und wie sie zu erreichen waren und war so in der Lage, für jede Art von Unternehmung das richtige Personal zusamnmen zu stellen. Er brauchte Dough Leonard und Herbie Gerrard nur einen Satz zu sagen, dann war die Sache klar: »Mister Moon, will dich sprechen!«

 

Während Dough Leonard und Herbie Gerrard die scheinbar endlose Treppe herabstiegen, hatten sie ausreichend Muße, über Mister Moon und seinen Ruf nachzudenken. Mister Moon war eine Legende. Vielleicht sollte man ihn zutreffender als Gerücht bezeichnen. In jedem Fall konnte er als klassisches Beispiel für die Entwicklung von Legenden herhalten. Er tauchte erst vor wenigen Monaten auf, und so ganz genau wusste nachher niemand mehr den Zeitpunkt, wann man zuerst von dem geheimnisvollen Mister Moon gehört hatte.

Es geschahen einige Dinge, die auf ihn zurückgeführt wurden. Dinge, die deutlich machten, dass Mister Moon keinerlei Ehrgeiz hatte, sich den Ruf eines Humanisten und Menschenfreundes zu erwerben. Spätestens, als ein Krimineller namens »Dorothy« den Mund zu weit aufriss und einige Tage später in der Kanalisation wiedergefunden wurde – und zwar an den Füßen aufgehängt und so behandelt, wie ein braver Weidmann das Beutetier behandelt, mit dem wichtigen Unterschied, dass der Weidmann keine Vivisektionen vornimmt und nur tote Tiere aufbricht – bekam der Name Mister Moon einen schalen Beigeschmack und wurde mit einem Unterton von Abscheu und Bewunderung genannt.

Inzwischen war zu hören, er schlafe jede Nacht nur eine Stunde, habe eine Tätowierung, die ihm mit dem Messer eingeritzt worden war, und ernähre sich vorwiegend von rohem Fleisch.

 

Je weiter sie die Treppe hinabstiegen, desto weniger Begeisterung empfanden Dough Leonard und Herbie Gerrard bei dem Gedanken, bald persönlich alle diese Gerüchte auf ihren Wahrheitsgehalt nachprüfen zu dürfen.

»Wenn wir noch lange runtersteigen, landen wir voll endmäßig in Australien oder so …«, brummte Leonard. Er hatte am Anfang vesucht, die Stufen zu zählen. Aber aus irgendeinem Grund, und wahrscheinlich lag es nur an Herbie Gerrard, war er durcheinander gekommen oder hatte die letzte Zahl vergessen. So genau wusste Dough Leonard es gar nicht mehr.

»Bestimmt ein Bunker und so …«, antwortete Gerrard.

»Wieso Bunker?«

»Na, als die Krauts ihren Blitz auf London machten, die Luftangriffe, das muss dieser Willy Kohl gewesen sein, auf den Maggie Thatcher immer voll laut geschimpft hat, da haben sich die Geldsäcke eigene Bunker bauen lassen. Oder später, als diese Iwans, dieser versoffene Dingensjelzin die Bombe hatten, da wurden noch mehr Bunker gebaut oder so …«

»Muss tatsächlich atombombensicher sein, dieses Teil hier«, befand Leonard, und seine Stimme klang nicht mehr so fest. Er schnüffelte nervös, weil ihm ein Geruch in die Nase stieg, den er nicht identifizieren konnte. Es war auf jeden Fall nichts, was ihn spontan begeistern konnte, also roch es nicht nach Rumpsteak, Zwiebeln, Ale oder Tabak.

»Riechst du das auch?«, erkundigte sich Leonard.

Stufe um Stufe in die Tiefe steigend, hob Herbie Gerrard die Nase und sog vernehmlich die Luft ein. Es gab ein schnorkelndes Geräusch, das gut zu einer Radioreklame für ein Schnupfenmittel gepasst hätte.

»Irgendeine komische Blume. Erinnert mich an diese muffigen Frischluft-Sprays, die sie in den Scheißhäusern von Kneipen benutzen. Muffig würde ich sagen oder so …«

»Dann wissen wir ja, was uns unten erwartet, und so …«, sagte Dough Leonard und bemühte sich um eine klare Stimme. Sie klang selbst in seinen eigenen Ohren falsch.

 

Sie mussten sich jetzt in totaler Dunkelheit vortasten. Die Finger glitten am Handlauf entlang, die Füße tasteten nach der nächsten Stufe. Einmal zögerte Gerrard und Leonard trat ihm in die Hacken.

»Was soll dieser Scheiß eigentlich«, bellte Gerrard, aber er meinte nicht seinen Begleiter, sondern die schier endlose Treppe, die sie tiefer und tiefer in die Dunkelheit führte. Inzwischen mussten sie, bedingt durch die Schräge der Treppe und ihre Länge, schon weit von dem Haus abgekommen sein, in dem sie die erste Stufe betreten hatten.

»Ob das so eine Art Prüfung sein soll oder so?«, fragte Gerrard. Die Antwort interessierte ihn eigentlich überhaupt nicht, er wollte nur das Organ von Leonard hören, denn ihn überkam die Empfindung, völlig allein auf dieser Treppe zu sein.

 

Für einen Moment erinnerte er sich an eine Filmszene – seltsam, ansonsten erinnerte sich Herbie Gerrad nie an Filme, immer nur an die Mädels, die er ins Kino schleppte, an sie dort sturmreif zu knutschen und zu fummeln, damit sie sich hinterher ohne Widerstand flachlegen ließen. Er konnte sich auch jetzt noch an das Mädchen erinnern: Es war eine dürre, blasse

Blondine, die leise kicherte, als er ihr an die Schenkel ging und dann seine Finger in ihren Slip schob, was Gerrard absolut daneben fand, denn er hasste diesen fischigen Frauengeruch an den Fingern, wie er behauptete. Wie hieß sie noch? Herbie Gerrard verzog im Dunkeln das Gesicht Chrissie, Cristin, Kirsten – irgendwas in dieser Preislage. Frommer Name für eine richtige kleine Nutte, die später auf ihm herumrutschte, als müsste sie mit ihren Hüften ein Holzbrett schrubben, und dabei kreischte sie noch derart das Hotel zusammen, dass sogar das Faktotum an die Tür klopfte und fragte, ob alles in Ordnung sei. Und diese Chrissie oder wie auch immer kreischte Ich komme, und das Faktotum blieb an der Tür und fragte nach ein paar Minuten, wann sie denn endlich an der Tür sei, dieser schwuchtelige Idiot.

Aber was war das für ein Film? Herbie Gerrard konnte sich nur an eine Szene erinnern. Nein, diese blöde Szene nutzte ihn, Herbie Gerrard, als Bühne, um neu zu erstehen. Sie senkte sich wie ein Stachel in seine Gedanken, saß in seinem Kopf wie ein Metallstift, durch den ungewünschte Impulse in sein Hirn strömten. Gerrard bemühte sich, irgendein anderes Bild in den Kopf zu zwingen. Es gelang für einige Sekunden, bis sich die Konturen wieder änderten und seine Vorstellungen genau dort eintrafen, wo sie auf keinen Fall hin sollten.

 

So sehr Herbie Gerrard sich auch bemühte, fiel ihm doch weder Titel noch Inhalt des Filmes ein. Er setzte den Fuß vor, tastete nach der nächsten Stufe, verlagerte sein Gewicht auf den unteren Fuß und zermarterte sich wütend das Hirn, als wäre der Filmtitel ein erlösendes Passwort. Alles war vergeblich. Die Vorstellung saß in seinem Kopf, sie pochte und arbeitete.

Sie begann, die Wirklichkeit zu formen, bis sie selbst die Wirklichkeit war. Der Teppichbelag unter Gerrards Schuhsohlen verschwand und wurde durch uralten, von Tausenden Füßen glattpolierten Stein ersetzt. Selbst das harte Geräusch, mit dem der Fuß auftrat, war deutlich vernehmbar.

Hatte Leonard auf seine letzte Frage eigentlich geantwortet? War er überhaupt noch da? Herbie Gerrard tastete nach dem Handlauf und wusste genau, dass er dort nichts finden würde. Es gab weder einen Halt noch überhaupt eine Wand. Sein Bewusstsein spaltete sich er sah sich selbst wie auf einer Kinoleinwand und war zugleich der Mann, den er beobachtete.

 

Dieser Mann stieg eine Treppe herab. Er tat es zögernd und unsicher, mit fahrigen Bewegungen. Aber diese Unsicherheit erklärte sich schnell aus der Art der Treppe, die er herabstieg. Es war keine einfache Treppe, sondern ein Bauwerk an sich: Gigantische Pfeiler hoben sich aus düsteren Tiefen, um diesen schmalen Steg zu tragen, der weniger als die Schulterbreite eines Mannes maß. Bei genauerem Hinsehen erkannte Gerrard, dass die Stufen gerade breit genug waren, um jeweils einen Fuß darauf zu setzen. Der Mann auf der Treppe, der Mann Herbie Gerrard, konnte sich keine Pause erlauben. Selbst das kleinste Zögern würde ihn aus dem Gleichgewicht bringen und ihn in die unermessliche Tiefe stürzen lassen. Gerrard spürte den kalten Wind, der aus der Tiefe blies und ihn schwanken machte. Der Himmel war mit schwarzen Wolken bedeckt, durch ein fahles rötliches Licht sickerte, gerade ausreichend, um einen Teil der Treppe zu erkennen, aber zu schwach, um zu sehen, wo sie begann und wo sie endete. Dennoch wusste Herbie Gerrard, dass er von einer flachen, leblosen Ebene umgeben war. Sie breitete sich nach allen Seiten aus, weiter und immer weiter und dann noch weiter, sodass allein die Vorstellung dieser endlosen Ausdehnung Schwindel hervorrufen musste, weil sich die Gedanken immer schneller bewegten, um das Ende dieser Ebene zu denken, aber niemals kamen sie dorthin, obwohl sie schneller als das Licht über die schwarze, glasharte Glätte jagten.

 

Aus der Tiefe ertönten spitze Schreie. Und Herbie Gerrad wusste nicht, ob er sich die Bilder zu diesen Schreien selbst formte, oder ob diese Wesen es waren, die diese zugleich klagenden und hasserfüllten Schreie ausstießen, jedenfalls stiegen aus der schwarzen Tiefe Vögel und schwebten langsam zu dem Mann, der immer schneller die Treppe herabstieg, jetzt schon fast stürzte und in seinem Sturz nur noch für die nächste und dann die übernächste Stufe sicheren Stand zu finden schien.

Die Vögel erinnerten eher an Fledermäuse oder Saurier. Sie hatten nichts von der Vertrautheit, die selbst das exotischste Fiederwesen auf den menschlichen Betrachter noch hat. Sie waren von einer Aura völliger Fremdheit umgeben. Ihre langen, spitz zulaufenden Schwingen waren mit Haut überzogen. Gegen den Himmel und seine rötlichen Linien, die wie Reste von Glut in einer erkaltenden Lava wirkten, konnte Gerrard die Knochen, Muskeln und Adern durchschimmern sehen. Es war eine obszöne, aufdringliche Offenbarung, die an den Anblick frisch abgezogener Haut erinnerte. Die Vögel hatten runde Köpfe mit krummen Schnäbeln, die wie Hakennasen aussahen. Sie schwebten aus dem Wind heran und glitten langsam an Gerrard vorbei, der durch ihren Anblick an den Rand der Panik gebracht wurde.

Mit menschlichen Augen betrachteten die schwebenden Wesen seine Bemühungen, diese Treppe herabzusteigen. In ihren Augen war kein Mitleid, nicht einmal Erkennen oder Interesse. Sie waren wie gelangweilte Forscher, die das Ende einer Laborratte zu oft erlebt hatten, um daran noch Anteil zu nehmen.

 

Gerrard spürte, wie die Treppe unter ihm schwankte. Das Knacken und Knirschen von Stein klang durch das Sausen des Windes. Hinter ihm kollerte ein Stein in die Tiefe, stürzte mit schrillem Pfeifen und zerbarst mit dumpfem Knall.

Die Pfeiler, die im Verhältnis zu ihrer Länge bestenfalls einem überzüchteten Blütenstiel ähnelten, begannen knarrend zu wanken. Gerrard breitete stöhnend die Arme aus, kämpfte um sein Gleichgewicht, spürte aber nur den Wind unter den Handflächen und damit zugleich den Hauch der Tiefe, die nur darauf wartete, ihn zu verschlingen. Er setzte den nächsten Schritt, dann verlor er vollends sein Gleichgewicht und stürzte …

Er prallte gegen den Rücken von Dough Leonard, tastete sich über das feine Tuch des Jacketts, um sicherzugehen, dass er wirklich auf festem Boden stand. Irgendetwas stimmte nicht mit Leonard, denn im Normalfall würde er jedem, der sich an seinen Klamotten verging, eins auf die Nase geben.

Gerrard wischte sich mit einem Tuch die schweissnasse Stirn ab. Nach kurzem Zögern erst wagte er einen Blick auf die Treppe. Es fiel ihm schwer, seinen eigenen Augen zu trauen.

Er sah oben, an den Türrahmen gelehnt, den Kerl, der sie in Empfang genommen hatte, und zwischen ihm und diesem Kerl waren nicht mehr als gerade einmal dreißig Stufen.

Die beiden Männer erinnerten sich an die Anweisungen, die sie oben erhalten hatten, und schlurften geradeaus in einen unbeleuchteten Flur. Nach kurzer Zeit hörten sie eine Stimme.

 

»Hierhin«, klang es aus dem Dunkeln. Gehorsam wandten sich Gerrard und Leonard in die angegebene Richtung und betraten einen Seitengang.

»Halt!«, befahl die Männerstimme. Sie hatte einen befehlsgewohnten Ton und einen Akzent, der auf eine slawische Muttersprache schließen ließ. Licht flackerte und tauchte den Gang in Helligkeit. Gerrard und Leonrad kniffen die Augen zusammen und verzogen die Gesichter. Trotzdem waren sie Profis genug, um den Mann in Bauernschrank-Format zu registrieren, der zwischen ihnen und einer Stahltür stand.

Der Wächter betrachtete mit seinen schwarzen Augen die beiden Ankömmlinge und wartete, bis sie ihre zusammengekniffenen Lider wieder entspannt hatten. Dann gab er mit beiden Mittelfingern ein kleines Zeichen und Leonard und Gerrard hoben die Arme in die Höhe und ließen sich abklopfen.

»Die Dinger kommen so lange in die Garderobe«, beschied sie der Wächter und warf die Waffen in einen Karton. Dann deutete er auf eine Tür hinter sich.

»Eintreten, ohne anzuklopfen«, gab er ihnen auf den Weg.

 

Die beiden Besucher hatten mehr Instruktionen erwartet. Unsicher schauten sie sich an, dann raffte sich Leonard auf, zuckte betont lässig mit den Schultern und drückte die Klinke herunter. Er musste beträchtliche Kraft aufwenden, um die Tür aufzudrücken. Als sie sich einen Spaltbreit öffnete, gab es ein leises Zischen, als ob ein Druckausgleich stattfände.

Kühle Luft empfing Gerrard und Leonard. Beide erschauerten und zogen unwillkürlich die Köpfe in den Nacken. Der Raum selbst war ernüchternd. Was immer sie auch erwartet hatten – barocke Pracht oder kalte, moderne Eleganz oder wenigstens ein paar bessere Ölschinken an den Wänden – nichts davon war zu sehen.

Sie befanden sich in einem kleinen, niedrigen Zimmer ohne irgendeine Einrichtung, wenn man von zwei unbequemen Stühlen, einem Halogenstrahler und einem Sessel im Hintergrund absah. Der Halogenstrahler war an einer Teleskopstange befestigt und beleuchtete die beiden nebeneinanderstehenden Stühle.

 

»Setzen Sie sich, meine Herren!« Diese Stimme kam aus dem großen Sessel.

Gerrard und Leonard schoben sich auf die Stühle. Die Plastiksitzschalen waren der übliche kreative Aufschrei eines heutzeitigen Möbeldesigners gegen die menschliche Gesäßform. Die Kanten schnitten in Kniekehlen und Schenkel. Die Stühle hatten etwas von einer zuschnappenden Falle. Sie wirkten auf die beiden Besucher lähmend wie eine Beschimpfung. Gerrard und Leonard wussten nicht, wohin mit den Händen, und legten sie schließlich wie verschüchterte Schuljungen in den Schoß. Das Licht blendete, die Männer fühlten sich ausgesetzt wie Steaks im Kühlregal, die Lichtstrahlen nadelten sie auf wie präparierte Käfer in einer Sammlung.

Leonard kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und legte den Kopf etwas zur Seite. Auf diese Art konnte er den Sessel wenigstens schemenhaft erkennen. Das war wenig genug, zumal der Sessel mit der Lehne zu ihnen stand.

Aus dem Dunkeln kam ein leises Winseln, als sich der Sessel drehte.

»Wer von den beiden Herren ist Leonard?«

Der Angesprochene hob leicht und ziemlich demütig die Hand.

Die Stimme aus dem Dunkel war ein tief und voll klingender Bass. Sie verursachte Vibrationen, die im Ohr nachzuschwingen schien, selbst als der Satz schon längst beendet war. Es musste die Stimme eines großen und schweren Mannes sein.

Vielleicht bildete sich Leonard mehr ein, als er tatsächlich sehen konnte – an dieser Stelle hatte er die unbewusste Chance, alle Urteile, Vorurteile und vorgefassten Vorstellungen über Mister Moon auf das Schemen hinter dem Lichtschleier zu projizieren.

Aber Dough Leonard war nicht der Mann für derart diffizile Überlegungen. Er SAH tatsächlich einen unförmig fetten, glatzköpfigen Mann in dem Sessel, er erkannte die stechenden blauen Augen, die stumpfe Säuglingsnase und den weinerlichen, dicklippigen Karpfenmund. Alles zusammen war von erschreckender, ja abstoßender Hässlichkeit und wirkte wie eine misslungene Mixtur eines Erwachsenengesichtes mit dem aufgeschwollenen Antlitz eines mumpskranken Kindes. Diese Beobachtung, etwas, das Leonard in Bruchteilen einer Sekunde aufnahm, um es dann in seinem Bewusstsein weiter zu verarbeiten, bis er letztendlich das fertige Bild vor dem inneren Auge hatte, beeindruckte ihn über alle Maßen. Dass

Mister Moon eine derart abscheuliche Visage hatte, passte in hervorragender Weise zu seinem Ruf. Und es passte auch zu seiner Stimme, mit der er jetzt Fragen stellte.

 

Leonard senkte die Augen. Die Helligkeit und die Schmerzen, die sie verursachte, hatten über seine Neugier gesiegt. Er blickte auf seine Hände, antwortete auf die an ihn gestellten Fragen und wartete darauf, dass die roten Spiralen, die vor seinem Blick entlang wirbelten, endlich verschwinden würden.

Mister Moon kannte die Lebensgeschichte seiner beiden Besucher erstaunlich gut. Woher er diese Kenntnisse bezog, war sowohl Dough Leonard als auch Herbie Gerrard unklar.

Zwischen den beiden glomm einen Herzschlag lang ein Funke von Misstrauen auf. Ob der andere diesem Mister Moon vielleicht irgendwelche Dinge gesteckt hatte? Und so gleichzeitig, wie der Verdacht in die Gedanken huschte, wurde er wieder vertrieben. Nein, Mister Moon musste eine andere Quelle haben. Welche es auch immer sein mochte.

Die Köpfe der beiden Männer hoben sich bei der nächsten Frage in unwillkürlicher Parallelität. Dieses Mal war es nicht der Inhalt der Frage, sondern eine Veränderung der Stimme. Plötzlich änderte sie ihren Klang, verlor die brummende Tiefe und wurde zu einem hellen, klirrenden Organ. Dazwischen erklang wieder das Winseln des Sessels, als würde der nervös hin- und hergedreht.

Noch einmal überwand sich Dough Leonard und schaute mit schmerzenden Augen in den Lichtvorhang. Er war sich sicher, dass jetzt ein anderer in diesem Sessel war. Ein wesentlich jüngerer Mann, schlank und muskulös und mit einem arroganten, aber trotzdem klassisch schönen Gesicht. Es gab gewisse Ähnlichkeiten mit dem Gesicht, das Leonard vorher gesehen hatte: dieselbe hohe Stirn, dieselben stechenden Augen und schwere Lippen.

Leonard konnte sich nur einie Erklärung denken, während er mit tränenden Augen wieder seine nervösen Hände anschaute – es gab hinten in dem Raum eine für sie unsichtbare Tür, durch die der eine gegangen und der andere gekommen war. Mister Moon war also nicht nur eine Person. Mister Moon war der Deckname für mehrere Personen, vielleicht eine ganze Organisation. Und wie es schien, waren die Führer miteinander verwandt. Das musste der Sohn sein, schätzte Leonard. Vielleicht aber auch ein jüngerer Bruder.

 

Das Verhör, denn um nichts anderes handelte es sich, lief weiter. Und wieder kam es zu dieser sonderbaren Änderung in der Stimmlage. Nicht zurück zu dem anfänglichen vibrierenden Bariton, sondern zu einem heiseren, manchmal quäkenden Flüstern, als wären die Stimmbänder noch nicht vollständig entwickelt.

Den beiden wurde klar, dass Mister Moon seine eigene Truppe auf die Sache angesetzt hatte. (Sowohl Gerrard als auch Leonard befleißigten sich einer sehr technischen Ausdrucksweise, wenn es um ihren Job ging. Die Sache konnte also durchaus auch ein Mensch sein.) Mister Moon war recht sicher, dass seine Leute die Sache erledigen würden.

Gerrard und Leonard waren nur zur Sicherheit da, falls es wider Erwarten Überlebende gab, die noch flüchten konnten.

»Noch eins«, schnarrte diese Stimme. »Es gibt etwas, das ich brauche. Unbedingt. Es ist eine Kladde. Einer von den Kerlen muss sie haben. Bevor ihr sie umlegt und entsorgt, sucht danach. Es ist wichtig. Und nun geht.«

Mit gesenkten Köpfen, aber erleichtertem Hinterteil, erhoben sich Gerrard und Leonard von ihren Folterstühlen und wollten nur noch rasch zum Ausgang.

Ein »Halt! Noch eines«, hielt sie zurück. Leonard stand jetzt außerhalb des Lichtkegels.

Im Dunkeln erkannte er den Sessel und darin eine breite Gestalt, hineingegossen wie zu stark aufgequollener Hefeteig, eigentlich nur Brust und Bauch und daran als kleine Fortsätze die Arme, Beine und der Kopf. Blitzartig stieg in Leonard das Bild einer ausgestopften Stoffpuppe auf.

 

Unwillkürlich wich Leonard zurück, stieß aber gegen Gerrard.

Die Gestalt im Sessel kümmerte sich nicht um diese Reaktion.

»Ihr nehmt Lalle mit. Er wird euch helfen. Und nun zieht endlich ab!«

Die beiden stürzten zur Tür. Erst draußen wagten sie, den fälligen Seufzer hören zu lassen.

Der Name Lalle hatte einen ähnlichen Klang wie der des Mister Moon. Er war als eine Art Faktotum bekannt, aber auch ihn hatte noch nie jemand zu Gesicht bekommen.

Sie bekamen ihre Waffen zurück, stiegen die Treppe hinauf – es dauerte keine zehn Sekunden – und dann warteten sie im Erdgeschoss.

»Hast du gemerkt – wir haben mit mindestens drei Typen gesprochen«, sagte Leonard. »Einer hat sich rausgeschlichen und dann der Nächste rein. Muss hinten eine Tür geben.«

Herbie Gerrard schüttelte nur den gesenkten Kopf. »Es gab keine Tür oder so«, antwortete er leise, als könnte ihn ein ungebetener Lauscher hören. »Ich habe mir die Wand angeschaut, als wir schon auf dem Weg nach draußen waren. Da gab es keine Tür. Ich bin mir sicher.«

»Und was war das sonst, bitte schön? Wir haben doch mit drei Typen gesprochen, das muss doch selbst ein Trottel wie du bemerkt haben.«

»Hab ich. Aber es gab keine Tür. Und ich habe keine Erklärung. Aber du nennst mich besser nicht mehr Trottel, sonst hau ich dich durch die Wand, und dann ist an der Stelle ‘ne Tür, ich sag’s dir!«

Leonard hatte keine Lust auf Streit. So kam es ihm durchaus recht, dass jetzt der klein gewachsene Portier wieder auftauchte und sie heranwinkte.

»Um eines mal deutlich zu sagen«, sagte er zu Gerrard und Leonard gewandt.

»Lalle ist ein wenig prekär oder so …« Er wartete einen Augenblick, um seine Worte wirken zu lassen. Die beiden Zuhörer starrten ihn offenmäulig an. In ihr Erstaunen mischte sich deutlich sichtbares Unbehagen.

Der Portier grinste boshaft: »Das Prinzip ist einfach. Ihr macht genau das was er will und alles ist bestens. Leider weiß keiner vorher, was Lalle will. Lalle auch nicht. Also seid vorsichtig. Lalle hat den direkten Draht zu Mister Moon. Und wenn ich direkter Draht sage, meine ich direkter Draht!«

Damit stieß er eine Tür auf und schob die beiden Männer hinein. Sie gerieten in ein rosafarbenes Kitschparadies aus gehäkelten Kissenbezügen und ‹berdeckchen, Tüllvolants, Plüschtieren, gestickten Wandbehängen und Ölbildern mit traurigen Welpen, die aus riesigen Augen flehend in die Welt schauten. Der Raum hatte keine Fenster, weil überall die Wandteppiche und Bilder hingen.

 

Auf einem riesigen Himmelbett, ganz in einem verdächtigen Rosa gehalten, saß eine schwarz gekleidete Gestalt. Zuerst schien sie wegen der Übergröße des Bettes so klein. Aber als Leonard und Gerrard näher traten, erkannten sie, dass es ein Kleinwüchsiger war, der dort mit gespreizten Beinen saß und sie wütend anfauchte.

»Was wollen diese Pfeifen«, kreischte Lalle. »Wirf sie raus, wirf sie raus. Ich mag sie nicht sehen. Oh, sie beleidigen meine Augen!«

Dabei hielt er sich theatralisch die kurze Arme vor das Gesicht. Lalle trug seinen Namen durchaus zu Recht. Er schoss seine Sätze heraus wie eine Revolverkanone die Kugeln und war wegen dieser Geschwindigkeit kaum in der Lage, deutlich zu sprechen. Was aus seinem verzerrten Mund kam, war ein einziger langer Ton, der sich beim Hörer erst nach längerem Nachdenken in einen verständlichen Satz verwandelte.

»Der Chef schickt sie«, erklärte der Portier mit betont sanfter Stimme. »Du sollst ihnen helfen, einige Kerle zu finden.«

»Ach was«, kreischte Lalle. »Unfähig, unfähig. Weg damit, weg damit, hinfort!«

Bei diesen Worten fuchtelte er mit den Armen, als müsste er sich durch eine Menschenmenge schieben. Diese Arme hatten seltsamerweise die richtigen Proportionen im Vergleich zum Körper, wie Leonard feststellte. Dafür waren die Beine enorm kurz und enorm dick. Obwohl Lalle einen maßgeschneiderten Anzug trug, war offensichtlich, dass seine Beine keine Kniegelenke hatten und an ehesten mit Elefantenextremitäten zu vergleichen waren.

Sein Kopf allerdings war deutlich größer als der eines normalen Erwachsenen. Der Schädel bestand aus einer riesigen Stirn, über der ein Wust aus pechschwarzen, drahtigen Haaren wucherte. Zwischen dieser Stirn und dem überdimensionierten Nussknackerkinn war das winzig kleine Gesicht eingeklemmt und wirkte, als sei es zwischen zwei Gewichten zusammengepresst und würde sich schlagartig zu normaler Größe entfalten, sobald auch nur das eine Gewicht schwinden würde.

In dem Puppengesicht waren farblose, feuchte Augen, die es vermieden, einen der Anwesenden zu fixieren. Lalle wedelte mit seinen Armen und kreischte vor Wut.

»Sprich doch selbst mit dem Chef«, sagte der Portier mit mühsamer Ruhe. »Dann kannst du ihm deine Meinung über diese Herren sagen, die der Chef selbst ausgesucht hat.«

»Ach was«, kreischte Lalle und rutschte von seinem Bett. »Ich will in einem Wagen mit Klimaanlage sitzen, damit das klar ist. Und ich will einen Wagen, der keine Ledersitze hat. Ich hasse Ledersitze!«

Damit wackelte er steifbeinig, ohne einen Blick auf die anderen aus dem Raum und zum Ausgang.

Der Portier grinste. »Auf Ledersitzen findet unser kleiner Liebling keinen Halt. Da klatscht er in jeder Kurve gegen die Türverkleidung, dass es scheppert. Nehmt den Kotzbrocken mit, haltet ihn bei Laune. Ihr bekommt in einer Stunde einen Anruf, der euch sagt, wo ihr den Wagen findet und wo ihr warten sollt. Waffen sind im Handschuhfach. Wenn ihr auf Position seid, wird euch Lalle alles weitere mitteilen!«

Dough Leonard und Herbie Gerrard gingen hinter Lalle auf die Straße und fragten sich, ob es nicht wesentlich besser gewesen wäre, wenn sie in den letzten Tagen überhaupt nicht ans Telefon gegangen wären.

***

Der Munitionsverbrauch war zu hoch. Selbst wenn Jeremy Steele ein Volltreffer mit einem Explosivgeschoss gelang, bedeutete das noch lange nicht, dass der Angreifer damit außer Gefecht gesetzt gewesen wäre. Diese stinkenden, zotteligen, schlammfarbenen Wesen schienen bis in die letzte Faser ihres Seins aus purer Angriffslust zu bestehen. Selbst wenn der

Schuss ihnen den Schädel wegriss, trieb ihr Instinkt sie weiter vorwärts, und ihre fürchterlich kräftigen Armen wühlten weiter und versuchten, eine Beute zu packen. Eine Hand, an der nur noch die Hälfte eines Unterarmes hing, kroch wie ein Insekt auf Steeles Bein zu, zog eine Spur von ätzendem Blut hinter sich her und bekam dann Steeles Knöchel zu fassen. Steeles jaulte unwillkürlich auf, als sich der Druck auf das Gelenk verstärkte, bis die Knochen zu splittern schienen. Er glitt für einen Moment auf diesem Schmerz wie auf einer glatten Bahn in den Bereich wilder Panik, trat um sich, strampelte, um diese abartige Attacke abzuwehren.

Hechelnd sog Steele die Luft ein und schaffte es, sich zu beruhigen. Er warf sein Bein in die Höhe, schoss die Hand ab und konnte mit demselben Schuss den nächsten Angreifer aus der Wagentür vertreiben.

Sein Knöchel brannte wie Feuer. Steele kannte diesen Schmerz gut genug, um zu wissen, dass jetzt nur noch eine Eispackung das Gelenk daran hindern konnte, zu einem unförmigen Klumpen anzuschwellen. Eine solche Behinderung konnte in den nächsten Tagen zu einem tödlichen Handicap werden. Wenn er die nächsten Tage überhaupt noch erleben sollte – im Augenblick sah es nicht so aus.

 

Für Tony Tanner löste sich die Szenerie in einzelne Stücke auf, ein Mosaik aus vielen Steinen, dessen Gesamtbedeutung ihm verschlossen blieb. Er hörte das dumpfe Schussgeräusch, Kreischen und Stöhnen, sah Blutnebel über schorfigen Schädeln aufwölken, zottige Rücken in blutige Vulkane aufplatzen, die Fell und Fleisch spien. Der Wagen war von Angreifern umringt, die durch die Beifahrertür dringen wollten, die Seitenscheiben einschlugen, auf dem Dach hockten und ihre Krallen in das Blech rammten, um den Van wie eine Sardinenbüchse zu öffnen.

Steele schien sich zu vervielfältigen. Er schoss mit gnadenloser Präzision und hoher Geschwindigkeit, und wenn er sich die Angreifer nicht mit der Pistole vom Halse halten konnte, dann setzte er den Ellbogen und die Handkante ein.

Dorkas war durch ein Loch in der getönten Seitenscheibe erkennbar. Mit schreckgeweiteten Augen, die unter seiner Brille noch seltsamer erschienen, saß er stocksteif im Sessel und umklammerte sein Paket. Little war nirgends zu entdecken.

 

Ein Schatten, der sich von der Seite näherte, zwang Tony Tanner instinktiv dazu, den Kopf zu wenden. Es war keine Sekunde zu früh, denn dieser Schatten war eines der zottelfelligen Monster. Es wackelte auf krummen Beinen auf ihn zu, ließ dann den Oberkörper nach vorne fallen und legte die letzten Sprünge auf allen Vieren zurück. Es war hopste viel schneller heran, als Tony erwartet hatte. Dass er sich auf den Rücken warf, hatte nichts mit Überlegung oder geplanter Reaktion zu tun. Es war ein Ausfluss des puren Schreckens. Aber weil es so geschah, huschte der Angreifer über ihn hinweg, wischte ihm nur mit den langen, schlammverklebten Zotteln durch das Gesicht und kugelte dann hinter Tony über den Boden.

 

Nur liegen bleiben – der Impuls war übermächtig und füllte Tony Tanners Glieder mit Blei. Von irgendwo bekam er den Befehl aufzustehen und irgendwoher fand er auch die Kraft, diesem Befehl zu folgen. Wankend kam er hoch und starrte auf den Angreifer – das Monster, den Affenmenschen, was immer es auch war. Das Wesen hatte sich zu einer Fellkugel zusammengekrümmt, rollte über den Boden, um den Schwung des Sprunges aufzubrauchen und platzte dann wie von einer Feder getrieben auseinander, entfaltete Arme und Beine, sprang hoch, drehte sich in der Luft und warf sich erneut auf Tony Tanner. Die Bewegungen waren so lässig, spielerisch und so gekonnt, dass allein ihr Anblick lähmend wirkte.

Es blieb für Tony nichts als ein Sprung zur Seite. Das heißt, geplant war ein Seitsprung, was daraus wurde, war ein tölpelhaftes Stolpern und Straucheln, das Tony wieder bäuchlings auf den Boden brachte. Er drehte sich auf den Rücken und begann, die Peitsche vom Handgelenk zu lösen. Sein rechter Arm zeigte immer noch die Lähmungserscheinungen von dem letzten Einsatz dieser Waffe, sodass Tony Zweifel hatte, ob er sie in dieser Situation überhaupt benutzen könnte. Aber seine Finger begannen seinen Überlegungen zuvor zu eilen und lösten das Lederband. Er bekam den Peitschengriff in die Hand, musste sich im nächsten Moment zur Seite rollen, um dem Gewicht des Affenmenschen zu entgehen, der sich auf den Boden warf, genau dort, wo Tony Tanner noch einen Herzschlag vorher gelegen hatte.

Selbst ein wohlmeinender Beobachter hätte die Art, wie Tony jetzt auf die Beine kam, als mühsam bezeichnen müssen. Seine Knie knackten hörbar und schickten kleine Schmerzimpulse durch seine Schenkel. Er achtete nicht darauf. Er glaubte, nicht darauf zu achten. Aber etwas in ihm registrierte diesen Schmerz und speicherte ihn ab und färbte damit die ganze Situation noch etwas schwärzer und gab ihr den Geschmack der Niederlage.

 

Mit der linken Hand umklammerte Tony Tanner sein rechtes Handgelenk, dann drehte er den Oberkörper und gab der Peitsche so viel Schwung, wie er nur konnte. Die Waffe schnalzte, schlängelte dann pfeifend durch die Luft. Sie traf den Affenmenschen quer über der Brust, als der sich in die Höhe stieß. Trotz aller Kraft, die Tony in die Bewegung gelegt hatte, konnte der Treffer nicht wirklich hart sein. Tony merkte es an der Art, wie die Peitsche auftraf, sich leicht um den Körper des anderen wickelte und dann wieder zurückschwang.

Die Wirkung jedoch war völlig unerwartet. Das Monster schaute auf seine Brust, auf deren zotteligem Fell keine Spur der Peitsche zu sehen war. Dann starrte es auf Tony, funkelte ihn wütend mit seinen schwarzen Augen an und zog sich kreischend zurück. Für einen Moment glaubte Tony an einen Sieg. Das Gefühl des Triumphes stieg in ihm hoch. Nur um sofort wieder zusammenzufallen, denn jetzt wandten sich alle Kreaturen, die eben noch den Wagen angriffen hatten, Tony zu. Ihre schwarzen Augen waren auf ihn gerichtet. Langsam verteilten sie sich und bildeten einen Kreis, in dessen Mittelpunkt Tony Tanner stand.

 

Das war der Augenblick, in dem Jeremy Steele ihn im Stich ließ. Steele nutzte seine Chance, gab Vollgas und trieb den Wagen mit quietschenden Reifen in Richtung Ausfahrt.

Tony Tanner hatte keine Zeit, über die Flucht seiner Begleiter nachzudenken. Er spürte den Gedanken Darauf hat er doch nur gewartet wie einen Stachel. Es gab ihm eine bittere Befriedigung, die ihm selbst absurd vorkam und die auch nur wenige Sekunden anhielt. Bis zu dem Moment, in dem er die Gesichter seiner Gegner anschaute. Gesichter war eigentlich zu viel gesagt – es waren Fratzen, Zusammenstellungen alles dessen, was ein menschliches Gesicht abstoßend und widerwärtig erscheinen lässt. Die blutunterlaufenen, boshaften Augen, die flachen Nasen, aus deren Nüstern bei jedem Ausatmen grünliche Blasen quollen – diese Hässlichkeit leugnete alle Maßstäbe, setzte alle Regeln außer Kraft. Das schamlose

Selbstbewusstsein, mit dem sich diese Fratzen vor seine Blicke drängten, wirkte zugleich empörend und lähmend.

 

Tony empfand das Bedürfnis, das, was er sah, zu zerreißen wie eine Fototapete oder eine Plakatwand und dann durch den Riss in die wirkliche Wirklichkeit zu steigen, die dahinter liegen musste – mit Francine einen Kinderwagen durch den Park schieben oder mit Lucille Chaudieu in einem StraßencafÈ sitzen … Der Gestank, der von den Angreifern ausging, drängte sich in jede wohltuende Illusion. Tony musste sich gegen die Wand zurückziehen, um nicht umzingelt zu werden. Das war jetzt seine Wirklichkeit. Und, so stellte er fest, es gab große Chancen, dass es sich um seine letzte und endgültige Realität handeln würde.

Er schwang seine Peitsche, um die Angreifer auf Distanz zu halten. Selbst die Bezeichnung Angreifer passte nicht. Sie griffen ja nicht einmal an. Sie näherten sich ihm, schlurfend, mit krummen Rücken und hängenden Armen, hustend und schniefend, als würde ihnen die Luft nicht bekommen. Sie zähmten die Boshaftigkeit, die in ihren Augen stand, als wären es schwarze Lachen, in denen sich ein entfernter Brand spiegelt. Sie schlossen sich zusammen, Schulter an Schulter, eine Mauer aus Kleidungsfetzen, zotteligem Fell und schwellender Muskelstränge. Langsam schlurften sie näher, eine Lawine, die in extremer Zeitlupe auf ihr Opfer zukommt, das sie irgendwann doch noch erwischt, weil es nicht mehr zu fliehen vermag, weil es schon gelähmt ist von dem Wissen, dass das Ende unvermeidlich ist.

Tony Tanner umklammerte den Griff der Peitsche. Sein rechter Arm war inzwischen unbrauchbar. Es war ein blöder Fehler gewesen, jetzt die Peitsche zu schwingen, ohne einen Treffer zu erzielen. Die Angreifer hatten sich davon nicht den Bruchteil einer Sekunde beeindrucken lassen. Und jetzt hing der Arm schmerzend und von unwillkürlichen Zuckungen durchlaufen an seiner Schulter, war nutzlos und störend und wirkte, als hätte sich irgendein Fisch in seine Schulter verbissen und würde dort jetzt baumeln.

 

Die Entscheidung lag nicht mehr auf Tonys Seite. Er spürte den rauen Beton im Rücken und wusste, dass er seine Waffe benutzen musste, die heranschleichende Mauer aus Körpern irgendwie auf Distanz halten, und zwar jetzt und sofort, sonst würde er nicht einmal ausreichenden Platz zum Ausholen haben. Ohne besondereÜberzeugung, mit der Resignation eines

Beamten, der die nächste Akte in Angriff nimmt, weil es ja irgendwie sein muss, drehte sich Tony Tanner in der Hüfte, schwang mit aller Kraft, die sein linker Arm aufbringen konnte, die Peitsche. Als er sich drehte, schwang sein rechter Arm mit, wurde sogar durch die Fliehkraft etwas angehoben und so schlang sich das Leder um Tonys eigenes Handgelenk. Es war nichts als eine Lachnummer. Im Kinderzirkus hätte er donnernden Applaus für eine Blödheit und

Ungeschicklichkeit geernt. Hundert strahlende und rosige Kindergesichter mit blitzenden Augen, die mit hellem Lachen zusehen, wie sich Tony Tanner selbst außer Gefecht setzt. Die Vorstellung machte ihn wütend, er spürte, wie die Wut in ihm hochstieg, wollte seinerseits losspringen – aber der Schmerz in seinem rechten Arm hielt ihn auf. Und dann merkte er wieder, dass sein rechter Arm noch durch die Peitsche mit der linken Hand verbunden war. Er war nichts als eine jammervolle Karikatur einer Marionette. Es war demütigend. Es gab keine Auflehnung mehr. Diese Demütigung nahm das Ende vorweg, ließ es fast als gnädige Unterbrechung erscheinen.

Tony spürte, wie sich unter ihm der Boden zur Seite senkte, als stünde er auf einem Schiff in schwerem Seegang. Er drückte sich gegen die Wand, dachte kurz daran, dass damit seine Frisur endgültig im Eimer wäre, und sackte langsam zu Boden. Und hier endet die aufregende, lehrreiche, wenn auch moralisch nicht immer allen Anforderungen der Sonntagsschule genügende Geschichte von Tony Tanner, netter Kerl, eifriger Steuerzahler, gescheiterter Liebhaber, schlechter Autofahrer und Angestellter des britischen Außenministeriums auf Zwangsurlaub und demnächstiger Kunde beim Morddezernat der hier ansässigen Polizeibehörde …

 

Eine schwarze Wand schob sich vor Tony Tanners Augen. So war das also. Der Lärm eines wuchtigen Aufpralls, von Stürzen, Schreien und Quieken zerstörte die grandiose Szenerie seines finalen Abgangs. Müde, aber mit deutlicher Missbilligung schaute Tony Tanner auf Dorkas’ gerötetes Gesicht, das über ihm auftauchte, und hörte dessen sich überschlagende Stimme ihm ein Jetzt aber los zukiecksen, als wäre er ein schüchterner Schüler im Turnunterricht, der sich angesichts seiner noch jugendfrischen Sexualausstattung nicht zum Pferdsprung entschließen könne.

»Los doch, verdammt noch mal«, drang jetzt die Stimme von Jeremy Steele aus dem Wagen. Tony raspelte sich den Ellbogen durch, als er sich an der Wand in die aufrechte Position hochdrückte. Er taumelte nach vorne und drückte sich an dem Van ab. Der Abstand zwischen Wand und Wagen bestand exakt aus der Entfernung, die zwischen Wand und Tonys Schuhspitzen gelegen hatte, zuzüglich eines Sicherheitsfaktors von etwa einer Handbreite.

Der Wagen stand etwas schräg, weil sich unter den Hinterreifen die Überreste einiger monströsen Gestalten zusammenkrümmten.

Tony stierte auf die Blutlache zu seinen Füße. Es war nicht der Anblick von Verwundung und Zerstörung, der ihn bannte, sondern die Zuckungen einer Krallenhand, die sich unter dem Wagen hervorkriechend in das Blech bohrte und zerrte.

 

In den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung. Steele hatte mit dem Wagen nicht alle erwischt. Einige waren lediglich zur Seite geprellt worden und bildeten dort einen bizarren, aber vollkommen bewegungslosen Haufen von Armen, Beinen und Zottelfell, der auf seltsame Weise friedlich wirkte, als wären dort Plüschteddys in einer Kinderzimmerecke gelagert.

»Kommen Sie«, herrschte Dorkas Tony an und zeigte jetzt eine noch stärker ins Rötliche gehende Gesichtsfarbe. Er lehnte sich aus einem Schiebefenster und musste dazu seine Körperfülle mit den Gegebenheiten der Rahmengröße in Einklang bringen, was ihm nur teilweise gelang. Dorkas wirkte wie ein Teig, der durch einen Filter gepresst werden soll. Die

Schiebetür war auf der anderen Seite. Tony registrierte, dass er den Wagen umrunden musste und fühlte angesichts dieser Bestätigung seiner noch vorhandenen geistigen Fähigkeiten eine gewisse Befriedigung. Linksherum konnte er nicht gehen, weil dort der starre Teddybärenhaufen war. Blieb also nur die Alternative, rechts um den Wagen zu gehen. Tony Tanner überdachte diese Möglichkeit trotz des wedelnden Armen von Dorkas in aller Ruhe und machte sich auf den Weg.

 

Plötzliches Kreischen ließ ihn erstarren. Die Ansammlung friedlich schlummernder Teddybären hatte sich in eine Horde von wütenden Angreifern zurückverwandelt. Als hätten sie sich nach dem Schock des plötzlichen Angriffs nur zusammengeklumpt, um neue Aggression auszubrüten und als wäre jetzt die kritische Masse erreicht, platzten sie förmlich auseinander. Die wirr gelagerten Arme und Beine ordneten sich (für einen kurzen Moment überkam Tony Tanner die Gewissheit, dass sich aus diesem desperaten Haufen von Gliedmaßen, Körpern und Köpfen die Gestalten neu zusammensetzten, und dann verdrängte er diesen Gedanken sofort wieder, weil dies schlichtweg zu absurd gewesen wäre, vielleicht aber auch nur deswegen, weil in jedem Menschen eine geistige Zensur existiert, die dem blanken Schrecken den Zutritt verweigert, indem sie ihn als Täuschung einordnet), die Fratzten wendeten sich mit gefletschten Zähnen dem Wagen zu.

Jeremy Steele nahm der Attacke etwas von ihrer zerstörerischen Wucht, indem er sich am Lenkrad abstützte, den Rücken in den Sitz presste und das rechte Bein auf das Gaspedal rammte. Der Motor heulte auf, die Antriebsräder sirrten und wühlten sich durch zuckendes Fell, über kreischende Fratzen und zuschnappende Krallen, mahlten sich langsam vorwärts, spien rottriefende Fetzen und bekamen endlich den festen Beton zu fassen. Während dieser wenigen Sekunden, die zugleich rasend schnell und unglaublich langsam abliefen, rammten einige Angreifer das Wagenheck, schlugen ihre Krallen in das Blech, hieben ihre Fangzähne in die Regenrinne. Einer stürzte sich heulend auf Tony Tanner, aber weil der Abstand zwischen Wand und Wagen nicht ausreichte, rammte er sich selbst wie einen Keil in den Zwischenraum, blieb stecken, zögerte einen Herzschlag lang und versuchte dann, sich wutschnaubend zwischen den Hindernissen durchzuschieben. Er konnte den Wagen zur Seite drücken, aber das Gewicht der anderen Angreifer behinderte ihn. Steeles Notstart zog das eingeklemmte Monster mit, es wurde an der rauen Betonwand entlang geschleift und hinterließ eine breite rote Spur.

Trotzdem konnte es einen Arm ausstrecken, um nach Tony Tanner zu greifen.

Gleichzeitig grapschte Dorkas und erwischte den Kragen von Tonys Blazer. Tony wurde mitgerissen, als die Reifen endlich Griff bekamen und der Wagen beschleunigte. Instinktiv begann Tony zu rennen, auch dann noch, als Dorkas seinerseits fast aus dem Wagen fiel und loslassen musste.

Der Wagen überholte Tony. Am Heck hingen die zotteligen Gestalten und boten plötzlich ein komisches Bild, weil sie am Blech nagten, als wäre sie eine Punk-Version von Hänsel und Gretel, die sich am Lebkuchenhaus vergnügen.

 

Tonys Beine nahmen ihm alle Entscheidungen ab. Er wusste diese Freundlichkeit zu schätzen. Das Paar rennender Beine hatte im Augenblick wenig Bezug zu ihm selbst, ebensowenig wie der schmerzende, hilflos schlenkernde Arm an seiner rechten Schulter. Erst als Tony das Parkdeck halb durchquert hatte, sich der Wagen entfernte und er zugleich und zwar nicht sprichtwörtlich, sondern sehr real den stinkenden, heißen Atem des Verfolgers im Nacken spürte, fügten sich alle Teile wieder zusammen und Tony Tanner war wieder er selbst und war sich darüber klar, dass er etwas tun musste, damit dieser Zustand über die nächsten Sekunden Bestand haben könnte.

Dorkas, halb aus dem Wagen hängend, schrie und wedelte mit den Armen. Little brüllte ebenfalls aus vollem Hals, um den Fahrer zum Bremsen zu veranlassen. Und Steele gelang es endlich wieder, sich vollkommen von seiner Umwelt zu lösen und in seinem Inneren eine Höhle voller eisiger Ruhe zu schaffen. Mit einem Auge schätzte er den Abstand zum Beginn der Ausfahrtsrampe ab, mit dem anderen schaute er auf den Rückspiegel, in dem die Figur Tony Tanners hektisch auf und ab zappelte, vor dem Hintergrund eines Verfolgers, der nur eine Handbreit von ihm entfernt schien.

Steele wartete bis zum Beginn der Rampe, dann verlangsamte er kurz die Fahrt. Tony holte auf, wurde von Dorkas erwischt. Die Nähte des Blazers krachten, und dieses Signal war es wohl, das Tony zum Sprung veranlasste. Er warf sich hoch, halbherzig nur, ermattet und ungeschickt. Aber trotz – oder vielleicht gerade wegen dieser Behinderung – gelang es ihm, alle Gesetze der Biomechanik zu besiegen und sich halb durch die Fensteröffnung zu katapultieren. Der Erfolg schenkte ihm einen kurzen Augenblick eines heißen Triumphgefühles.

Dann stürzte er mit den Rippen schmerzhaft auf den schmalen Fensterrahmen, hörte nicht nur das Knirschen der letzten Glasreste unter seinem Gewicht, sondern vermeinte, jedes der scharfkantigen Krümelchen in der Haut zu spüren. Plötzlich war ihm alle Initiative genommen, er war nicht mehr als ein nasser Sack, der im Unterschied zu allen anderen nassen Säcken dieser Welt wusste, dass er nur ein nasser Sack war.

Tony stampelte mit den Beinen, rammte ein Knie gegen das Wagenblech und versuchte, sich weiter aufwärtszuschieben. Er rutschte immer wieder ab, musste sogar von Glück sagen, dass er nicht wieder vollends aus dem Wagen glitt. Kopf und Schultern waren im Wageninneren, der rechte Arm war noch draußen und brachte Tonys durch seine Schlenkerbewegungen immer wieder in Verlegenheit.

Dorkas hatte bei Tonys Sprung wacker mitgeholfen und die Nähte noch einmal knirschen lassen. Aber sein eigener Schwung, zusammen mit einem plötzlichen Ausbrechen des Wagens hatten ihn von den Füßen gerissen. Er ließ Tonys Oberbekleidung fahren und plumpste mit einem dumpfen Aufschrei nach hinten. Das weiche Ledergestühl dämpfte den Aufprall und so war es eher eine Art von seelischem Schock als eine körperliche Verletzung, die Dorkas jetzt am Boden festhielt. Er rückte sich die verrutschte Brille zurecht und betrachtete etwas abwesend und verwirrt den strampelnden Tony, der wie eine Halbbüste im Fensterrahmen hing und sich aus dieser Situation nicht zu befreien vermochte. Little war ebenfalls keine Hilfe, denn der bemühte sich nun, Dorkas wieder auf die Beine zu bekommen. Obwohl Littles vorgebeugte Haltung, in der er den umfangreichen Wissenschaftlern hochzuwuchten versuchte, bandscheibenvorfallverdächtig und insofern heroisch war, gönnte ihm die neidische Fortuna keinen Erfolg. Die Angreifer, die sich unvermindert am Heck des Wagens festkrallten, brachten mit ihrem Gewicht das Fahrzeug zum Ausbrechen. Bevor Steele, der mit höchstmöglicher Geschwindigkeit die Betonspirale hochraste, den Wagen wieder unter Kontrolle hatte, berührte die Flanke die Innenwand entlang. Blech kreischte qualvoll, die Schiebetür wurde eingedellt und zeigte einen Spalt, durch den Luft pfiff. Der plötzliche Ruck riss Dorkas erneut um.

Er warf im Fallen Little zu Boden, als wäre der ein Kegel. Derselbe Ruck des Wagens warf Tony Tanner ein Stück weiter in den Innenraum. Er konnte die Schulter einziehen, sodass sein lebloser rechter Arm durch den Rahmen rutschte. Als Steele den Wagen nach außen pendeln ließ, berührte Tony für eine Sekunde die Mauer. Der Beton wischte förmlich unter seiner Sohle durch, versetzte Tony in eine Kreiselbewegung und schleuderte ihn in den Wagen. Ohne recht zu wissen, wie ihm geschah, stürzte er auf den von Glassplittern übersäten Teppich. Er zog die Beine an und rollte sich auf den Rücken. Über ihm bohrte sich eine schmutzig-schwarze Kralle durch den hellen Plastikhimmel des Innenraums. Unpassend war das richtige Wort dafür. Ebenso unpassend wie die Fratzen, die durch die geborstene Heckscheibe glotzten.

 

Kaum hatte Steele den Wagen wieder in die Spur gebracht, bewiesen die Angreifer am Heck, dass sie lernfähig waren. Wie die Beifahrer in einem Seitenwagenrennen warfen sie sich zur Seite und brachten durch die Gewichtsverlagerung die ebenso schwammige wie überlastetete Federung des Van zum Tanzen. Wieder schrammte der Wagen an Beton entlang, und nur mit knapper Not konnte Steele beim Ausgleichen den Zusammenprall mit der Gegenseite und damit einen Billiardeffekt verhindern. Das scharfe Zischen, mit dem Steele die Luft durch die Schneidezähne einsog war deutlich zu hören und wirkte wie ein rotes Ausrufezeichen hinter der Feststellung: Wir haben ein Problem.

Dorkas und vor allem Little hatten aufgegeben, sich mit ihrer Umwelt zu beschäftigen und krallten sich nur noch an den Sitzbefestigungen an. Der hilflose Versuch Tony Tanners, mit der linken Hand seine Peitsche in Position zu bringen, um das Heck freizuwischen, war bestenfalls unter gute Absicht einzuordnen und diente vor allem der Beruhigung des eigenen Gewissens. Für Tony selbst war es das Eingeständnis, dass alles außer Kontrolle war und er sich mit Symbolhandlungen beruhigen musste.

Die gewendelte Rampe schien kein Ende zu nehmen. Unter ständigem Reifenquietschen schraubte sich der Wagen nach oben. Die Neonröhren huschten als weiße Lichtflecke vorbei.

 

Dann erreichten sie das Erdgeschoss. Am Ende der Schräge wurde der Wagen in die Höhe geworfen, flog mit aufheulendem Motor ein FStück und fiel dann schwer zurück in die Federung.

Während selbst Steele, der sich so gut es ging, zwischen Lenkrad und Sitz verkeilt hatte, gegen die Wagendecke geworfen wurde, um in der nächsten Sekunde wieder in den Sitz gestaucht zu werden, saßen die Angreifer am Wagenheck fest wie Zecken. Sie unterbrachen nicht einmal ihre Versuche, den Van zu zerlegen.

Dann aber setzte das schmerzhafte Kreischen, mit dem sie ihre Krallen durch das Blech zogen, plötzlich aus.

Steele spürte es zuerst. Der Wagen wurde leichter. Er fuhr noch ein Stück auf die Schranke am Ausgang zu, dann bremste er. Im Rückspiegel sah er die gekrümmten Gestalten, die sich zu einem Knäuel von Fell zusammengedrängt hatten. Ihre geröteten Augen waren nicht einmal mehr auf den Wagen gerichtet. Sie schauten auf einen schmalen Wanddurchbruch, der sich unter der Decke entlangzog und durch den Tageslicht in die künstliche Dämmerung des Parkdecks sickerte. Die Gruppe schien bei diesem Anblick zu erstarren. Dann brachen sie in Kreischen und Schnattern – ein Geräusch, das klang, als würde ein Mensch, dem die Zunge fehlt, versuchen, Worte auszustoßen – aus, gestikulierten, wobei die Fellzottel an ihren langen Armen durch die Luft wirbelten. Schließlich kamen sie zu einer Entscheidung. Mit plötzlicher Entschiedenheit stürzte sich die Gruppe auf einen Einzelnen. Sie packten ihn, der sich aufbäumte, um sich schlug und sich strampelnd wehrte, drückten ihm ihre Krallen in die Augen, bis er mit einem letzten Kreischen stillhielt und warfen ihn in Richtung des matten

Lichtreflexes, mit dem der Betonboden das Tageslicht zurückwarf. Als Fellbündel flog er durch die Luft, landete auf allen vieren und blieb starr liegen.

 

Nichts geschah.

Fortsetzung folgt …