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Rübezahl – Moderne Geschichten 1

Der Holzlaster im Riesengebirge

»Radio LFZ mit dem Verkehrsservice: Auf deutscher Seite ist alles frei, aber wir haben noch eine Meldung aus Tschechien. Bei Liberec ist die E 442 nach einem Unfall voll gesperrt. Da ist ein Tanklaster umgekippt und Diesel läuft aus. Die Strecke wird wahrscheinlich noch bis in die frühen Morgenstunden dicht sein. Auch die Nebenstrecken laufen langsam zu. Wer sich auskennt, sollte das Gebiet weiträumig umfahren oder sein Navi nutzen.«
Das Piepen kam und die CD mit Springsteen dröhnte wieder aus den Lautsprechern in der Volvo-Kabine.

Na klasse, dachte Herbert. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Mit 30 Tonnen Holz hinten auf dem Truck war er im Harz gestartet, dann am Flughafen Leipzig der Stau und jetzt das. Er würde sich ganz schön anstrengen müssen, um morgen früh um acht in Dolni Vrchlabi an der Papierfabrik zu sein. Die Pause in Zittau war vielleicht doch etwas zu lang gewesen. Eine halbe Stunde eher hätte er abfahren sollen, dann wäre er vielleicht noch an Liberec vorbei gekommen, bevor der dusselige Kollege da seinen Tanker umgekippt hatte. Wenigstens hatte er noch direkt hinter der Grenze den Tank randvoll gemacht, sodass der Sprit kein Problem sein dürfte. Es war schon ziemlich dunkel, und er musste auf jeden Fall pünktlich ankommen. Just in time, was ein Schleim, brummte Herbert ärgerlich vor sich hin.

Mit links dirigierte er den FL 10, mit rechts fummelte er am Navi, um eine Umgehung zu finden. Das Navi bot ihm an, über Jablonec nad Nisou an Liberec vorbei zu kommen. Herbert gab den Kurs ein, merkte erschreckt, dass der Lastzug anfing, in die Nachbarspur zu wandern und korrigierte erst einmal.

»Nach 400 Metern an der nächsten Einmündung links abbiegen«, sagte das Navi. Der Volvo-Motor heulte auf, als Herbert hastig herunterschaltete. Rumpelnd bog er mit seinem Gespann von der Schnellstraße ab. Es war reichlich was los auf der Strecke nach Jablonec nad Nisou, was Herbert wieder viel Zeit kostete. In der Stadt selbst ging es dann zeitweise nur im Stop-and-go-Verfahren. Eine Ampel ließ immer nur fünf Wagen durch, und bis ein voll beladener Laster in die Gänge kam, das dauert seine Zeit. Hinter der Ampel lief es dann besser.

»An der nächsten Ampel rechts abbiegen«, sagte das Navi.

Herbert kommentierte: »Danke, meine Süße.« – und stieg voller Panik in die Eisen. Vor ihm auf der Straße hatte er einen Schatten gesehen, dann stand ein Schäferhund wie eine Salzsäule mitten auf der Straße und starrte geblendet in die Scheinwerfer des Lasters.

Herbert ließ hörbar die Luft durch die Zähne pfeifen und klang dabei wie sein Volvo, der die Luft aus den Bremsen ließ. Herbert hupte, und das Lkw-Nebelhorn jagte den Schäferhund mit einem Affenzahn von der Straße. Herbert legte den ersten Gang ein, setzte den Blinker und bog links ab.

Die Straße war bei Weitem nicht so breit wie bisher und gelegentlich parkten am Straßenrand Autos. Herbert musste ab und an sehr genau zirkeln, damit der Lastzug mit den halbierten Stämmen nicht irgendeinen Rückspiegel mitnahm. Schließlich kam die Ortsgrenze, und Herbert brummte mit seinem Volvo auf einer mittelprächtigen Landstraße weiter. Etliche Ortsdurchfahrten reihten sich aneinander, Tanvald, Desna, Korenov und Rokytnice. Herbert konnte zwar kein tschechisch, aber ihm dämmerte allmählich, dass er wohl nicht so ganz auf dem richtigen Weg war. Er zog den Laster in eine Haltebucht und widmete sich seinem Navi. Es ließ sich auch brav die Zieldaten eingeben, quittierte aber anschließend mit einem »Leider ist hier kein Empfang der Satellitendaten möglich«.

»Du dämliche Kiste«, maulte Herbert, »das hättest du mir auch früher sagen können.« Er kramte in allen Ablagefächern nach Straßenkarten. Deutschland Ost, Polen, Frankreich, Luxemburg … murmelte er, als er den Kartenstapel durchsah. Aber wo immer er auch wühlte, Tschechien gab es nicht im Kartenmaterial. Inzwischen war es immer später geworden und Herbert sah besorgt auf die Uhr, es ging bereits auf halb eins zu. Er sollte um 8 Uhr am Ziel sein und hatte zunächst mal keine Ahnung, wo er eigentlich steckte.

Der Volvo-Motor brummte inzwischen lauter, die Strecke ging allmählich immer weiter bergauf. Herbert versuchte, im Radio einen deutschen Sender zu finden, aber selbst der komplette Sendersuchlauf brachte nur Rauschen und Pfeifen. Offenbar hing er in einer Ecke fest, in der überhaupt keine Funksignale von irgendwoher durchkamen. Allerdings hatte es sich dann auch mit irgendwelchen Fummeleien an welchen Geräten auch immer, denn die Straße führte nicht nur bergauf, sie wurde auch immer kurviger. Herbert brauchte beide Hände zum Schalten und Lenken. Irgendwann merkte er, dass er allmählich verkrampfte und suchte nach einer Möglichkeit, mal eine Pause einzulegen. Ortschaften waren schon eine ganze Weile nicht mehr gekommen, sodass nur die Hoffnung auf einen breiten Seitenstreifen blieb. Aber Herbert hatte Glück. Im Licht der Scheinwerfer tauchte ein Schild auf, das einen Parkplatz in 500 Metern ankündigte. Herbert zog an der Einfahrt von der Straße und war angenehm überrascht, dass es sich um einen größeren Parkplatz handelte, wo er seinen Lastzug ohne Probleme parken konnte. Er griff sich sein Handy, um in Dolni Vrchlabi anzurufen, vielleicht war ja der Nachtpförtner da. Wenn er Glück hatte, konnte der Nachtpförtner ein wenig Deutsch. Aber so viel Glück hatte Herbert gar nicht erst, das Handy bekam absolut keinen Empfang. Na, das ist ja eine Überraschung, dachte Herbert resigniert. Zumindest wollte er die kurze Pause nutzen, um schnell ein Brot zu verspeisen und einen Pott Kaffee zu trinken, denn die Tour strengte mittlerweile ziemlich an. Er hatte gerade seine Tupperdose aufgemacht und in ein Schinkensandwich gebissen, als er draußen eine Stimme hörte.

»Hallo, ist da jemand in dem Wagen?«

Herbert fiel vor Schreck das Sandwich aus der Hand.

Erschrocken schaute er in die dunkle Nacht und wünschte sich, dass der Vollmond am Himmel stünde. Aber stattdessen war es so stockfinster, wie es in einer Neumondnacht nun einmal ist. Das Licht der Sterne half ihm nicht weiter. Lediglich der Lichtschein aus seinem Fahrerhaus drang nach außen und beleuchtete einen Mann, der in dem fahlen Zwielicht allerdings kaum zu erkennen war. Herbert blieb vorsichtig und drückte den Knopf der Zentralverriegelung, aber er öffnete das Seitenfenster einen Spaltbreit und fragte: »Was wollen Sie?«

Der Mann antwortete mit seiner ebenso tiefen wie ruhigen Stimme: »Ich habe mich verlaufen und hoffte, dass Sie wissen, wo wir sind.« Gleichzeitig trat er näher an den Laster, sodass Herbert den Mann etwas besser sehen konnte. Er war sehr groß, hatte einen Bart und sein Alter war schwer einzuschätzen. Je nachdem wie das Licht auf ihn fiel, sah er aus wie 45 oder auch wie 65. Er trug dunkle Kleidung und eine Art Lodenmantel, aber alles in dunklen Farben. »Ich möchte nicht die ganze Nacht hier festsitzen«, sagte der Mann in seiner melodischen Stimme.

Herbert hatte nicht den Eindruck, dass der Fremde ein Straßenräuber oder etwas Ähnliches war.

»Ich war im Wald auf Wanderschaft und kam schließlich hier an«, setzte der Fremde hinzu. Herbert hörte einen ganz leichten tschechischen Akzent, ansonsten wirkte der Fremde sehr gebildet. Herbert fuhr die Scheibe ganz herunter, der Fremde trat näher. Herbert fielen dabei die Augen des Fremden im Licht der Fahrerkabine auf. Sie wirkten dunkel und beim Blick in diese Augen hatte man das Gefühl, in einen samtschwarzen Tunnel zu schauen, aber was bei anderen beängstigend hätte wirken können, passte zu diesem Mann perfekt. Herbert wusste zwar nicht, warum, aber er fand den Mann durchaus sympathisch. Er schnappte sich eine Taschenlampe, öffnete die Tür des Volvo und kletterte heraus, dabei trat er in das heruntergefallene Sandwich. Der Fremde blieb ruhig stehen, aber in seinen eigenartigen Augen glitzerte es, als er innerlich lachte.

Herbert hatte nicht den Eindruck, dass der Mann gefährlich sei. Er fragte ihn: »Wo wollen Sie denn hin?«

»Ich muss ein Stück höher in die Berge«, sagte der Fremde.

»Ich weiß nicht wirklich, ob ich Ihnen jetzt so weiterhelfen kann. Mein Navi hat hier keinen Empfang.«

»Ja, die Erzadern, die stören hier viele moderne Maschinen«, nickte der Fremde mit dem Kopf. Es war inzwischen recht kühl geworden.

»Sie stehen wohl schon länger hier«, sagte Herbert, »wollen Sie einen Kaffee?«

Der Fremde nahm dankend an und freute sich, dass er etwas Warmes bekommen sollte. Herbert kletterte wieder in die Kabine seines Volvo und kramte im Schlafabteil hinter dem Fahrersitz herum, bis er schließlich noch einen sauberen Becher fand. Er füllte den Kaffee ein und reichte den Becher an den Fremden weiter.

Der war die ganze Zeit neben dem Laster stehen geblieben. »Vielen Dank, mein Freund«, sagte er mit warmer Stimme, »mir ist schon ziemlich kalt geworden.«

Sie tranken schweigend ihren Kaffee. Schließlich fragte Herbert: »Wie geht’ s denn nun weiter? Hier stehen wir dumm rum. Wo müssen Sie denn nun hin?«

»Einfach den Berg rauf«, antwortete der Fremde und trat etwas näher, sodass Herbert ihn noch besser sehen konnte. Die Kleidung wirkte zwar altmodisch, aber bestens in Schuss, und dass es keine billige Chinaware war, die der Fremde trug, das erkannte Herbert auch. Er überlegte einen Moment und bot dann an: »Passen Sie auf, ich nehm‘ Sie bis zum nächsten Ort mit.«

»Kriegen Sie keine Schwierigkeiten mit Ihrem Chef?«, fragte der Fremde.

Herbert lachte: »Das ist mein Laster, und für mich fahren noch ein paar. Da kann ich schon selbst entscheiden, wer wann einsteigt.«

Der Fremde lächelte, ging um die Volvo-Kabine herum und stieg auf der Beifahrerseite ein.

Herbert warf die Maschine an und steuerte den Laster vom Parkplatz. Die Straße stieg nun immer stärker an und wurde noch kurviger. Die Fahrerei wurde anstrengender, weil es draußen auch immer dunkler wurde, mehr und mehr Wolken zogen sich am Nachthimmel zusammen.

Herbert sagte zu seinem neuen Beifahrer: »Früher mussten die Trucker solche Strecken ohne Servolenkung fahren, bei jedem Schalten mussten sie Zwischengas geben.«

»Oh ja, die Motoren brüllten praktisch«, antwortete der Fremde, »und Muskeln hatten die Fahrer, das war ein Knochenjob. Oder noch früher mit ihren Pferdewagen, damals gab es ja noch nicht einmal richtige Straßen, nur Schotterwege. Und dann gab es auch noch Räuber«, setzte der Fremde nachdenklich hinzu.

»Die Räuber sitzen heute alle im Finanzministerium«, grinste Herbert.

»Aber sie bringen heute niemanden mehr um«, entgegnete der Fremde.

»Sind Sie da sicher?«

Herberts Magen begann zu knurren und erinnerte ihn daran, dass die Essenspause mehr oder minder den Bach runter gegangen war. Als die Straße ein etwas längeres Stückchen geradeaus lief, griff Herbert in die Seitentasche der Tür und holte noch eine Tüte mit Brötchen raus. Er fischte ein Käsebrötchen aus der Tüte und bot dem Fremden auch etwas zu essen an.

»Vielen Dank, das ist sehr freundlich«, antwortete der neue Beifahrer und griff nach einem Leberwurstbrötchen. Schweigend kauten sie, während Herbert den Holzzug über die kurvige Gebirgsstraße kurbelte.

Es waren knapp 20 Minuten vergangen, als der Fremde sagte: »Da vorne rechts geht ein Weg rein, da muss ich raus.«

Herbert spähte nach vorn, schaltete das Fernlicht ein. In der Tat war rechts ein Einschnitt zwischen den Bäumen erkennbar, man sah ihn eigentlich nur, wenn man darauf achtete. »Wollen Sie wirklich da raus? Das ist doch hier mitten im Niemandsland, soll ich Sie nicht doch zum nächsten Ort mitnehmen?«

»Nein, nein, das ist schon richtig hier. Von hier aus komme ich am schnellsten nach Hause.« »Na gut«. Herbert blinkte, zog rechts rüber und trat auf die Bremse. Zischend hielt der Volvo an. »Machen Sie’s gut … soll ich Sie wirklich nicht zum nächsten Ort …«

»Es ist alles in Ordnung, hier bin ich richtig. Und Sie«, sagte der Fremde, als er schon die Tür öffnete, »Sie müssen jetzt weiterfahren, dann sind Sie auch pünktlich da«, lächelte der Mann. »Und machen Sie auch mal eine Pause.«

»Ihren Optimismus hätte ich auch gern«, gab Herbert zurück.

Der Fremde lachte, sprang aus dem Laster und schlug die Tür zu. Er winkte noch einmal. Herbert hupte, legte den Gang ein und rollte mit seinem Laster an. Er schaute noch einmal in den Rückspiegel, aber der Fremde war schon nicht mehr zu sehen, er musste wohl in den Wald gegangen sein. Komischer Vogel, dachte Herbert, schaltete noch einmal höher und gab Gas, um nicht noch später anzukommen.

Normalerweise wäre Herbert langsamer gefahren, aber er spürte die Zeit im Nacken und trat eher noch mehr aufs Gas. Kurve folgte auf Kurve, immer mehr Warnschilder vor den Kurven sorgten auch nicht dafür, dass Herberts Laune besser wurde. Inzwischen war es bereits nach zwei Uhr morgens. Herbert merkte, dass er eine Pause brauchte, und fand prompt eine Haltebucht, in die er mit seinem Laster hineinpasste. Er stellte den Motor ab, lehnte sich etwas zurück im Sitz. Nur einen Moment ausruhen, dachte Herbert.

Als er wieder aufwachte, war es Viertel nach vier. »Verdammte Hacke«, fluchte Herbert laut. Er hatte fast zwei Stunden verschlafen, jetzt war eigentlich alles zu spät. Er warf den Volvo an und dröhnte so schnell es ging weiter, immer wieder durch Kurven. Die Warnungen waren ihm mittlerweile wurscht. Wieder eine scharfe Kurve. Herbert schnitt rein und dann machte die Kurve zu. Der Laster driftete nach außen. Herbert spürte, wie der Lastzug instabil wurde. Der Anhänger drückte den Volvo noch weiter an den Fahrbahnrand. Herbert brach der Schweiß aus, er stand auf Bremse und Kupplung, um zu retten, was zu retten war. Der Laster zog weiter und weiter an den Rand. Das dauerte zwar nur Sekunden, aber Herbert kam es wie Stunden vor. Er sah sich schon samt seinem Lastzug in den Wald krachen, als der Laster mit einem widerlichen Krachen und Knirschen doch noch stand. Allerdings spürte Herbert, dass eine ganze Menge nicht stimmte. Er merkte, dass der Laster leicht schief stand. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte, dass der Anhänger links neben dem Laster in spitzem Winkel stand. Herbert riss die Tür auf, der Motor dröhnte im Leerlauf durch den Wald, die Scheinwerfer beleuchteten zum größten Teil die Bäume auf der anderen Straßenseite. Als Herbert am Heck des Lasters ankam, sah er das ganze Ausmaß der Bescherung. Der Laster war nach rechts gedriftet und der Anhänger hatte nachgedrückt. Jetzt hingen das rechte Hinterrad des Lasters und ein Teil der ersten Achse des Anhängers über den Straßenrand hinaus. Herbert lief um den Hänger herum, um sich anzusehen, wie stark der Laster abgedriftet war. Am Straßenrand konnte er noch im letzten Moment stoppen. Hinter dem Straßenrand ging es abwärts, und fast senkrecht. In der Dunkelheit konnte Herbert nicht erkennen, wie tief es runter ging, aber von unten drangen die gurgelnden Geräusche eines Bergbaches nach oben. Normalerweise hätte eine Leitplanke die Stelle sichern sollen, aber nur ein paar rostige Stümpfe zeigten, wo die Planke einmal gewesen war.

Herbert stand der Schweiß auf der Stirn. Ihm war blitzartig klar, was für ein Riesenglück er gehabt hatte. Hätte der Hänger vielleicht noch einen halben Meter geschoben, wäre es aus gewesen und er wäre mitsamt seinem Lastzug über den Abgrund gegangen. Herbert zitterte am ganzen Körper, als er sich vorstellte, was hätte passieren können. Er hoffte allerdings, dass irgendein Auto vorbei käme, der Fahrer könnte dann die Polizei und einen Abschlepper holen. Herbert stellte den Motor ab und ging auf und ab, um sich zu beruhigen. Nach einer halben Stunde fühlte er sich besser, aber er merkte auch, dass nichts von anderen Autofahrern zu sehen oder zu hören war. Wie es aussah, war er auf sich selbst gestellt. Er kletterte wieder in den Laster, ließ den Motor an, legte den Gang ein, ließ die Kupplung kommen und gab gefühlvoll Gas. Der Wagen ruckte an, er schüttelte sich, es knirschte. Herbert hörte, wie der Zwillingsreifen der Hinterachse jaulend an der Steinkante drehte. Immer wieder und wieder versuchte er, den Wagen zurück auf die Straße zu rangieren. Der Motor heulte wieder und wieder auf, der Laster ruckelte, schleuderte, wackelte, aber er kam nicht frei. »Verdammt noch mal«, brüllte Herbert, »wieso ist nie Hilfe da, wenn man sie braucht?!« Genau in diesem Moment gab es einen mächtigen Knall, als hätte jemand mit einem gewaltigen Hammer von hinten gegen den Laster geschlagen. Der Volvo machte einen Satz nach vorn und Herbert konnte gerade noch rechtzeitig auf die Bremse treten, bevor der Zug auf der anderen Straßenseite in die Bäume schoss. Jetzt hieß es, den Laster auf die Straße zu steuern, dann langsam weiter. Nach ein paar Hundert Metern kam auch so etwas wie eine Nothaltebucht. Herbert stoppte, schaltete den Warnblinker ein und stieg aus, um die Ladung zu kontrollieren. Mit immer noch zitternden Knien ging er um den Lastzug und stellte dabei fest, dass die Ladung wie durch ein Wunder noch perfekt gesichert auf dem Laster und dem Anhänger verzurrt war. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es schon reichlich spät – oder früh – war. Über den Bäumen zeigten sich bereits erste Schimmer der Morgendämmerung.

Die Zeit lief und Herbert kurvte weiter durch die Bergstraßen. Dabei verfluchte er immer wieder, dass er versucht hatte, den Stau zu umgehen. Ihm war klar, dass er trotz Wartezeiten schneller vorangekommen wäre. Und der Fremde, den er aufgegabelt hatte … naja, das war nicht das Problem gewesen, das hatte ihn höchstens eine Viertelstunde gekostet. Es wurde heller, irgendwann meldete sich das Navi zurück und er wusste zumindest endlich, wie er weiter fahren musste. Den Liefertermin um acht konnte er allerdings getrost vergessen, es war inzwischen bereits halb neun, und er hatte Dolni Vrchlabi immer noch nicht erreicht. Nun war ihm Ärger gewiss, eine halbe Stunde überzogen, ok, das ging noch, aber mehr? Wenigstens war er aus den Bergen ein Stück heraus und die Straße lag frei vor ihm. Den Berufsverkehr hatte er ja verpasst, sodass er zügiger vorankam. Etwa 45 Minuten später erreichte er endlich die Stadtgrenze, jetzt noch quer durch den Ort zur Papierfabrik. Als er endlich auf den Parkplatz rollte, zeigte die Borduhr im Volvo 9:53 Uhr. Es war wenig los, kaum Autos auf dem Parkplatz, als er vor dem geschlossenen Tor anhielt. Herbert hupte, aber das Tor öffnete sich nicht. Er sprang aus dem Laster, ließ den Motor aber laufen. Am Tor spähte er in die Pförtnerkabine, die sich allerdings durch gähnende Leere auszeichnete.

Hinter ihm fuhr ein Wagen auf den Parkplatz. Herbert dreht sich um und sah, wie sich Jiri, der Geschäftsführer, aus seinem Skoda Superb schälte. Jiri kam auf Herbert zu: »Na, du bist ja früh dran. Ich hätte nach dem Mordsunfall in Liberec nicht erwartet, dass du überhaupt halbwegs pünktlich kommst.«

Herbert fragte sich, ob Jiri einen dummen Witz machte, was ihm allerdings gar nicht ähnlich sah.

»Übrigens«, sagte Jiri gerade in seinem tschechischen Akzent, »schalt den Motor ab. Das ist hier zwar ein Industriegebiet, aber deshalb musst du deinen Laster ja nicht dröhnen lassen.« Herbert schaute Jiri an: »Sag mal, ich weiß ja, dass ich verdammt spät dran bin, aber deine Sprüche brauche ich wirklich nicht. Mir reicht es schon, wenn ich eine Konventionalstrafe aufgebrummt bekomme, das wird schon teuer genug.«

Jiri schaute Herbert an und setzte dabei einen Blick auf, der klar zeigte, dass er sich fragte, ob ihm etwas Wichtiges entgangen sei: »Was erzählst du da von einer Konventionalstrafe und du bist zu spät dran. Es ist Viertel nach sieben!«

»Willst du mich veralbern«, antwortete Herbert und hielt Jiri seine Uhr unter die Nase. »Siehst du das, 10 Uhr 12!«

Jiri lachte: »Du solltest mal die Batterie wechseln. Oder hat Rübezahl persönlich an deiner Uhr gespielt? Du weißt doch, der Bursche geistert hier bei uns in der Gegend herum.« Laut lachend hielt Jiri seine Uhr hoch: »7 Uhr 17, noch Fragen? Ich mach dir das Tor auf, dann kannst du die Fuhre schon mal zur Sägerei karren.«

Herbert sah auf Jiris Uhr und traute seinen Augen kaum. Sie zeigte tatsächlich 7 Uhr 17. Herbert verstand die Welt nicht mehr, er hatte die Nachttour gemacht, seit Stunden fuhr er im Hellen, es konnte unmöglich noch so früh sein. Kopfschüttelnd stieg er in den Volvo und warf einen Blick auf die Borduhr. Ihn traf bald der Schlag, als er auch dort als Uhrzeit 7 Uhr 18 sah. Herbert hatte das Gefühl, dass er in einem merkwürdigen Traum feststeckte. Er legte den Gang ein, während ihm Jiri das Tor öffnete. Der schwere Volvo rumpelte aufs Werksgelände und verschwand hinter einer großen Fabrikhalle.

Oben auf dem Berg stand ein Mann, der wuchs und wuchs, während er dabei durchsichtiger wurde. Er schien zu grinsen und wer genau hinhörte, der vernahm eine Stimme, die murmelte: »Danke für das Brötchen und den Kaffee.«

Copyright © 2009 by Werner Möhring