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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.17

Wo die Erde blutet – Teil 17

Der hagere Mann stellte sich vor die Kiste mit den Gerätschaften. Geradezu genießerisch betrachtete er die Auswahl. Seine Finger waren an den Spitzen zusammengelegt, trennten sich wieder, bewegten sich, als müssten sie Tropfen abschütteln. Es war die Pantomime eines Kenners, der sich vor einem gut bestückten Büfett noch nicht so ganz zu entscheiden weiß.

Vor dem Hintergrund flackernder Kerzen und schwarzer Tücher, die die Wände deckten, war diese Szene in ihrer heiteren Verspieltheit geradezu teuflisch.

Der Bote hatte sich entschieden. Seine langen, skelettartigen Finger griffen zu einem Dolch und einer Nadel. Beide Gegenstände waren aus Gold. Er legte sie auf einen Hocker zu seiner Seite.

Ihre glänzende Oberfläche warf den Schein der Lichter träge zurück.

»Bevor wir beginnen«, erklang die tiefe Stimme des Boten unter der Kapuze hervor, »wol­len wir die Akteure bestimmen.«

Ein Murmeln erhob sich unter den Anwesenden. Ihre Lebendigkeit schien schlagartig zurückgekehrt. Ihre Sohlen schlurften über den Steinboden, als sich ihr Kreis um den Boten enger zog. Begierige Hände erhoben sich, um nach dem Dolch und der Nadel zu greifen. Keiner wagte jedoch, sich dem Boten ungebührlich zu nähern.

»Ich, ich«, erklang Panpopidis freche Stimme. Mit den Armen sich den Weg durch den Menschenkreis freischaufelnd, erschien der Bärtige vor dem Boten.

»Ich … Ich will den Dolch führen«, rief er. »Ich muss ihn haben, ich will dem Alten die Haut durchbohren, ich will ihm das Herz ausreißen!«

Ein dumpfes Raunen antwortete diesen hastig hervorgestoßenen Sätzen. Der Bote schien beeindruckt. Er wartete, ergriff dann den Dolch und hob ihm mit beiden Händen in die Höhe. So wandte er sich Panpopidis zu, der schon den Arm ausstreckte, um das Mordgerät zu ergrei­fen. Als der Bote zögerte und die angefangene Bewegung nicht zu Ende führte, gefror auch Panpopidis gieriger Zugriff.

»Gibt es unter euch einen anderen, der die größeren Rechte hat?«, fragte der Bote.

Erneutes Raunen erklang, dann fiel Schweigen über die Versammlung. Ein gespanntes, abwartendes Schweigen.

»Ja, ich«, hörte man die helle, liebliche Stimme eines Mädchens.

Maddalena brauchte sich nicht durch den Ring der Umstehenden zu drängen. Ihr machte man freiwillig Platz.

So trat sie in den Kreis und stand vor dem Boten. Ihr schönes, reines Gesicht erhob sich zu der schwarzen Finsternis, die unter der Kapuze des Boten lag.

»Ich habe größere Rechte«, wiederholte sie klarer, fester Stimme.

»Erkläre dich, meine Gefährtin.«

»Mistziege …«, heulte Panpopidis auf. Er hätte sich auf Maddalena gestürzt, wenn sich nicht die Kapuze des Boten unmerklich in seine Richtung gewandt und er die Blicke aus dem Verborgenen wie Eiszapfen gespürt hätte, die sich in sein Herz bohrten.

»Schweig, Verworfener«, donnerte der Bote. »Wage nicht noch einmal die Würde des fei­erlichen Augenblickes zu stören, sonst werde ich dich bestrafen.«

Panpopidis ließ den Kopf hängen, sodass niemand sehen konnte, wie seine Lippen trot­zige Entgegnungen formulierten.

 

Maddalena wartete, bis ein aufforderndes Nicken sie zur Erklärung ansetzen ließ. Zuerst wandte sie sich an den Boten. Dann aber war es der Conte, den sie direkt ansprach.

»Ich habe das Recht, erhabener Bote, weil dieser Mann, der hier sitzt, mich demütigte, tyrannisierte, quälte und verkrüppelte. Seine väterliche Liebe, derer er mich tagtäglich auf seine lästige und aufdringliche Art versicherte, war nichts anderes als eine eiserne Klammer um meine Seele.«

Maddalenas blütengleiche Hand deutete auf den Conte, sie beugte sich herab und ihre dunklen Kirschenaugen bohrten sich in den stoischen Blick des alten Mannes. »Von Reinheit sprach er zu mir. Mich, das junge Ding, verkrüppelte er mit seinem frommen Gerede. Täglich vergoss ich Tränen, weil ich fürchtete, nicht gut genug zu sein, zu fehlen, zu versagen. Meine Tage waren wie ein ängstlicher Gang durch einen Sumpf, in dem mich jeder Fehltritt das Leben kosten könnte. Meine Nächte waren ein ständiger Kampf, ein Wühlen in meiner Seele, ein Trauern um meine eigene Schwäche.«

Die Stimme des Mädchens wurde lauter, während sie ihre Anklage vorbrachte. Sie erhob die Arme und schaute gegen die Decke, raufte sich die wallenden Haare und schlug die Handflächen gegen die Brust. Ohne sich dessen bewusst zu sein, imitierte sie die Altarbilder, die sie gesehen und die bunten Drucke der Andachtsbildchen, die sie in ihren Brevieren gefunden hatte – Darstellungen voller Pathos und großer Gestik, geraufter Haare und bitterer Zähren.

Es hätte Schmierentheater genannt werden können, wenn nicht die klare Stimme des schö­nen jungen Mädchens von furchtbarem Ernst durchdrungen gewesen wäre und sich mehr und mehr ein schriller Ton eingeschlichen hätte, der ihre Erregung bezeugte.

»Verkrüppelt hast du mich, du widerlicher alter Mann, mich in eine Form gepresst, die mir zuwider war, mich beladen mit deinen Weisheiten, die man an jeder Straßenecke um eine Lira kaufen kann. Edel, rein und gut wolltest du mich, zeigtest mir mein Bild, wie du es malen ließest, und erschrecktest mich, die ich doch wusste, welche dunklen Stellen auf dieser Seele waren. Ich kannte doch den Zorn, der in mir aufwallte. Ich kannte doch die Gedanken, die in mir aufkamen. Meine Hände waren es doch selbst, die über meinen Leib glitten und meiner Fantasie vorspiegelten, es wären die Hände eines anderen. Deine Hände sollte es sein, die mich von der Qual meiner Reinheit befreiten, das war mein Wunsch, meine erträumte Rache, mit dir wollte ich sündigen, oh du mein Vater im Geiste, deine Sünde sollte mir das Lebensrecht meiner Sündhaftigkeit bezeugen. Wie viele Nächte kasteite ich mich, strafte ich mich, rang ich die Hände im Gebet. Aber nie kam eine Antwort. Nur die Sünde war mein Teil, sie blieb mir treu, nur meine Unreinheit verließ mich nicht und antwortete mir. Dafür, für diese Qual darf ich dich hassen, alter Mann. Denn ich bin unrein. Ich bin ein Gefäß der Gier und der Geilheit. Der Mann Panpopidis befreite mich, indem er mir zeigte, wie ich wirklich bin, er trieb mir die schmerzenden Dämonen des Guten aus und machte mich zu der, die ich schon immer war. Ich bin schlecht, schlecht, schlecht, ich bin abgrundtief schlecht. Ich war nie die, die du in mir sehen wolltest. Du warst zu blöde zu begreifen, alter Mann, du hast mich belästigt und gequält mit meinem eigenen Spiegelbild, das du mir vorhieltest und das mich rein und gut zeigte, aber so war ich nicht, niemals war ich so. Deine Güte war wie Salz in meinen Wunden, diese Langmut war die Geduld des Foltermeisters. Mein Dank gilt die­sem Mann, der mir meine Schlechtigkeit gezeigt hat, mit dem ich in meiner Verworfenheit wühlen kann!

Aber dir will ich Schmerzen bereiten und den Tod geben, als Rache für die Qual der Tage und das Weinen der Nächte!«

Ihre schrille Stimme verklang nur langsam in dem Raum. Sie schien nicht gehen zu wol­len und blieb als scharfer Splitter eines Klanges erhalten.

»Wahrlich, dir gebührt es, den Dolch zu führen«, entschied der Bote.

»Aber dir«, wandte er sich an Panpopidis, »weise ich auch ein Recht zu. Und ich erkenne den Hass in deinem Herzen. Darum sollst du die Nadel führen, bevor dieses junge Weib den Dolch spielen lässt.«

Triumphierend nahm Panpopidis die lange goldene Nadel und grinste den Conte hasser­füllt an.

***

Die Feinde hatten kein Gesicht. Sie waren das Getrappel von Schritten ebenso wie das lauernde Abwarten in der Stille.

Steele hätte sich am liebsten eine Waffe mit frischem Magazin und einige Handgranaten gepackt und wäre aus dem Gang gestürmt. Aber er verwarf diese Idee, weil sie nicht effektiv war. Man würde ihn innerhalb von Sekundenbruchteilen zusammenschießen und nichts war gewonnen.

Nein, entschied Steele, ein solcher heroischer Abgang hatte den Beigeschmack von feiger Desertion. Die Sache musste bis zum bitteren Ende durchgezogen werden, auch wenn das Drehbuch inzwischen nur allzu offensichtlich war und das Ende nicht mehr fern sein konnte.

Durch den Rauch waren ihre Gegner gedeckt. Steele und Tony Tanner konnten also nicht gezielt schießen, sondern mussten ihre Munition verballern, einfach um den anderen das Leben schwer zu machen.

Beim Militär nannte man so etwas früher ein Rock ’n Roll-Gefecht, erinnerte sich Steele. Jeder ballerte wie blöde in der Gegend herum, und wenn man ihn fragte, Sag mal, Kumpel, wen hattest du denn im Visier, dann erntete man ein lang gezogenes Äääähh, aber auch nur dann, wenn der Soldat intelligent und kommunikationsbegabt war.

Steele hasste so etwas. Es war pubertär, schlampig, unintelligent, einfach mieses Handwerk. So etwas gehörte sich einfach nicht!

Jetzt machte er es selbst. Er belegte den Eingang mit kurzen Feuerstößen, variierte Höhe und Seitenrichtung, um kein Schema erkennen zu lassen. Dabei war er sich darüber im Klaren, dass solche taktischen Finessen so viel bedeuteten wie eine klassische Musikausbildung für den Pianisten in einer Stripteasebar.

Neben ihm ließ Tony Tanner einige Magazine auf die Stufen fallen.

»Mehr ist nicht«, sagte er knapp.

»Handgranaten?«

»Fehlanzeige. Die Sicherungsstifte hängen noch an den Westen, aber die Granaten sind weg.«

Steele machte sich nicht einmal mehr die Mühe zu fluchen. Höchstens, dass sein Zeigefinger einen Wimpernschlag länger am Abzug blieb.

Wie viele Handgranaten hatten diese Männer mit sich gehabt? Sechs oder acht, vielleicht sogar noch mehr. Und wenn sie alle schon eingesetzt worden waren, konnte das nur auf ein Gemetzel in den Hallen und Gängen des Palastes hindeuten. Undeutlich kam Steele die Möglichkeit in den Sinn, dass sie hier die letzten Überlebenden waren.

Er ließ es nicht zu, dass diese Vorstellung ihn tiefer berührte. Er beließ es bei der rein tech­nischen Betrachtung – Verlust100 Prozent minus fünf Gestalten, die noch fehlten, um die Quote dreistellig zu machen.

Jetzt legte Steele eine Pause ein. Seine Finger, die die Waffe hielten, verkrampften sich. Er lauschte, versuchte mit aller seiner Erfahrung zu erkennen, welche Überlegungen die Gegenseite jetzt anstellte.

Sie wurden misstrauisch. Sie konnten einen Trick wittern. Aber vielleicht war den Kerlen im Gang auch schon die Munition ausgegangen. Je länger die Waffe schwieg, desto wahr­scheinlicher wurden seltsamerweise beide Theorien. Sie schlichen sich an. Sie bemühten sich, unhörbar zu sein. Jetzt standen sie vor dem Eingang. Oder auch nicht. Es schwer mit einem Gegner zu spielen, wenn man die Regeln nicht kennt.

 

Steele zog den Abzug durch. Die Waffe hämmerte in seiner Hand, die leeren Patronen sprangen aus dem Verschluss, purzelten unter ihm auf die Stufen. In den Pausen zwischen den Feuerstößen konnte man sie klicken hören.

Das Magazin war leer. 30 Kugeln waren verbraucht. Fünf Magazine blieben. Machte 150 Patronen oder einen langen Feuerstoß.

Kollernd und klackernd hüpfte etwas auf sie zu.

»Verflucht!«

Steele sprang hoch, bekam das Ding zu fassen, schleuderte es durch den Eingang und ging in Deckung. Die Handgranate explodierte auf dem Flur.

Die Detonation betäubte sie, legte auf die Taubheit durch den Lärm der Schüsse noch eine weitere Wattedecke. Tony Tanner schüttelte wütend den Kopf, um das Pfeifen im Ohr loszu­werden, aber das war kein Wasser, das man so einfach herausschütteln konnte.

Trotzdem hörte er von oben ein lautes Stöhnen, dann schabte etwas Metallisches über den Steinboden und entfernte sich.

»Zumindest einer wird uns nicht mehr länger belästigen«, kommentierte Steele trocken.

»Toll und wie viele bleiben übrig?«

Die Frage hatte sich Steele auch schon gestellt. Oder genauer, er versuchte zu berechnen, wie viele Angreifer in den beiden Helikoptern gewesen sein mochten.

Ursprünglich war die Bell Uh-1 für 2 Piloten und 10 Passagiere ausgelegt.

… Wir rechnen im Kopf – macht 20 Mann. Schmeiß die beiden Co-Piloten raus und du kommst auf 22 Mann, die aus dem Chopper springen und ihren Auftrag ausführen. Weiterhin könntest du ein wenig an den Turbinen arbeiten und die Hubschrauber stärker machen. Du könntest dich sogar in den Feinheiten der Militärtaktik üben und Sprit sparen. Sagen wir mal, du bist ein richtig Cleverer, dann fährst du deine Leute unauffällig mit Lieferwagen an einen idyllischen Ort, wo sie ein Picknick machen und Zigaretten ohne Filter rauchen. Dann kom­men zwei Hubschrauber, pumpen die Tanks leer bis auf drei Flugminuten, die du bis zum Angriffsziel brauchst, zwei für den Rückflug und fünf zur Sicherheit, damit die Versicherung dich nachher nicht am Arsch kriegt.

Dann hast du natürlich Jungs, die a) so was gewohnt sind, will heißen, es geht ihnen am Arsch vorbei, wenn sie sich einige Minuten in einen Chopper quetschen, als wären sie in einem Aufzug zwei Minuten nach Büroschluss, wenn alles zum Parkplatz will. Einige können halb in der Tür sitzen oder sich sogar außen festhalten. Außerdem, Punkt b) tragen deine Jungs auch kein Sturmgepäck und keinen Rucksack mit dreißig Kilo Gewicht und so feinen Sachen wie MRE-Rationen und Lokuspapier für zehn Tage und zweimal kacken pro Tag …

Am Ende sah sich Steele mit der Möglichkeit konfrontiert, dass mehr als dreißig, viel­leicht sogar über vierzig Söldner bei diesem Angriff eingesetzt waren. Eine Feuerkraft, von der die Armee Preußens zu Zeiten des großen Friederich nur träumen konnte.

»Wir müssen zurück«, befahl Steele.

»Mit mir immer«, antwortete Tony Tanner trocken. Er war inzwischen jenseits von Panik und Furcht, dort, wo ihm alles egal war. »Aber was machen wir dann?«

»Hinhalten, irgendwann muss jemand merken, dass in dieser idyllischen Landschaft etwas abgeht, was nicht den Normen des zivilisierten Zusammenlebens entspricht.«

»Sie dachten an die Sozialpädagogen von der achten Kavallerie, nehm’ ich mal an?«

Stufe um Stufe wichen sie zurück. Steele feuerte und warf Tony Tanner einen ärgerlichen Blick zu.

»Vielleicht haben die Leute da oben ja auch bald Feierabend. Oder wir können natürlich auch aufhören, uns in die Tasche zu lügen und uns eingestehen, dass wir im Arsch sind.«

»Den Zustand kenne ich.«

»Total im Arsch.«

»Das könnte was Neues sein.«

Jetzt musste wieder die Lampe herhalten.

 

Steele kniete sich auf die Stufen und feuerte eine weitere Salve nach oben. Er bot ein Bild, das Tony Tanner aus so vielen Filmen kannte, dass es seltsam vertraut wirkte. Vertraut genug, um für Bruchteile von Sekunden so etwas wie eine beruhigende Wirkung auszuüben.

»Das war das vorletzte Magazin«, stellte Steele fest und schob den kalten, länglichen Metallkasten in die Aufnahme seines Gewehrs. »Wenn die da oben nicht blöd sind, werden sie uns jetzt einfach mit einigen Handgranaten bewerfen. Zurückschmeißen kann ich die Dinger nicht mehr. Wir können ganz nach unten gehen, aber dann werden die anderen auch sofort in Stücke zerlegt. Wir haben hier keine Deckung, also war’s das dann wohl.«

»Nicht wirklich«, sagte Tony Tanner.

»Was?«

»Das mit der Deckung. Wir haben nicht wirklich keine Deckung.«

»Versteh ich nicht.«

Tony machte eine Handbewegung und Steele verstand. Er musste schlucken.

»Abartig. Wie kommt man auf solche Ideen?«

»Schlechte Filme und eifrige Lektüre von Groschenromanen.«

»Da lernt man was fürs Leben«, sagte Steele.

***

Es war unglaublich. Nicht die Seele zerfraß den Körper, sondern der Körper verweigerte den Dienst. Little spürte kalten Schweiß auf der Stirn, ein Fieber schüttelte ihn, dennoch war ihm kalt. Die Materie schlug zurück. Bisher hatte er ihren Einfluss stets gering geschätzt. Jetzt zeigte sie ihre Macht.

Jetzt ließ sie ihn im Dunkeln verbluten wie ein angeschossenes Tier.

Little fiel zur Seite. Ein harter Gegenstand steckte in seiner Tasche und drückte schmerz­haft gegen seinen Hüftknochen.

Was mochte das sein? Little überlegte. Für einen Moment vergaß er seine Todesfurcht und seine Schmerzen. Es war das Kästchen, das der Conte die Saloviva gestern wie zufällig auf dem Tisch liegen gelassen hatte. Keiner hatte sich weiter darum gekümmert, darum hatte es Little eingesteckt, um es dem Conte bei der nächsten Gelegenheit zurückzugeben. Heute Morgen hatte er eine andere Jacke angezogen und das Kästchen aus der alten in diese neue getan. So musste es gewesen sein, obwohl Little keine Erinnerung mehr an den Moment hatte, in dem er das Kästchen angefasst hatte. Es musste eine völlig automatische Handlung gewesen sein.

Es war seltsam. Dieser Gegenstand hatte ihn begleitet wie ein treues Hundchen. Little griff in die Tasche und zog den kleinen Kasten heraus. Es war eigentlich nichts Sensationelles – ein viereckiger Holzkasten mit schöner glatter Oberfläche und einer Ledereinlage am Boden, damit man sich nicht den Tisch verschrammte, wenn man ihn darauf stellte. Uhren oder Schmuck wurden in solchen Kästchen untergebracht. Little strich über den Gegenstand. Er brauchte dazu den Arm nicht zu bewegen. Es tat ihm wohl, diese polierte Oberfläche zu spüren, dieses Zeichen für solide Handwerkskunst und ein Symbol für ein kultiviertes Dasein, jenseits von modrigen Gängen ohne Ausweg.

Sanft streichelte Little den leblosen Gegenstand, während von oben Schüsse dröhnten. Das alles ging ihn nichts an. Er starb und er hatte diesen kleinen, tröstlichen Kasten in der Hand.

Ob man ihn öffnen konnte? Little fühlte, spürte Scharniere, aber kein Schloss. Nach eini­gen gescheiterten Versuchen konnte er den Deckel aufklappen.

Glatter kühler Stoff schmeichelte sich an seine Fingerspitzen. Dann spürte Little etwas Hartes. Er tastete. Es musste ein kleiner Stab sein. Ohne nachzudenken, nahm Little ihn heraus, bemerkte im gleichen Moment, dass es noch ein Gegenstück gab. Auch dieses nahm er und hielt beide zwischen den Fingern. Sie waren kühl, hart und glatt und erschienen ihm als köstliche, erfrischende Erinnerung an eine verlorene Welt.

 

Eine laute Detonation erschütterte den Gang. Staub rieselte aus der undurchdringlichen Schwärze herab. Vor Schreck ließ Little die beiden Stäbe aus den Fingern gleiten. Im selben Moment überfiel ihn Panik. Er durfte die Stäbe nicht verlieren!

Hektisch, ohne Rücksicht auf Schmerzen, tastete er im Dunkeln nach den Gegenständen. Fand einen, wollte ihn greifen und hörte nur noch, wie er weiter entfernt auf den Boden schlug, tastete weiter, schabte sich die Fingerspitzen wund, berührte einen Stab, kroch in die Schwärze, dorthin, von wo er das leise Klingeln des Aufpralls vernommen hatte, kam sich verloren vor, als wäre er plötzlich in einer endlosen schwarzen Wüste und fand endlich auch den anderen Stab.

»Dorkas?«

»Was ist? Was hampeln Sie so herum, bleiben Sie doch ruhig.«

»Ja, doch.«

Little wollte nur wissen, wo die anderen waren. Keine nachtfarbene Einöde, Dorkas’ Stimme holte ihn zurück aus dieser Angst und wies ihm die Richtung, in die er kriechen muss­te.

Jetzt hatte er in jeder Hand einen Stab. Spielerisch berührte Little damit die Mauer, die den Gang abriegelte. Es gab keinen Grund dafür. Einfach so.

Aber etwas geschah. Little konnte es nicht formulieren. Eine Veränderung fand in seinem Bewusstsein statt. Schatten von Bildern, ein Hauch vom Flüstern eines Wortes wurde spür­bar.

Schmerzhaft, quälend wie ein schöner Traum, an den man sich am Morgen nicht erinnern kann, weil sein Gespinst zu fein ist, um vom groben Werkzeug der Sprache erfasst zu werden und während man sucht und sich müht, verblassen die letzten Bilder im Morgenlicht und man weiß nichts, nur, dass man einem bitteren Verlust erlitten hat, dass man vielleicht die Lösung aller Rätsel für einen Moment in der Hand hatte, das Feenwort, das jede Tür öffnet …

Ein Schweißtropfen suchte sich seinen Weg über Littles Stirn. Sachte wie eine Katze schlich er heran, kroch durch die Brauen und glitt in das Auge. Es brannte wie Feuer.

Brannte … Feuer … Feuer … Brennen …

 

Little griff instinktiv nach diesen Begriffen wie nach einem Halteseil. Feuer. Ja, da war ein Feuer. Etwas brannte. Schmerz. Schreie. Fesseln. Ein Kopf, in den Nacken gelegt, aufge­rissene Augen, ein aufgerissener Mund, Schmerz, unaussprechlicher Schmerz, aufgerissene Nüstern, Gestank von verbranntem Fleisch, ein Schrei von Zorn und Schmerz, der die Kehle zerfetzte …

Little zögerte. Hatte er sich getäuscht?

Er spürte die Stäbe in seiner Hand und schlug sie noch einmal gegen die Mauer. Ein lei­ser Ton erklang. Leiser als erwartet. Die Stäbe vibrierten in seiner Hand. Wollten ihm entglei­ten.

Er griff fester zu, zitternd, mit krampfigen Fingern. Übelkeit überkam Little, Schmerz pei­nigte ihn.

Loslassen … die Stäbe loslassen.

Die Stäbe saugen dich aus.

Die Stäbe saugten ihn aus. Sie schlürften genüsslich seine restliche Lebensenergie. Und sie gaben ihm Bilder. Do ut des – eine Gabe für eine Gabe. Das alte Spiel des Lebens. Little konnte mitspielen oder es lassen. Aber DIESE Regel konnte er nicht ändern.

Er konnte es versuchen. Die Stäbe flüsterten ihm zu. Vielleicht konnte er etwas erkennen, das seinen Freunden half, ihnen einen Ausweg bot.

Aber nur ihnen, denn die Stäbe fraßen ihn auf. Little musste sich entscheiden. Stirb mit den anderen. Oder sterbe für die anderen.

Little zauderte. Ich bin kein guter Mensch, dachte er. Ich bin ein Feigling. Ich habe solche Angst vor dem Tod.

Dann traf Little eine Entscheidung.

***

»Fluch dem Schöpfer«, sang der Bote mit seiner Stimme, die aus einem Abgrund zu kom­men schien.

»Fluch dem Schöpfer«, murmelten die Umstehenden.

Die helle Stimme Maddalenas klang aus dem dumpfen Stimmenteppich hervor wie eine weiße Rose.

Sie sangen die Litaneien der Verfluchung.

Es war nicht so, dass sie Gott leugneten. Sie verfluchten ihn vielmehr als Schöpfer einer unvollkommenen Welt, in der keine Sekunde ohne den Schmerzensschrei eines gequälten Wesens verstreicht, einer scheußlichen Welt, in der jede Schönheit nur das allgegenwärtige Leiden zu überdecken sucht, wie ein zu stark aufgetragenes Parfüm den ekligen Geruch eines verfallenden Körpers.

Der Conte di Saloviva musste diese Abfolge von geifernden Hasstiraden, eingehüllt in die feine Seide höchster Poesie und getragen von Worten aus inspiriertem Dichtermund über sich ergehen lassen.

Er litt. Seine körperlichen Schmerzen konnte er verdrängen. In seinem Alter kannte man die peinigenden Gebrechen des Leibes oder man war schon gestorben.

Aber seine Seele litt. Er erkannte, dass dieses hier seine persönliche Vorhölle war, der Limbus des Conte di Saloviva.

Der alte Mann war unsicher – durfte er die Wahrheit leugnen, um seine Seele vor dem Zerbrechen zu schützen? Konnte seine Seele die Wahrheit ertragen, ohne sich in einem Meer von Scham aufzulösen wie ein trockener Erdklumpen?

Konnte das Böse ihn besiegen, indem es ihm Wahrheiten ins Gesicht schleuderte?

Wahrheiten … kannte das Böse Wahrheiten? War das Böse böse, wenn es Wahrheiten kannte, die das Gute leugnete, übersah, mit einem Lachen wegwischte?

Wie sehr hatte er Maddalena gequält! Hatte sie mit der Geißel des Guten gepeitscht. Hatte sie gewürgt mit seinen Ansprüchen. Er, der Conte Hercule di Saloviva hatte diese Rose zer­trampelt, hatte dieses junge Leben verdorben, indem er sein eigenes, ungelebtes Leben auf dieses zarte Wesen pfropfte. Er war es gewesen, der Maddalena in die Arme dieses Ungeheuers Panpopidis getrieben hatte.

Er schämte sich. Er schämte sich so grenzenlos. Aber durfte er sich schämen? Gab er damit nicht nach, willigte ein in das Zerbrechen seines Selbst, führte selbst den tödlichen Streich aus, der Panpopidis und seiner kindischen Gemeinheit nicht gelungen war?

Der Conte di Saloviva schämte sich. Tränen quollen aus seinen müden Augen.

Während die große Litanei der Verfluchungen an seinen Ohren vorbeizog, kämpfte er mit einem aufwachsenden Verstehen für diese Leute.

Wie sollte man dieser Welt nicht fluchen, nicht dem Schöpfer dieses Missgebildes seine Verachtung entgegenschleudern?

Ja, in diesem Moment starben Menschen. Sie verhungerten, sie krepierten an Krankheiten, weil sie arm waren, die falsche Hautfarbe hatten, die falsche Religion, das falsche Vaterland. Oder sie starben, weil ein boshaftes Geschwulst ihnen die Kraft des Lebens fortsaugte, weil ein dämlicher Zufall sie zur falschen Zeit an der falschen Stelle sein ließ, weil … weil …

 

Der Conte ließ das Kinn auf die Brust sinken.

Er ergab sich.

Sie hatten recht.

Ab jetzt wusste Tony Tanner, was die Hölle war. Sie war nicht nur ein Name. Er kannte ihren Geruch – den stechenden Geruch seines eigenen Angstschweißes. Sie hatte ein Gewicht – das Gewicht von Toten, unter denen man sich verkroch, um Deckung zu haben. Sie hatte ein Geräusch – das harte Klacken von Metallgegenständen, die die Treppe hinuntersprangen.

Tony lag auf einer Stufe, drückte sich gegen die Kante und versuchte, sich so klein zu machen, wie es ihm nur möglich war. Über ihm lag die Leiche eines Söldners und drückte ihn mit ihrer starren, erkaltenden Schwere hart auf den Rücken. Er durfte sich seiner Situation nicht bewusst werden, dann ging es. Er durfte nicht tief einatmen, sich nicht fragen, ob ihm etwa schon der Gestank von Fäulnis in die Nase stieg.

Er musste sich bemühen, sein Ich unabhängig zu machen von seiner Außenwelt, es zurückweichen zu lassen wie in eine Muschelschale.

Es gelang ihm gut, aber sobald er sich sagte Verflixt, da drückt aber irgendetwas Hartes in meinem Rücken, brach die gesamte sorgfältige Konstruktion der Wirklichkeitsverleugnung zusammen, er spürte den toten Körper auf sich, ihm wurde übel, und nur die Lähmung seiner Furcht hinderte ihn, aufzuspringen und wild schreiend die Stufen heraufzurennen.

Steele lag einige Stufen über ihm, ebenfalls unter einer Barrikade von Leichen. Er hatte Tony Tanner noch geholfen, einige beruhigende Worte über Kevlarwesten abgelassen und sich dann nach oben verzogen.

»Falls ich überlebe, muss ich in Position sein, um die Kerle noch einmal zurücktreiben zu können«, hatte Steele gesagt.

Falls …

Und dann?

Es klang wie eine kleine Gerölllawine. Ein entferntes Pockern, bei dem man an Steinchen, die auf Felsen schlagen, denken konnte. Dann kam das Geräusch näher, gewann an Härte, ent­puppte sich als das Klacken von Metall auf Stein. Für einen kurzen Moment hatte der Lärm etwas Befreiendes. Das Warten hatte ein Ende. Es ging los. Die Entscheidung fiel. Erleichterung …

Der Moment verging und machte Panik Platz. Es passiert. Es passierte wirklich. Es war keine Angstvision, es war Realität. Etwas war in Gang gesetzt worden, etwas begann abzu­laufen, mechanisch wie ein Uhrwerk, mit der kalten Präzision physikalischer Gesetze.

Aber es meinte ihn. Ihn, der jetzt zitternd, mit klappernden Zähnen und bibbernden Händen, das Gesicht an die glatte Steinstufe gepresst dalag und wieder wartete. Auf eine andere Art wartete. Der die Sekunden zählte. Für den die Qual des Abwartens plötzlich Sicherheit bedeutete, gesicherte Lebenszeit, solange er noch zitterte, lebte er noch. Angst war Leben.

Dieses Pochen, dieses hinterhältige Rollen und dann wieder dieses Klacken, wenn die Handgranate die nächste Stufe herunterrollte! Er konnte es nicht ausblenden. Es drängte sich in sein Ohr, beherrschend und sieghaft wie die unbekannten Söldner, die diesen Gang jetzt endgültig freimachen wollten.

Dieses Klackern … wie das Ticken einer Uhr … wie der Schritt eines Scharfrichters … wie …

Dann erkannte Tony Tanner, dass er bisher nicht einmal geahnt hatte, was Hölle wirklich bedeutete.

***

Der Conte di Saloviva legte den Kopf in den Nacken und lachte.

»Der Alte ist irre geworden«, schrie Panpopidis und unterbrach den Fortgang der Zeremonie durch den rostigen Klang seiner sich überschlagenden Stimme.

Bevor jemand anderes reagieren konnte, war der Bärtige zu dem sitzenden Conte gesprun­gen und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Eine Schwellung brach unter dem Aufprall der Knöchel auf und ein weiterer Blutfaden zog sich über das farblose Gesicht des Greises, als würde es von einem Spalt zerteilt. Der Kopf des Conte flog zur Seite, fast wäre der alte Mann von seinem Sitz gestürzt, aber er hielt sich gerade und erwartete stoisch den nächsten Schlag.

»Genug!«, befahl der Bote. Der Ärger ließ seine Stimme grollen wie ein fernes Gewitter.

Panpopidis hörte nicht auf diesen Befehl. Das Aufrichten des Conte, das Aufblitzen von unzerstörbarem Stolz und Würde, wirkte auf ihn wie ein rotes Tuch. Seine Halsader schwoll, sein Gesicht nahm eine dunkelrote Farbe an.

Mit unbändigem Hass, schnaubend und prustend, starrte er auf den Conte und holte zu einem neuen Schlag aus. Er wollte den alten Mann erschlagen, er wollte ihn brechen, er woll­te ihn kalt machen, dieses unerträglich sture alte Aas, dieses Monstrum, er wollte …

Mit einem Schmerzensschrei brach Panpopidis zusammen. Meister Ki ließ das Handgelenk des bärtigen Mannes nicht los, auch als sich Panpopidis auf dem Boden wälzte und mit den Beinen um sich trat. Nicht etwa, um sich zu wehren, sondern weil ihm der stäh­lerne Griff des Japaners unerträgliche Schmerzen bereitete.

Ki schleifte ihn vom Conte fort und stellte Panpopidis mit einem Schwung wieder auf die Beine, was einen erneuten Schmerzensschrei hervorrief.

Immerhin hatte diese Erinnerung an seine körperliche Verwundbarkeit die Wut des Panpopidis etwas abgekühlt. Er rieb sich jammernd das Handgelenk und warf Meister Ki tückische Blicke unter den wuchernden Brauen zu.

Meister Ki selbst verbeugte sich völlig gelassen vor seinem Opfer, beugte sich dann vor dem Boten und nahm erneut seinen Platz ein.

Der Bote zögerte. Allen stockte den Atem. Der Lederumhang des Boten schabte über den Boden, als er einige Schritte zur Seite machte. Unter der Kapuze war kein Gesicht erkennbar, nur ein schwarzes Loch, drohend und unberechenbar wie eine Gewitterwolke.

Dann, als wäre nichts geschehen, kehrte der Bote an seinen Platz zurück und führte das Ritual fort.

Conte Hercule di Saloviva achtete nicht weiter auf die Worte, die von dumpf murmelnden Stimmen wiederholt wurden.

Er hing seinen eigenen Gedanken nach, die sich nur mühsam durch den Schmerz in sei­nem gepeinigten Kopf spannen. Fast wäre er in die Falle gelaufen. In die tückische Falle, die ihm von Maddalena, von Panpopidis, von den anderen in diesem Raum gestellt worden war. Hilflos hatte er in den Fängen seines eigenen Mitgefühls gezappelt, hatte sich selbst in das auflösende Säurebad des Verstehens geworfen.

Das war vorbei. Die Wahrheit hatte sich durchgesetzt. Und diese Wahrheit lautete: Sie hat­ten die Wahl gehabt. Egal, mit welcher Berechtigung Maddalena ihm ihren Hass und ihre Verachtung entgegenspie, so hatte sie doch die Wahl gehabt. Der Conte hatte sie nie gezwun­gen, weil er es gar nicht gekonnt hatte. Es gab einen Ort in der Seele, zu dem kein anderer Mensch Zugang hatte, so sehr er auch darum kämpfen, manipulieren, tricksen mochte. Es gab diesen einsamen Platz, an dem ein Ja oder ein Nein ausgesprochen wurde, eine Zustimmung oder eine Ablehnung, die schwarze oder die weiße Kugel. Der Tempel im Inneren, bei dessen Anblick jede Ausrede verdorrte. Es gab eine Verantwortung, die nur der Einzelne zu tragen hatte. Nur dieses Individuum und nicht der Conte di Saloviva.

Maddalena hatte eine Entscheidung getroffen. Sie hatte die Last der Schuld auf ihn gewälzt und der Conte hatte sie in der ersten Stunde der Verwirrung und des Schmerzes auf sich genommen, hatte in seiner Scham wie in einer Feuergrube gehockt.

Vorbei. Auch Scham konnte ein Schleier der Täuschung sein. Auch Schuld konnte ein Schleier der Salome sein, hinter der sich das geile Fleisch von Eitelkeit, Selbstüberhebung, moralischer Protzerei zeigte.

Kein Leid der Welt konnte zur Rechtfertigung dienen, anderen Leid zuzufügen. Die Menschen in diesem Raum hatten die richtige Frage gehört und die falsche Antwort gegeben. Sie hatten gewählt.

Seltsam, dachte der Conte, bisher habe ich es doch auch gewusst, aber es waren nur Ideen, luftige Gebilde, Gedankengespinste, philosophisches Gewebe. Aber jetzt weiß ich es alles wirklich, jede Zelle meines Körpers spürt die Wahrheit dieser Ideen. Wie schade, dass ich sterben muss, um diese Erkenntnis zu erreichen. Wie schade, dass Maddalena mir diese Weisheit auf solche Weise schenken muss!

Zugleich spielte ein bitteres Lächeln um die geschwollenen Lippen des alten Mannes und schimmerte eine Träne in seinem Auge.

***

Die Schnitte in die Haut … Fesseln … ein junger, geschmeidiger Körper, der sich gegen die hinterhältige Bedachtsamkeit der Fesseln aufbäumt. Der sich windet, der sich beugt und sich dreht. Grobe Fesseln, die in weiße, samtige Haut schneiden … Schmerz … Blut, das sich in skandalöser Frechheit aus den Adern befreit und wie ein irrer Lustmolch über das makel­lose Alabasterweiß eines vollkommenen Mädchenkörpers streicht. Hitze … erstickende heiße Luft … Gesichter, die im Kreis stehend starren, offene Münder, aus denen Hassworte wie Rabenschwärme flattern … Verzweiflung, die keine Verzweiflung ist, weil es für die wahre Verzweiflung keinen Begriff gibt …

Little wurde von Krämpfen geschüttelt. Er fühlte, wie seine Kräfte schwanden, wie ihn jeder Herzschlag näher an das endgültige Verlöschen brachte. Die Stäbe, die er immer noch in seinen verkrampften Händen hielt, saugten ihn aus. Oder vielmehr, die Stäbe dienten als eine Leitung, durch die seine Lebensenergie floss. Sie waren nichts als der materielle Ausdruck einer Verbindung, die weit jenseits der körperlichen Dimension war.

Littles Herz stockte. Er spürte das Aussetzen des Pulses. Der Schreck hüllte ihn ein wie ein Eisblock.

Ich bin tot, dachte Little.

Steele drückte das Gesicht gegen die kalte Stufe. Er versuchte, sich über seine Überle­benschancen klar zu werden. Es war für ihn eine simple Aufgabe der statistischen Wahrscheinlichkeit und hatte nichts mit Angst, Überlebenswillen oder dem Bedürfnis, sich vorzubereiten zu tun.

Es gab keine Möglichkeiten, sich weiter vorzubereiten. Er hatte sich wie eine Ratte unter toten Körpern versteckt, er hatte seine Waffe bereitgelegt, um bei Gelegenheit aufspringen und die Söldner zurücktreiben zu können. Jetzt konnte er nur noch warten, selbst wenn das an den Nerven zerrte bis zur Grenze des Erträglichen.

Und Angst? Es ging doch nur um sein Leben. Um etwas also, das für Steele keinen Wert mehr hatte. Kurz bedachte er die Möglichkeit, schwer, aber nicht tödlich verletzt zu werden. Die Antwort auf diese Variante hatte Steele auf der Stelle parat. Es ging ihm besser als Tony Tanner, denn er hatte eine Waffe bei sich, die er auch gegen sich selbst richten konnte, falls es keinen anderen Ausweg gab.

Das SA-80 lag neben ihm, der Lauf war noch heiß und der Geruch von Waffenöl und Pulver stieg aus dem Verschluss auf.

Aber noch war es nicht so weit.

Obwohl, und das war das Fazit von Steeles Überlegungen, bevor er sich in eine Art von Denkstarre flüchtete, es so gut wie keine Chance gab, dieser Falle jemals heil zu entkommen.

***

Panpopidis brachte seine verschwitzt Nase nahe an das Gesicht des Conte di Saloviva. In der rechten Hand hielt er die lange, spitze, goldene Nadel.

»Schau sie dir an, du alter Kotzbrocken«, zischte Panpopidis und seine Bartspitzen berührten das Kinn des Conte.

»Du wirst sie zu schmecken bekommen. Ich überlege gerade, wo ich sie dir zuerst verab­reichen werde. Ganz langsam natürlich, ich weiß doch, wie kultiviert unser geliebter und ver­ehrter Conte ist. Vielleicht zuerst mal am Arm? Ein wenig unter die Haut und dann ein Stück durch das Fleisch. Jaaaaaa, da kommt Freude auf. So etwas hat man immer wieder gern. Wer hat noch nicht, wer will noch mal?«

Plötzlich brach unter dem Sadismus des Panpopidis die blanke Albernheit hervor. Er kicherte kindisch, riss sich am Bart, hüpfte von einem Fuß auf den anderen und streckte dem Conte den Zunge heraus. Dann, als würde er sich selbst besinnen, fiel das alles wieder von ihm ab und er näherte sich erneut wie ein hungriger Hai dem Conte. Seine Stimme war hei­ser vor Hass.

»Vielleicht kratzen wir ein wenig am Knochen, das soll besonders wehtun. Und dann schieben wir die Spitze auf der anderen Seite wieder aus der Haut raus! Sieht bestimmt affen­geil aus! Wie bei einem Fakir. Bist du ein Fakir, altes Ekelpaket? Bist du? Bestimmt nicht. Du wirst schreien, jede Wette. Ich freue mich drauf. Dich zum Schreien zu bringen, ist bestimmt ebenso gut, wie deine geliebte Maddalena zu stoßen. Aber den Vergleich kannst du ja nicht verstehen. Du hast sie ja nie rangenommen. Das arme Kind, bricht sich in der Nacht fast die Fingerchen ab beim Selbstbefummeln in ihrem überfließenden Brünnlein, im Gedenken an den guten Opa Saloviva oder an irgendeinen Lümmel von Messdiener. Hast du Trottel eigentlich nie mitgekriegt, wie endlos geil dein Engelchen war? Frommer Augenaufschlag und immer tropffeucht zwischen den hübschen Beinchen. Na ja, diese so ver­zweifelt leere Stelle in der Biografie von Maddalena Strozzi hat der gute Panpopidis ja erfolg­reich ausgefüllt …!«

Mit einem meckernden, höhnischen Lachen zog sich Panpopidis wieder zurück.

»Was sagen Sie dazu, werter Gast?«, rief er noch aus der Entfernung.

»Sie sollten etwas gegen Ihren Mundgeruch tun«, antwortete der Conte di Saloviva. Er nuschelte, aber er war deutlich zu vernehmen.

***

Little spürte er einen schmerzhaften Stich in der Brust. Es war, als würde aus dem Dunkel ein Messer zwischen seine Rippen gestoßen. Etwas wühlte in ihm, schloss die kalten Fingern um sein totes Herz und quetschte es zusammen wie eine überreife Frucht.

Schwankend versuchte Little, sich auf den Beinen zu halten, in seinen Ohren war ein keh­liges Ächzen, ein Kchchch wie aus einer lange vergessenen Ursprache – lästig, er wurde es nicht los, es drängte sich immer lauter in seine Ohren und machte sich in seinem Kopf breit.

Nein, versuchte Little zu schreien und konnte seine Stimme nicht gebrauchen, weil die­ses Ächzen aus seiner eigenen Kehle kam.

Aber mit diesem Nein trieb Little den Schmerz aus seiner Brust. Sein Herz krampfte sich zusammen und begann aufs Neue zu schlagen, heftig und zugleich langsam wie der Kolben einer schlecht gewarteten Dampfmaschine.

»Was ist los?«, kam Dorkas’ Stimme von der Seite.

»Was soll sein?«

»Sie haben eben so seltsam geächzt. Als wäre Ihnen schlecht geworden.«

Mir war nicht schlecht, ich bin gestorben, du Trottel, dachte Little und wollte Little auch sagen, aber jetzt hatte er die Empfindung, als würde er selbst durch die Stäbe wie durch ein enges Rohr hindurchgezogen.

Loslassen, befahl Littles Instinkt, lass endlich diese elenden Stäbe sausen.

Er wollte es. Jetzt wollte er es wirklich, jetzt, mit seinem stolpernden Herzen, seinem keu­chenden Atem, seinen wankenden Knien, wollte Little loslassen.

Zu spät, er hatte die letzte Chance verpasst.

Er wurde eingesogen, mitgerissen, fortgewirbelt und wieder ausgeschleudert. Nicht in ein Leben, sondern in tausend Leben, in ein Kaleidoskop wirrer, gegensätzlicher Empfindungen und Gedanken. Er sah zugleich durch die Augen einer jungen Frau eine geifernde Zuschauermenge, die, entmenscht von ihrem Blutdurst wie eine dämonische Horde wirkte und im selben Moment sah er durch die Augen derselben Umstehenden dieselbe junge Frau, die sich auf dem Scheiterhaufen gegen ihre Fesseln stemmte, und empfand die dumpfe Last tagtäglicher Fron und entwürdigenden Schuftens, die Mühsal von knotigen Händen, die Sicheln hielten, um die Ernte vor Unwetter, Wildsauen, Söldnerhorden, Steuereintreibern, adligen Jagdgesellschaften zu retten, damit sich dieses gebückte Dasein noch einige Monate weiter durch die Zeit schleppen konnte, bevor ein morgendliches Fieber den Tod am Abend oder erste Gebrechen ein langsames Siechtum ankündigten.

Little verstand den Stolz der jungen Frau, ihre Liebe, ihre Begierde, ihren Hochmut, ihre Unvorsichtigkeit, ihre Selbstüberschätzung, ihre Hofärtigkeit. Little verstand den Hass der Gegenseite, deren johlenden Rachedurst, Gerechtigkeitssinn, Aberglauben, albtraumhafte Lebensangst, blinde Gläubigkeit, die sich an kaum verstandene Symbole klammert.

Und Little erkannte, was diese Stäbe in sich trugen – sie waren Yin und Yang, Links und Rechts, Oben und Unten, Tag und Nacht, Schwarz und Weiß. Sie verdarben dem Betrachter das Vergnügen der Einseitigkeit. Sie rissen den Vorhang zur Seite, hinter dem sich eine Tragödie abspielte, deren Protagonisten im Käfig festgelegter Regeln agierten, um sich und die anderen dem unvermeidbaren Untergang zuzutreiben.

Das Flackern der Bilder, der Gedanken und Sichtweisen nahm Little fast das Bewusstsein. Wie in einer irrsinnig rotieren Trommel, so als müsste er jedes einzelne Bild eines Filmes ein­zeln betrachten, zugleich blitzschnell und peinigend lange, schlichen und huschten sie alle zugleich an ihm vorbei.

Alles lief nach Regeln ab, die sich gegenseitig aufhoben, sich ergänzten und negierten, sich wie Zahnräder eines von einem boshaften Wahnsinnigen konstruierten Mechanismus gleichzeitig gegenseitig zertrümmerten und wieder aufbauten.

Ich kann meine eigenen Regeln machen, dachte Little. Ich weiß es doch, ich habe vor langer Zeit diese Formel aufgestellt, wie war sie noch …

Der Wasserfall von Eindrücken schlug auf ihn ein, ein Hagelschauer tausender Geräusche, Gerüche, Gefühle. Little war klar, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, sonst würde ihm der Geist gesprengt wie ein überdehnter Ballon.

Spiele das Spiel, erkenne die Regeln, mach deine eigenen Regeln … mach dein eigenes Spiel …

Vergesst es alle, rief Little. Ihr könnt mich mal … Ich lasse mich nicht länger verar­schen. Ich habe genügend durchgemacht, um hier nicht den Deppen abzugeben!

Es war ein Gedanke, zugleich ein zorniger Ruf.

Stille. Die Szene war wie eingefroren. Wenn er wollte, konnte Little sie weiterlaufen las­sen.

Er betrachtete sie in aller Ruhe. Zeit hatte keine Bedeutung. Er stand außerhalb ihres Machtbereiches.

Little betrachtete den schmierigen Priester, einen schwarzäugigen, bärtigen Kerl, der zwi­schen dem Scheiterhaufen und der Zuschauermenge stand, der jungen Frau höhnisch ein Kreuz entgegenhielt, das sie zugleich mit Abscheu und Ehrfurcht betrachtete und mit der ande­ren Hand wedelte, um die Menge aufzuhetzen.

»Wer bist du?«, fragte die Stimme.

Little antwortete nicht. Er konnte nicht erkennen, woher diese Stimme kam. Sie erschien ihm bekannt – eine helle, klare Mädchenstimme, die mit unendlicher Traurigkeit sprach.

»Wer bist du«, wiederholte sie, und als Little erneut die Antwort verweigerte, mischte sich ein Schluchzen in ihren Klang, als sie fortfuhr: »Bitte antworte mir.«

Klack.

Klack. Klack.

Klack, Klack, Klack.

Das metallische Geräusch wurde zum Herzschlag der Angst.

Klack. Klack.

Wie viele?

Klack.

Wo explodieren sie? Klack. Klack. Wann? Wann endlich? Ich halte das nicht mehr aus. Schluss damit. Macht endlich Schluss damit! Ihr wollt uns umbringen? Dann fangt doch endlich damit an!

Klack.

Wissen diese Kerle, wo wir sind? Haben sie die Zeit berechnet, die die Handgranaten brauchen, um uns zu zerfetzen?

Dieses Warten macht mich wahnsinnig. Vielleicht bin ich ja schon durchgeknallt.

Bestimmt bin ich das.

Ich will endlich aufwachen. Das ist doch alles gar nicht wahr. Was mache ich hier?

Klack.

***

Anschwellender Gesang, Murmeln, das sich zu machtvoller, gebrüllter Beschwörung stei­gerte, zum schmerzhaft lauten, im Raum nachklingenden Klangteppich.

Gebrüll, als würden junge Stiere auf der Frühlingsweide ihre Lebenskraft in die Welt hinausprotzen.

Dann wieder Stille, nur der Klang der Atemzüge, manchmal ein leises Räuspern. Dann erneut eine einsetzende Stimme, flüsternd, verschwörerisch, eine Verräterstimme, die Geheimnisse preisgibt, Liebhaberstimme, die verführerisch lockt, Herrenstimme, die eine Antwort befiehlt.

Dann die Antwort aus vielen Mündern, erst leise, dann sich steigernd, dann eine Melodie aufnehmend, dann zum brausenden Chor wachsend.

Der Bote nutzte seine Stimme wie einen Blasebalg, der das Glimmen der Erregung bis zur auflodernden Flamme schürte.

Selbst der Conte di Saloviva konnte sich der Macht des Rituals nur mit Mühe entziehen. Selbst seine geistige Disziplin konnte nicht verhindern, dass die mit Fanatismus und Erwartung aufgeheizte Atmosphäre wie Gift durch seine Poren drang und ihn mehr und mehr erschütterte. Er stand hier einer Erscheinung gegenüber, die alleine durch ihre Machtfülle jede Frage nach ihrem Sinn, ihrem Zweck, ihrer Rechtfertigung zerschmetterte, ja sogar lächerlich machte.

Der Conte stemmte sich dagegen, flüchtete sich in schöne Erinnerungen, memorierte alte Gedichte, die er in seiner Jugend auswendig gelernt hatte.

Es half. Aber es war nicht mehr als der Versuch, mit etwas Stoff ein Leck abzudichten, durch das sich ein Ozean drängen wollte. Lange konnte er nicht mehr standhalten.

Er war sogar froh, als eine Pause eintrat. Kerzen wurden aus den Ständern geholt und gemäß den Anweisungen des Boten auf den Boden gestellt. Mit einer Spitze wurden Zeichen in den Stein geritzt und die hellen Rillen sogleich mit roter Farbe gefüllt.

Schließlich wurde der Conte mitsamt seinem Stuhl aufgehoben und in die Mitte des ent­stehenden Kreises gestellt. Die Träger achteten sorgsam darauf, dass sie von der Seite kamen, die noch nicht mit Kerzen bestückt oder durch Zeichen verschlossen war.

Panpopidis führte am Rand des Kreises einen albernen Tanz auf und schwenkte die gol­dene Nadel.

»Nicht mehr lange, Alterchen, und dann komme ich dich besuchen. Diese Rinne da ist übrigens für dein Blut bestimmt. Wollen doch mal sehen, wie viel davon du in deinem adli­gen Hautsack spazieren trägst!«

***

Der Gedanke Jetzt explodieren sie war nicht mehr möglich.

Er formte sich in Tony Tanners Bewusstsein und wurde im nächsten Augenblick wegge­fegt von dem Donnern der Detonationen.

Mit geschlossenen Augen glaubte Tony die Blitze sehen zu können, mit dem die Handgranaten barsten. Das Krachen war so laut, dass es die Ohren förmlich zuschüttete, sie überfüllte, bis zwischen Stille und Lärm kein Unterschied mehr zu sein schien.

Die Wucht der Explosion raste wie eine Lokomotive durch den Gang, schüttelte an den Wänden, ließ den Boden beben, wie unter dem Schritt eines Riesenmonsters. Der Druck kam wie eine Keule auf die Ohren, zertrümmerte um eine Kleinigkeit die Trommelfelle.

Tonys Deckung wurde von den Einschlägen geschüttelt. Scharfkantige Eisenteile hagel­ten gegen die Wand und ließen sie Steinsplitter spucken, prasselten gegen die Decke und schlugen Kaskaden von Mörtelstaub los.

Die Luft war in einem Moment ein erstickendes Gemisch aus Staub, Sprengstoffdampf, Gestank zerfetzter Gedärme.

Tony lag ohne Deckung auf einer Stufe. Der Boden war von einer feuchten, schmierigen, beißend stinkenden Schicht überzogen. Irgendetwas tropfte von der Decke.

Tony versuchte, die Augen offen zu halten und fragte sich, wann die nächste Attacke kom­men würde.

***

»Domenica?«

Keine Antwort kam auf Littles Frage, nur ein Hauch, ein leise verwehender Seufzer.

»Domenica? Antworte, du bist es doch!«

»Woher weißt du meinen Namen?«

»Ich weiß ihn.«

»Keiner weiß meinen Namen. Man hat ihn getilgt.«

»Wer?«

»Alle. Der Priester. Die Feinde, die dieses Haus eroberten … Ich bin ausgelöscht. Ich bin nicht mehr.«

»Doch, ich kann dich hören.«

»Einbildung.«

»Und einer Einbildung einen Namen geben?«

»Woher weißt du, dass ich Domenica bin?«

»Ich weiß es eben.«

»Antworte! Woher?«, beharrte die Stimme. Ihr Klang war flehend.

»Der Herr dieses Hauses nannte ihn. Er erzählte deine Geschichte.«

»Der Herr dieses Hauses? Wie ist das möglich? Ich bin ausgelöscht.«

»Du bist nicht ausgelöscht. Conte di Saloviva suchte nach deiner Geschichte und erzähl­te sie seinen Gästen.«

»Meine Geschichte …« Ein Seufzer beendete den Satz, so traurig, so voller trostlosem Weh, dass es Little wie ein Eishauch überkam.

»Keiner kennt meine Geschichte, wer immer du auch sein magst.«

»Ich kenne sie, du wurdest als Hexe verbrannt.« »Woher weißt du …?«

»Ich konnte es sehen.«

»Du konntest es sehen?« Zugleich mit dieser erstaunten Frage wurde Little eines sche­menhaften Gesichtes gewahr. Er wusste nicht, wo es war, aber er wusste, dass es da war.

»Warum sollte ich lügen?«, fragte Little.

»Wenn du nicht lügst, dann ist etwas geschehen, das in tausend Ewigkeiten nicht gesche­hen sollte. Hilf mir.«

»Wie?«

»Erkenne den Rest meiner Geschichte.«

»Erzähle ihn.«

»Ich kann es nicht. Andere müssen sie finden, erst dann bin ich frei.«

»Auch ich kann es nicht. Ich sterbe, weil alle Lebenskraft aus mir geflossen ist. Und selbst wenn es anders wäre, würde ich sterben, weil mich Feinde verfolgen und ich in der Falle sitze und sie mich töten werden.«

»Welche Falle?«

»Ich stehe vor einer Mauer und kann nicht weiter fliehen.«

»Ich bin die Falle.«

»Ich verstehe nicht.«

»Ich bin die Mauer.«

***

War es der Dunst der verschwitzten Leiber? War es der Rauch der Kerzen und Fackeln? Oder war es die Ohnmacht, eine Schwäche seines Hirns?

Der Conte di Saloviva wusste es nicht. Sein heimlicher Wunsch war, dass es sich um eine Täuschung handeln möge, um ein Lügengespinst, das sein eigener, dem Irrsinn naher Geist spann.

Die Luft schien sich zu verändern. An manchen Stellen wirkte sie, als ob flirrende Hitze sie glasig machte. Aber es konnte keine Hitzequelle die Ursache sein, denn diese Säulen aus flimmernder Luft wanderten. Sie erschienen, zogen langsam im Kreis, als ob sie den im Boden eingegrabenen Spuren folgen wollten, und blieben dann für eine Weile in ihrer Position.

Der Conte zählte mit. Neun dieser Säulen waren dort und in diesem Moment entstand eine zehnte.

Unter dem Gesang, in den sich jetzt immer öfter schrille Schreie, lallendes fanatisches Kreischen, irrwitziges Stöhnen mischten, bildeten sich die Säulen immer schneller.

Der Conte wusste, wie viele es sein mussten.

Dreizehn. Dann war alles bereit.

***

Alsdann.

Steele sprang auf und rutschte im nächsten Moment auf der ekelhaften Schleimschicht aus, die die Stufen bedeckte. Halb betäubt, wie er war, angeschlagen, wie er war, vermochte er nur eine halbherzige Schutzbewegung zu machen und schlug mit Knie und Ellbogen auf den Stein.

Bevor er sich von dem lähmenden Schmerz erholen konnte, rutschte Steele abwärts.

Er fing sich wieder, als er auf einen Widerstand traf. Mit der Rechten tastete Steele und fühlte den Stoff eines Hosenbeines. Dann schob er seine Linke nach hinten und griff auf eine schleimige Stufe.

Das Gewehr war ihm aus den Händen geglitten. Es lag etwas oberhalb und war außer Reichweite.

Steele musste sich bewegen. Jede Muskelkontraktion fügte dem Schmerz eine weitere Variante hinzu.

Ächzend, mit den Bewegungen eines schlafwandelnden Reptils, kroch Steele aufwärts.

***

Es war ein Rätsel.

Little konnte es nicht sehen, denn ein schwarzer Nebel verhüllte die Szene.

Das ist mein Spiel, dachte Little, ich will keinen Nebel.

Der Nebel lichtete sich etwas, aber dennoch war Little die Sicht versperrt. Er opferte wert­volle Energie, um sich gegen den Nebel zu behaupten.

Inzwischen war ihm deutlich, dass es kein wirklicher Nebel war, sondern ein magischer Nebel, eine Wolke schwarzen Unwissens, in der das Schicksal Domenicas auf ewig verbor­gen bleiben sollte.

Die Vorstellung widerstrebte Little. Nicht nur, weil er plötzlich Ehrgeiz entwickelte, son­dern auch, weil das Gesicht, so schemenhaft es war, von geradezu unwiderstehlichem Liebreiz sein musste. Little konnte nicht sagen, warum er es wusste, aber er wusste es.

Eine mächtige Magie musste diesen Männern zur Verfügung gestanden haben. Eine Ehr­furcht gebietende Kraft, die nicht aus den Quellen dieser Welt stammen konnte.

Mein Spiel, schrie Little. Mein verdammtes Spiel. Er schrie es, lautlos und dennoch mit all jener Kraft, die ihm noch zur Verfügung stand. Seine Reserven schwanden, Little spür­te es und er akzeptierte es.

Ein Triumphgefühl stieg in ihm auf, als er jetzt den Nebel schwinden sah.

Er erkannte zwei Männer: Der eine war der Priester, der am Scheiterhaufen gestanden und die Menge aufgehetzt hatte. Der andere trug einen schwarzen Umhang, unter dem er sein Schwert und seine wertvolle Kleidung verbarg. Ohne Zweifel war er ein Adliger. Und wenn es so war, dann konnte es sich nur um den neuen Herrn des Palastes handeln.

Hallo Arschloch, sagte Little, ich sehe dich.

Der Adlige hob den Kopf mit einem Ruck und lauschte. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer zähnebleckenden Maske. Die Hand zuckte zum Schwert, riss es aus der Scheide. Die scharfe Spitze fuhr suchend durch den Raum und stach plötzlich ins Leere. Die Schneide pfiff schrill durch die Luft, versuchte einen unsichtbaren Lauscher zu treffen. Verbissen schlug der Mann nach einem Schemen, das er mehr ahnte, als erkannt hatte. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen, seine Bewegungen wurden nur noch von blanker Wut gesteuert.

Schließlich war es die Erschöpfung, die ihn wieder beruhigte. Mit einem lauten Fluch, den er zwischen schweren Atemzüge hervorkeuchte, stieß der Mann die Waffe wieder in ihre Scheide, dann trieb er den Priester zur Eile.

Sie hatten die Asche des Scheiterhaufens gesammelt. Sie hatten alle Dämonen beschwo­ren, die sie sich untertan machen konnten. Sie hatten die Asche in den Mörtel gemischt. Sie hatten eine Mauer gebaut.

***

Die Luft kochte. Die dreizehnte Säule hatte sich erhoben, war aus einem Flirren der Luft entstanden und zu einem glasigen Gebilde geworden, das man mit der Hand berühren konn­te. Ein leichter Schimmer ging von ihr aus, manchmal wurde es zu einem grellen Blinken, als wäre ein Sandsturm über ein Feld aus reinem Goldstaub gefahren und hätte glänzende Teilchen mitgerissen.

Wie aus weiter Ferne vernahm Conte di Saloviva ein Gewirr von Stimmen, die über den Anblick dieser Säule jubelten.

Sehen konnte er die Umstehenden kaum noch. Sie verschwanden hinter den Gebilden aus kochender Luft, waren nur noch schemenhafte, undeutliche Farbflächen. Die Flächen tanzten, verschwammen, hüpften, vermischten sich – ein abstraktes Gemälde der Erregung und fana­tischen Hingabe. Dazwischen erschien immer wieder als ruhig wandelnder schwarzer Schatten der Bote.

Ein leises Knistern ertönte. Zuerst schien es dem Conte, dass irgendwo durch einen elek­trischen Kurzschluss die Funken sprühten.

Aber hier gab es keine elektrischen Leitungen. Das Knistern kam von den dreizehn Säulen, die sich mehr und mehr materialisierten, sich endgültig zu Glas verfestigten. Ihre Drehung wurde langsamer. Zugleich wurde das Knistern lauter, entwickelte sich zu dem Prasseln, den ein Funkensturm mit sich bringen würde.

Der Lärm überdeckte jedes andere Geräusch. Conte di Saloviva war eingekerkert in die­ses Chaos, gebannt zwischen diesem Lärm und den zu Materie gerinnenden Säulen.

Und es war nicht einfach nur laut. Die Geräusche stachen ihn wie Spitzen, jedes Knistern war ein Funke, der auf seiner Haut kleben blieb und im Verglühen zubiss.

Eine Stimme übertönte das Getöse.

»Salz auf dieses Feld, Gift in diesen Brunnen …« schrie der Bote. »Nacht auf diesen Tag … Zuunterst zuoberst und zuoberst zuunterst … das Dach in die Tiefe, den Boden zur Höh’ … Wirrnis und Irrnis auf diesen Ort!«

Während diese tiefe Stimme ertönte und den Raum mit ihren Schwingungen erfüllte, ver­änderten sich die Säulen aufs Neue. Ein feiner senkrechter Faden lief durch ihre Mitte, dem Kern eines Wasserwirbels ähnlich. Zuerst unbewegt begann der Faden zu tänzeln, verdickte sich, beulte sich aus, suchte Form, verlor sie und wurde wieder dünner. Wie suchend, unsi­cher, wo sie hingehörten, stiegen Blasen den Faden auf und ab, setzten sich fest, wölbten sich, zogen andere Blasen an, wuchsen.

Die Umrisse gewaltiger Gestalten schälten sich langsam heraus. In der dreizehnten Säule entstand ein monströses Etwas, von dem der Conte nur zwei riesenhaften Hörner erkennen konnte, die wie ein waagerechter Balken auf einem Schädel saßen.

Zwischen den Säulen tauchte Panpopidis auf. Kichernd legte er einen Finger auf die Spitze der goldenen Nadel.

»So ein Ärger, was?«, höhnte er. »So viel Arbeit, so viele Tricks, soviel Reinheitsgesülze und Wahrheitsgesums und Erkenntnisbrimborium, um Collesalvetti zu einem besonderen Ort zu machen. Und jetzt ist es Colle-am-Arsch, ein Ort, wo sich die Würmer und die Skorpione Gute Nacht sagen. Herr Conte, verzeihen mir die kleine poetische Freiheit. Aber wozu solche Höflichkeit? Schließlich sind Sie ja auch der Conte-am-Arsch. Und damit keine Zweifel kom­men, fangen wir jetzt gleich mit dem Vergnügen an!«

Sie hatten eine Mauer gebaut.

Ein Mauer und zugleich ein Gefängnis, ein Gebilde aus Stein und zugleich ein ewiges Flüstern bannender Beschwörung. Ein Kerker für die Seele von Maddalena Malaparte.

Die Lösung des Rätsels. Little bedachte sie voller Unverständnis, als läge ein Gegenstand auf seiner Handfläche, den er sehen, aber nicht völlig begreifen könne.

»Du bist die Mauer«, stammelte er.

»Ja«, hauchte die Mädchenstimme.

»So etwas kann nicht sein.«

»Kann es sein, dass eine Schwester den Bruder liebt und begehrt? Kann es sein, dass ein Bruder die Schwester begehrt mit jeder Faser seiner Seele und seines Körpers? Kann es sein, dass der Fluch, der auf mir lastet, von mir genommen wird? Kann es sein, dass ein Mensch kommt, zu rechter Stunde am rechten Ort mit dem rechten Mittel, um zu erkennen? Befreie mich.«

»Wie?«

»Bringe die Mauer zum Einsturz.«

»Ich bin zu schwach. Sie ist fest wie ein Fels. Wir haben es versucht.«

»Jetzt hast du meine Geschichte erkannt, jetzt wird es gehen.«

»Aber ich bin immer noch zu schwach.«

»Dann gib den Befehl.«

»Befehlen soll ich?«

»Ja, gib den Befehl, so wird die Kette nicht durchbrochen. Dann ist die Mauer kein Hindernis mehr.«

»Ich kann fliehen?«

»Ja, du kannst es. Aber sei schnell, denn meine Feinde haben eine Falle gestellt. Einen

Steinblock, der auf dich stürzen wird, wenn du nicht schnell bist. Ich kann ihn zurückhalten, aber nur für wenige Atemzüge. Dann wird er fallen.«

»Und du?«

»Ich werde frei sein. Frei von der Schuld, die in jedem Stein der Mauer auf mir lastet. Wirst du es tun? Darf ich frei sein?«

»Ja«, sagte Little. Er schaute voller Erstaunen auf das Gesicht, das plötzlich vor ihm erschien. Es hatte eine Schönheit, die ihn zugleich in die Höhen jubelnden Triumphes und in die Tiefen der Verzweiflung stürzte. Auf seiner Wange spürte er einen Hauch – kühl und doch so, dass es ihn heiß überlief.

»Sagen Sie doch endlich was«, kam die drängende Stimme von Dorkas in sein Bewusstsein. Schwärze umfing ihn. Little war wieder zurück. Seine schwachen Arme konn­ten die Stäbe kaum noch halten. Mit Mühe steckte er sie in die Jackentaschen zurück. Danach musste er sich erst erholen, bis er ein Wort über die Lippen brachte.

»Werfen Sie die Mauer um«, flüsterte er Dorkas zu.

Sein Befehl wurde nicht verstanden. Er ging in dem Krachen von Explosionen unter.

***

Die Berührung mit dem harten Metall war wie ein Schalter, der in Steele eine Kette von gespeicherten Reaktionen abrief. Seine schwieligen Hände umschlossen die Waffe. Das Gewicht des Gewehrs machte Steele zu schaffen, zugleich gab es ihm Sicherheit. Es war die völlig archaische und irrationale Empfindung eines Urmenschen, der eine möglichst schwere Keule in der Faust halten will.

Wie eine Marionette an den Fäden seiner antrainierten Programmierung stolperte Steele die Treppe hinauf. Unter diesem Schutz fiel ihm nun auch das Denken wieder leichter.

Von oben fiel Licht durch den Eingang. Die Lampen, die Steele nicht zertrümmert hatte, waren durch die Explosionen in tausend Splitter zerlegt worden. Für Steele war diese Konstellation von Vorteil. Er konnte seine Gegner gegen das Licht gut erkennen. Sie hinge­gen schauten in eine dämmrige Röhre, in der ihre Nachtsichtgeräte noch nicht richtig arbeite­ten, das menschliche Auge aber schon überfordert war.

Mit dem Rücken zur Wand schob sich Steele vorwärts. Er setzte alles auf eine Karte. Wenn von oben wieder Handgranaten flogen, war er ohne Schutz.

Aber seine Rechnung ging auf. Sie hatten keine Granaten mehr, vielleicht wollten sie ihre Vorräte an dieser Munition noch nicht völlig aufbrauchen.

Steele erstarrte, als sich das einfallende Licht verdunkelte. Zwei Männer standen oben auf der ersten Treppenstufe. Sie verhielten dort für eine Weile, dann begannen sie, vorsichtig und nach allen Seiten sichernd die Stufen herabzusteigen.

Nach etwa zehn Schritten blieben sie wieder stehen. Steele vernahm das leise Murmeln, mit dem sie in ihre Kehlkopfmikrofone sprachen. Zwei weitere Söldner tauchten am Kopf der Treppe auf und machten sich auf den Weg in die Tiefe. Ihr Abstand zu den Vorhergehenden blieb gleich groß.

Steele lauerte auf ein Zeichen der Lässigkeit oder Unaufmerksamkeit bei seinen Gegnern. Er wünschte sich einige Sekunden, in denen er zwischen ihre Unachtsamkeit und ihre Abwehrreaktion schlüpfen konnte, um den selbst gestellten Auftrag zu erledigen.

Er hoffte vergeblich. Sie gaben sich keine Blöße. Das Gewehr im Anschlag, den Finger am Abzug, den Kopf leicht geneigt, um das Visier im Blick zu haben, stiegen sie auf ihn zu.

Millimeterweise näherte sich Steeles Finger dem Druckpunkt des Abzugs. Jeder Schritt, den sie in seine Richtung machten, erhöhte das Risiko und zugleich die Erfolgschance. Steele musste abwägen. Er krümmte den Finger ein wenig mehr und wartete.

Dann wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Mit einem lauten Fluch schwenkte einer der Söldner seine Waffe ein Stück nach unten.

Steele bemerkte die plötzliche Bewegung, die aus der geschmeidigen Ruhe ihres Vormarsches herausstach. Ihm blieb gerade noch Zeit, den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen, dann schmetterten die Kugeln über ihm schon gegen die Wand und rissen Steinsplitter los. Querschläger jaulten an Steeles Ohr vorbei, die vielzackigen Splitter rieselten in sein Haar. Er zog durch.

Ihm blieben zehn Salven zu je drei Schuss, dann konnte er das Gewehr nur noch als Knüppel verwenden. Die ersten Schüsse brachen los, der Rückschlag traf Steeles Schulter. Über den Mündungsblitz sah er das Funkeln, als die Kugeln auf der anderen Seite gegen die Wand droschen.

Steele korrigierte und traf den ersten Schützen. Er hatte nicht auf die Schutzweste gezielt, sondern auf einen Punkt zwischen Helmrand und Westenkragen. Der Kopf des Mannes wurde nach hinten gerissen, der Körper folgte, prallte auf die Stufe und rutschte seitwärts ein Stück in die Tiefe.

Zwischen dem scharfen Knallen der Abschüsse war das dumpfe Geräusch dieses Aufpralls hörbar.

Mit zwei Sprüngen war Steele auf der anderen Seite des Ganges und warf sich gegen die Wand. Er feuerte seine nächsten Kurzsalven ab. Die Söldner antworteten mit ungezieltem Feuer, gingen dann in die Knie.

Ein heißes Triumphgefühl brandete in Steele auf. Aber er täuschte sich tödlich. Sie hatten begriffen, dass sie gegen den hellen Hintergrund wie Schießscheiben wirken mussten und ver­steckten sich.

Im Knien begannen sie zu feuern. Steele konnte kaum mehr erkennen als die Mündungsblitze, die aus dem Dunkel stachen. Die langen Salven der Söldner kamen näher. Er schob sich zwei Stufen tiefer und riss erneut das Gewehr an die Schulter. Die Einschläge ratterten an der Wand entlang auf ihn zu. Staubfontänen schimmerten gräulich im Zwielicht.

Obwohl Steele nicht mitgezählt hatte, wusste er instinktiv, dass ihm nur noch wenige Patronen geblieben waren.

Er setzte alles auf eine Karte. Mit einer Drehung rollte er sich in die Mitte des Ganges, ignorierte jeden Schmerz, der ihn fesseln wollte, und stolperte los, das Gewehr im Anschlag.

Er war sicherlich nicht besonders schnell. Was die Söldner überraschte, war die selbstmör­derische Rücksichtslosigkeit dieser Attacke. Sie konnten mit trainierten Gegnern umgehen, die bei aller Verbissenheit dennoch dem eigenen Leben einen Wert beimaßen. Sie konnten ebenso mit Gegnern umgehen, die sich selbst als Waffe betrachteten und nur das eine Ziel hat­ten zu zerstören, auch wenn es das eigene Leben kostete. Aber diese Leute ersetzten Erfahrung durch Fanatismus und Können durch Wut.

Was sich jetzt jedoch von den Stufen erhob, aus dem Dunkel des Ganges auf sie zukam, vereinte beides – perfekte Beherrschung des Waffenhandwerks und völlige Missachtung des eigenen Existenzrechtes.

 

Für Sekundenbruchteile kam Steele die Absurdität der Situation zu Bewusstsein. Wäre es hell gewesen, hätte er die Gesichter seiner Feinde erkennen können. Sie waren nicht so nah, wie es bei einem Schwertkampf oder einer simplen Prügelei der Fall gewesen wäre. Aber sie waren auch nicht so weit entfernt, wie es bei Schießereien üblich war. Es war ein Abstand, der irgendwo dazwischen lag, ebenso schwer zu fassen und auf quälende Weise von aller Realität entfernt wie das alles hier.

Steele knipste diesen Gedanken mit Entschiedenheit aus und nutzte die Schmerzen in sei­nen Gliedern als Ablenkung. Zum ersten Mal schaltete er das Laserzielgerät ein. Der rote Lichtpunkt zitterte über der Brust eines Söldners, stabilisierte sich, wurde für Sekunden zu einer Besitzmarke des Verderbens. Steele jagte den Rest seiner Munition diesem Lichtpunkt hinterher.

Auf die kurze Distanz und angesichts der fast identischen Auftreffpunkte hatte die Weste keine Funktion mehr. Der Mann wurde umgerissen, seine Knie versagten und er brach zusam­men.

Für einen Moment war sich Steele unschlüssig, ob er sich zu dem ersten erledigten Gegner springen sollte, um an dessen Waffe zu kommen. Sein Instinkt trieb ihn dazu, wollte ihn wei­terreißen, hin zu einer neuen Waffe, zu einem weiteren Kampf.

Aber eine andere Stimme in seinem Inneren sagte ihm, dass er keine Chance haben würde. Die Söldner würden ihm nicht die Zeit lassen, die Waffe an sich zu bringen, die vielleicht – er konnte es nicht genau erkennen – unter dem Körper des Gegners verborgen lag oder mit einem Schulterriemen gesichert war, den er erst einmal lösen müsste. Das Fazit dessen, was diese innere Stimme sagte, war ein Rückzug Steeles. Steele versuchte, sein Leben zu erhalten, so sinnlos es auch war.

Sinn hätte es gemacht, sich von den Söldnern erschießen zu lassen, nachdem er eine mög­lichst große Zahl von ihnen erledigt hatte. Sich zurückzuziehen war dagegen völlig irrational.

***

Die Gestalten in den Säulen gewannen mehr und mehr an Festigkeit. Wie in einem Alptraum, dessen Bilder sich von huschenden Schemen zu Seelen erschütternder Realität ent­wickeln, wurden sie zu scheußlicher Wirklichkeit. Der Conte di Saloviva konnte sie nicht leugnen. Er konnte nichts auf seinen Zustand schieben, sich nicht mit Schmerzen, Schwäche, beginnender Ohnmacht herausreden.

Er sah sie. Sie waren da. Sie entwickelten sich vor seinen Augen. Sie entstanden in den Kokons aus wirbelnder, glasiger Luft. Boshaft und herrschsüchtig, schon bevor sie den Fuß aus ihrer Brutstätte setzten, drängten sie sich dem Conte auf, schienen ihn zu verspotten, ihn alleine durch ihr Dasein zu verhöhnen.

Boshaft glimmende Augen wandten sich hinter den wirbelnden Schleiern auf den Mann, der reglos in der Mitte des Kreises saß. Funkelnd wie die gierigen Augen nächtlicher Hyänen genossen sie ihre Beute schon, bevor sie endgültig in ihren Klauen war.

Der Conte di Saloviva spürte, wie sich unter ihm ein eisiger Schacht zu öffnen schien. Schon oft in seinem Leben hatte er in die Fratze des Bösen blicken müssen. Schon oft hatte er diesen kalten Hauch der Verderbnis gespürt, der die menschliche Seele im Angesicht des unsagbar Bösen berührt und sie schwächt, indem sie Bitternis sät und Zweifel, ob außer der Boshaftigkeit überhaupt noch eine andere Kraft im Universum existieren kann.

Solche Momente des Zweifels waren dem Conte nicht unbekannt. Im Nachhinein konnte er sie als Stufen erkennen, als mühsame Schritte hinauf auf einen Berg, an dessen Gipfel sich vielleicht ein Blick auf die Erkenntnis öffnen mochte. Und dennoch, so sehr Conte Hercule di Saloviva im Verlauf seines langen Lebens sich der Mühen der Erkenntnis, der Meditation und der strengen Selbstprüfung unterzogen hatte, wurde er dennoch niemals von der Empfindung frei, dass er sich wie ein hungriger Geier der Weisheit vom Aas dieser scheußlichen Welt nähr­te. Manchmal sah er förmlich das Bild aneinander gedrängter befiederter Rücken, die sich um einen Leichnam scharten und mit den Schnäbeln pickten, zogen, zerrten und dann mit glän­zenden Augen ein Ich habe verstanden signalisierten.

 

Nein, der Conte verstand in diesem Moment, dass er nichts verstanden hatte. Er hatte sich immer nur selbst belogen. Er hatte Erkenntnis als Überlebenstaktik entwickelt. Purer Egoismus in der Tarnung des hohen Bestrebens. Panpopidis war ehrlicher. Ihm war alles egal, außer seiner kurzen körperlichen Lust und er machte sich nicht die Mühe, sich selbst ein heh­res Ziel darüberzulügen. Panpopidis brauchte den Moment, in dem der Samen aus ihm herausschoss, in dem er mit zuckendem Glied in die Tiefe der Wollust taumelte, so wie Luzifer in einem letzten Triumph aus dem Himmel gestürzt sein mochte, nur um sich vier Herzschläge später in der kalten Hölle der Ernüchterung und des Vorbei wiederzufinden.

Panpopidis war ehrlicher …

Es gab ein Bild, das dem Conte sich mehr als einem halben Jahrhundert nicht mehr aus dem Sinn ging. Eine Kinderleiche, er wusste nicht einmal mehr, ob der lockige, runde, paus­bäckige Kopf einem Jungen oder einem Mädchen gehörte. Vielleicht vier oder fünf Jahre alt, geboren als der Krieg, dessen namenloses Opfer es werden sollte, noch nicht entfacht war. Abgerissen gekleidet, weil die Menschen schon lange auf der Flucht waren, lag der kleine leb­lose Körper abseits der Straße und schaute mit starren Augen in einen abgewandten Himmel. Der Staub, den die Fahrzeuge aufgewirbelt hatten, lag wie ein grauer Schleier über der Leiche.

Was hätte er damals tun können? Er hatte nicht einmal das Werkzeug, um dem toten Kind ein Grab zu schaufeln. So blieb er eine Weile neben der Leiche hocken und schwor sich, nie­mals dieses Bild zu vergessen. Wenn seine Erinnerung schwinden würde, dann wäre auch das Kind endgültig verloren. Nur er konnte es bewahren, ihm eine letzte Ruhestätte bieten. Während er alleine dort hockte, hörte der Conte von ferne den Lärm des Krieges. Flugzeuge jaulten vorbei, es gab knallende Abschüsse und dumpfe Einschläge und dunkles Brummen von Panzermotoren. All das fand statt, während der Conte di Saloviva neben der Leiche eines Kindes hockte und weinte und in sich einen unermesslichen Hass verspürte auf alle, die so etwas möglich machten – auf alle, die die Welt einmal mehr vor dem Bolschewismus, dem Kapitalismus, der jüdischen Plutokratie, der Barbarei, der Versklavung retten wollten, auf alle Führer, Duci, Präsidenten, Generäle dieser Welt, auf diese eitlen, schwafelnden, Zigarren rau­chenden, halb verdorrten, halb irren Narren, die von den brackigen Wässern der Zeitläufe hochgespült worden waren und nun meinten, sie säßen ganz oben, weil es so sein müsste, auf alle die Wir müssen es tun und Wir dürfen es nicht tun, auf alle diese Opportunisten und Laienschauspieler der Macht und vor allem auf alle die bereitwilligen Toren, die ihren Wegweisern hinterherstolpern, auf die Millionen Nullen, die die Zahl bildeten.

So wie Hercule di Saloviva einer gewesen war. Zugleich Opfer und Täter, Getriebener und Antreiber.

Als sich der Conte di Saloviva, von Weinkrämpfen erschüttert, damals erhoben hatte, schwor er sich und diesem toten Kind, den Kreis zu durchbrechen. Er wollte verstehen. Er wollte alles in die Waagschale werfen, um dem Tod des fremden Kindes einen Sinn zu geben, in dem er sich selbst zu einem Werkzeug des Guten machte.

 

Welche Eitelkeit! Welcher Mangel an Demut, welche Selbstüberhebung, welche Selbstverliebtheit unter dem Schutz ethischer Gemeinplätze, welche moralische Koketterie!

Wie abscheulich er doch war und wie hohl. Jahrzehnte um Jahrzehnte, die in diesen Moment mündeten, in dem ihm klar wurde, dass er nicht der Gute gewesen war. Er war der Eitle gewesen. Er war der gewesen, der das Glück hatte, seine Jahre in einer stillen Ecke des Jahrhunderts leben zu dürfen. Keiner war zu ihm gekommen und hatte ihm einen gelben Stern angeheftet oder ihm erklärt, dass er verschwinden müsse, weil in den Schriften stehe, dass das Land, auf dem er seit Jahrhunderten wohnte, anderen gehöre, die dort vor Jahrtausenden ein­mal gelebt hatten, nachdem sie andere vertrieben hatten, die vor ihnen dort gelebt hatten, weil es ein Gott ihnen so befohlen hatte oder keiner erklärte ihn, dass er nun in einer befreiten Zone wohne, keiner fragte ihn nach seiner Meinung, keiner wollte etwas über die politische Haltung seiner Eltern wissen, keiner taxierte ihn nach Klassenzugehörigkeit, nach seiner Haltung zu der großen Revolution des Volkes, keiner fragte ihn danach, ob er Hutu oder Tutsi sei … keiner … keiner …

Nur eine Bande von korrupten Politikern und eine Menge Atomraketen hatten ihn davor bewahrt in eine der zahllosen Opferlisten Eintrag zu finden. Es war ein Zufall. Nichts, auf das er stolz sein konnte. Die Kriege wurden anderwärts abgefeiert und der Conte di Saloviva ver­gnügte sich damit, zu den Guten zu gehören, mit der naiven Selbstverständlichkeit, die ansonsten nur US-Fernsehserien zu eigen war.

Selbst seine Kasteiungen waren eitel. Nichts an ihm hatte Bestand. Eine Null.

Ein Hauch über einer grundlosen Tiefe.

Hier war die Macht. Hier war das, was der Conte böse nennen würde. Es drängte in die Welt, endgültig die Herrschaft zu übernehmen. Es verkörperte sich, es regte sich, es streckte die Glieder aus seinen Kokons, es leckte sich die Lippen im Angesicht seiner Qualen. Es war Böse, aber es würde bald herrschen und dann würde es die Maßstäbe neu festlegen. Das Böse würde das Gute sein. Weil es herrschte. Weil es die Macht hatte. Weil es die Menschen beein­flusste. So wie es immer war. Aber jetzt, am Ende der Zeiten, zeigte sich die ganze Wahrheit dieser Umwälzung. Der Schleier hob sich. Die Apokalypse war da …

 

Tränen rannen über das Gesicht des Conte di Saloviva. Panpopidis war ehrlich, er ist bes­ser als ich, dachte der Conte. Wenn er mir Schmerzen zufügt, dann ist das richtig so. Ich habe es verdient. Es ist die gerechte Strafe für einen eitlen Dummkopf, der nichts verstanden hat. Ich bin nicht besser, als alle die, die auf ein totes Kind schauen und sagen Hoppla, war anders geplant, tut mir Leid, ließ sich aber nicht verhindern, Kollateralschaden, Sie verstehen, old Boy. Auch ich hatte meinen großen Plan …

Die Tränen, die heiße Spuren über seine zerschundenen Wangen zogen, erinnerten den Conte an die Tränen, die er damals vergoss. Kann das Böse weinen? Haben diese Gestalten, die sich jetzt dort im Glanz ihrer Macht recken, Tränen?

Trägt das Gute nicht die goldverzierten Zeremoniengewänder moralisierenden Geschwätzes von aufgeblasenen Gutmenschen und birgt sich stattdessen in einer Träne, die um ein Kind vergossen wird?

Sollte es diese Träne sein, die den Conte Hercule di Saloviva davor bewahrte, in den eisi­gen Schlund zu stürzen, der unter ihm gähnte? Hatte Luzifer geweint, als er verstoßen wurde? Oder hatte er begonnen, das Buch der wahren Werte zu verfassen …

***

Lucille Chaudieu kauerte in einer Ecke, presste sich gegen die Wand und hielt die Arme über den Kopf. Sie wirkte wie ein verstörtes Kind. Keiner konnte es sehen, aber ihr Schluchzen war zu hören und deutlicher als jede Foto.

»Werfen Sie die Mauer um«, flüsterte Little. Durch das Echo der Abschüsse war seine Stimme kaum zu hören.

»Sind Sie verrückt?«, keuchte Dorkas. »Wir haben es doch versucht, diese Mauer kann man bestenfalls wegsprengen!«

»Schieben Sie die verdammte Mauer weg, Sie starrköpfiger Trottel«, fauchte Little und wurde sofort nach dieser Anstrengung von einem Hustenanfall geschüttelt, der ihn in die Knie zwang.

Über ihnen krachten die Schüsse salvenweise. Sie konnten sich nur ausmalen, was dort oben geschah und darum wuchsen aus dieser Unkenntnis die fürchterlichsten Ängste.

Ein Lichtstrahl wurde sichtbar, taumelte wie ein suchender Finger über Wände und Decke. Waren das schon die Feinde?

Dorkas blickte sich zu dem Schimmer um und stöhnte auf. Schutz suchend drängte er sich gegen die Wand. Er stockte. Tastete. Unter seinen schweißigen Fingern schien sich ein Stein zu bewegen.

Das konnte nicht sein! Das war das Ende. Der Wahnsinn!

Dorkas fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, dass es schmatzte. Der fette Ton ging im Hustenanfall Littles unter. Vorsichtig drückte Dorkas mit den Fingerspitzen gegen die raue Oberflächen eines Steins. Nichts.

Aber eben, da hatte doch … da war er sich sicher gewesen …

Er drückte noch einmal, fester diesmal.

Es gab ein schabendes Geräusch. Also, blitzte es Dorkas durch den Kopf, sind derartige akustische Effekte nicht alleine durch das Aufbringen menschlicher Fingerspitzen auf Gesteinsflächen erklärbar, sondern entstehen durch die physikalische Reibung von Flächen aneinander.

»Los runter«, hörten sie die Stimme Steeles. »Schnell, Granaten!«

Der Lichtstrahl begann wild zu schwanken. Zugleich hörte man das Getrappel von Füßen.

Als Erster erschien Tony Tanner. Er bewegte sich wie schlecht geschmierte mechanische Puppe.

Ein dumpfer Abschuss ließ die Luft vibrieren. Es folgt eine berstende Explosion, die den Gang erschütterte.

Ein Körper rollte die Stufen herunter, traf Tony Tanner und riss ihn von den Beinen. Gemeinsam rutschten sie weiter in die Tiefe.

Dorkas merkte, dass er nur noch eine Handbreit von völliger Hysterie entfernt war. Er trat zwei Schritte zurück und warf sich dann mit einem unterdrückten Schrei auf die Mauer. Der Aufprall war hart, aber bei Weitem nicht so hart, wie er vermutet hatte.

 

Das Schaben verstärkte sich, es knirschte und knackte.

»Zurück«, rief Dorkas.

Er konnte im Laternenlicht neben sich den Schatten Littles erkennen. Seine Finger griffen zu und zogen den Amerikaner nach hinten. Da sich Little nicht richtig bewegen konnte, kam Dorkas ins Stolpern und fiel auf den Rücken.

Der angstvolle Schrei Lucilles ging in der nächsten Granatexplosion unter. Tony hatte sie in ihrer Ecke entdeckt und riss sie von der bröckelnden Mauer weg.

Jetzt folgte eine Explosion nach der anderen. Jede war näher als die vorige. Der Luftdruck peitschte sie, der Lärm betäubte ihre Ohren.

Plötzlich standen sie in einer Staubwolke, der Strahl der Taschenlampe wurde zu einem milchigen Schein, der nicht weit reichte, alles um sie herum war hellgrau, der Staub legte sich auf die Zunge, brannte in der Kehle, verstopfte die Nase.

Es waren nur wenige Momente, dann blitzte eine Explosion und fegte den Staub zur Seite.

Vor ihnen lag ein Haufen Steine. Dahinter öffnete sich ein breiter Gang.

»Los doch«, Tony Tanner stieß Lucille energisch von sich. »Nimm die Lampe, ich muss Steele helfen.«

Lucille griff nach der Lampe und stolperte über die Steine. Dorkas bekam Little zu packen und schwankte hinter der Französin her.

»Falle«, flüsterte Little.

»Keine Falle«, betätigte sich Dorkas. »Das ist ein Ausweg. Stellen Sie sich doch nicht wie­der so unmännlich an.«

»Falle«, wiederholte Little. Sie waren inzwischen auf der anderen Seite des Steinhaufens und so konnte sich Dorkas zu Little herunterbeugen und sein Ohr an die trockenen, staubbe­deckten Lippen des Amerikaners legen.

»Es ist … es gibt eine Falle, ein Steinblock wird fallen … einige Atemzüge, dann müs­sen wir im Gang sein …«

»Schnell«, röhrte Dorkas los. »Die Decke bricht gleich ein.«

Die Warnung war an Tony Tanner gerichtet. Tony hatte von hinten beide Arme um Steeles Brust gelegt und zog ihn mühsam vorwärts.

Steele hatte sich nicht rechtzeitig zurückgezogen. Er hatte den Söldner oben am Gang gesehen und das Rohr unterhalb des Gewehrlaufes bemerkt und die typische Handbewegung, mit der eine Granate geladen wurde. Ihm blieb noch Zeit, um Tony Tanner zu warnen und sich wie ein Wasserspringer abwärts zu werfen. Dann krachte es über ihm, er glaubte, deutlich den fahlen rotgoldenen Blitz der Explosion zu sehen. Steele wurde von den Beinen gerissen, ver­lor die Kontrolle und konnte nur noch eines tun, seinem Sturz weiterhin die Richtung zum Ende des Ganges zu geben.

Halb betäubt stürzte er in die Tiefe, stieß gegen ein Hindernis, hörte ein lautes Stöhnen und blieb liegen, unfähig sich aus dieser Lähmung zu befreien.

»Keine Panik, alles unter Kontrolle«, hörte er plötzlich Tony Tanners gepresste Stimme neben seinem Ohr. »Wir schaffen das schon.«

Herrgott noch mal! Diese elenden Männerfloskeln, dieses Herumgeschwafel, das nichts anderes war als das männliche Äquivalent zum weiblichen Heulanfall. Es machte Steele der­art wütend, dass die Wut wie ein Aufputschmittel wirkte. Er konnte sich zwar noch nicht auf­richten, aber er konnte mit den Beinen treten, sich nach hinten schieben und seinen Helfer unterstützen.

»Schnell, die Decke, die Decke …« hörte Tony die sich überschlagende Stimme von Dorkas.

Sorg lieber dafür, dass diese blöde Kuh die Scheißtaschenlampe endlich mal richtig hält, fuhr es Tony durch den Kopf.

 

Natürlich schaffte es Lucille nicht, die Taschenlampe richtig zu halten. Warum konnten diese Bewahrerinnen des Lebens, die schon im zarten Alter von drei Jahren die Stadt nach jeder räudigen Katze absuchten, um das Viech aufzupäppeln, warum konnten diese Wesen mit den tollen Beinen eigentlich ihr soziales Engagement nicht so weit ausweiten, dass sie einem Kerl den richtigen Schraubenschlüssel angeben oder ihm einen Lichtstrahl nicht direkt ins Gesicht sondern vor die Füße, wo er hingehörte, legen konnten? Es musste irgendein göttli­cher Ratschluss sein, Tony war sich da sicher. Immerhin half ihm diese Überlegung, alles andere zu vergessen. Er vergaß den Fuß, den er sich schmerzhaft verdrehte, als er von einem Stein abglitt, er vergaß den strampelnden Steele, der mit Blei ausgegossen zu sein schien, dem Gewicht nach zu urteilen.

Selbst das Knacken über sich konnte Tony Tanner in diesem Moment vergessen. Kleine Staubfäden rieselten von der Decke.

Das Licht verschwand. Lucille, du blöde Kuh, was soll das? Im nächsten Augenblick war Lucille neben ihm und zerrte Steele weiter und auf der anderen Seite schnaufte Dorkas und begann Steele zu erwürgen, indem er dessen Gewand packte und zog.

Ein Knacken, das sich wie eine Kaskade von Lärm steigerte.

Ein riesiger Quader stürzte aus der Decke und krachte zu Boden. Steele konnte die Beine einziehen. Als ihn seine Helfer jetzt erschöpft losließen, stießen Steeles Knie gegen den Quader.

»Das ist meine Definition von knapp«, keuchte Tony Tanner.

»Ich nenne so was optimalen Erfolg bei minimalem Einsatz«, brachte Steele heraus. Er lag auf dem Boden und zwängte eine Hand zwischen Kragen und Hals, um wieder Luft zu bekommen.

Ganz von ferne war eine Reihe von Explosionen hörbar.

»Dieser Quader hat auch seine Vorteile«, stellte Tony fest. Das war ungefähr eine Sekunde, bevor ihn die Vorstellung überfiel, von diesem Gewicht zerquetscht worden zu sein. Viel hatte ja nicht gefehlt. Ihm wurde etwas schwindlig.

 

Alle vier spürten den kühlen Hauch, der plötzlich durch den Gang wehte. Und jeder glaub­te auch, etwas zu hören – einen Hauch, etwas wie ein tiefes Aufatmen, vielleicht auch ein ver­wehender Gruß.

»Was war das?«, fragte Dorkas.

»Keine Ahnung«, bekannte Tony.

»Ich weiß es«, flüsterte Little. »Ich werde es Ihnen bei Gelegenheit sagen.« Das Sprechen fiel ihm unendlich schwer. Er fragte sich, ob auch die anderen diese Berührung verspürt hat­ten, etwas wie einen hingehauchten Kuss auf der Wange, der unendlich süß war und Little völ­lig verwirrte.

»Jetzt wäre eine Gelegenheit«, antwortete Dorkas. »Wir haben bestimmt viel Zeit. Bis wir verdurstet oder verhungert sind.«

»Unfug«, protestierte Tony. »Wir suchen einen Ausgang und dann sehen wir weiter.«

»Es gibt keinen Ausgang.«

»Natürlich gibt es einen Ausgang. Solche Gänge haben immer einen Ausgang. Es sind Fluchtwege. Fluchtwege sind Wege, die einen Eingang haben und einen Ausgang, der irgend­wo versteckt liegt.«

Tony fand, dass er ein wenig wie ein übermäßig enthusiastischer Gebrauchtwagenverkäufer klang. Diese Miesmacherei von Dorkas ging ihm auf den Geist und zwang ihn dazu, sich selbst überzeugen zu wollen.

»Das ist kein Fluchtweg. Das ist ein Grab«, beharrte Dorkas und bekam den schwingen­den dumpfen Unterton, den Tony aus Horrorfilmen mit Boris Karloff nur zu gut kannte. »Es ist wie in Ägypten. Der Torstein versperrt den Ausgang, nicht einmal eine Seele würde noch aus dieser Falle entkommen.«

»Wir sind nicht in Ägypten«, mischte sich Steele ein. Er hatte sich während des Gespräches von Tony und Dorkas auf den Bauch gewälzt und war hochgekommen, mühsam aber verbissen wie ein angeschlagener Boxer, der bis Acht auf die Beine kommen muss.

»Die Renaissance hatte durchaus Kenntnisse der ägyptischen Kultur und ihrer speziellen Grabarchitektur, wenn auch nicht durch direkte Inaugenscheinnahme, so doch durch die gro­ßen Schreiber der Antike und durch arabische Reisebeschreibungen, die …«

»Quatsch«, Steele schnitt Dorkas mit diesem Wort und einer Handbewegung den Satz ab.

»Dieser Gang stammt aus dem Mittelalter, er ist also höchstens umgebaut worden, aber nicht neu erschaffen. Also hat er einen Ausgang oder mehrere. Die sind vielleicht verschüttet, aber wir können ja graben.«

»Das kann Wochen dauern, bis dahin sind wir ja verhungert«, muckte Dorkas aufs Neue auf.

»Die Überlebenden werden eben die Leichen der Toten essen. Und Wasser finden wir hier allemal, gehen wir!«, beendete Steele die Unterhaltung.

Was er gehen nannte, war zwar nur ein mühsames Humpeln, mit der einen Hand an der Wand entlang. Aber es riss die Gruppe aus ihrer Lethargie.

 

Tony nahm wieder die Lampe an sich und folgte. Lucille drängte sich an ihn, es folgten Dorkas, der Little stützte.

So merkte keiner, dass Dorkas zwischendurch mit einem Ausdruck von stiller Bewunderung seinen Bizeps betastete.

Der Gang war niedrig, jedoch recht breit, sodass es keine Schwierigkeiten bereitete, nebeneinander zu gehen. Die Luft war dumpf und erweckte kaum die Hoffnung, dass hier jemals von außen ein frischer Luftzug hereingefahren war.

Sie kamen zu einem Abzweig, wählten nach kurzer Beratung den Seitengang – für diese Richtung hatte sich besonders Steele ausgesprochen – und standen nach kurzer Zeit vor einem Felshaufen, der den Gang versperrte.

»Leuchten Sie mal nach oben«, befahl Steele, zu Tony Tanner gewandt. Im Licht der Lampe betrachteten sie die Decke. Sie war aus dem blanken Fels geschlagen und zeigte direkt über ihnen tiefe Risse, aus denen Wasser tropfte.

»Eingestürzt«, urteilte Steele. »Da hat keiner nachgeholfen. Jedenfalls bin ich mir ziem­lich sicher. Der Fels scheint hier ziemlich brüchig zu sein.«

Dorkas warf einen misstrauischen Blick nach oben und trat den sofortigen Rückzug an.

»Hier ging es wohl zum Ausgang. Da bin ich sicher. Jetzt ist alles aus. Wir sind abge­schnitten. Das wäre unsere Rettung gewesen!«

»Eben waren Sie doch noch der Meinung, dass es überhaupt keinen Ausgang geben könn­te!«

»Zumindest haben wir hier Wasser«, bemühte sich Tony Tanner, der Situation noch etwas Positives abzugewinnen.

»Und wenn es so weitergeht, werden Sie auch bald eine Leiche zum Verspeisen haben«, murmelte Dorkas düster und stapfte zurück zum Abzweig.

Sie schleppten sich weiter. Nach kurzer Zeit kamen sie erneut zu einem Abzweig.

»Rechts«, sagte Tony Tanner.

»Wir reden hier nicht über Politik«, wurde Dorkas plötzlich energisch. »Ich sage, gerade­aus. Mir nach!«

Mit diesen Worten ging er weiter und zwang den Rest der Gesellschaft, seinem Diktat zu folgen.

***

»Oh diese süße Stunde«, flüsterte Panpopidis. »Die süße Stunde fremder Qualen.«

Er wollte die goldene Nadel ansetzen, als der Bote die Hand hob.

»Still«, befahl er. »Was war das?«

Jeder wurde zur Salzsäule und lauschte. Tatsächlich – man konnte Stimmen hören.

Sie erklangen aus dem Zugang, den der Wandbehang verdeckte.

Sie wurden deutlicher und kamen näher und näher.

Der Bote stieß ein wütendes Grollen aus, das keiner menschlichen Kehle zu entsteigen schien.

Die gesamte Gemeinschaft erstarrte, gab sich völlig dem Lauschen hin. Kein Geräusch störte diese Konzentration, selbst das Brausen der Luftsäulen verlor sich zu einem Flüstern, das an das Rauschen eines weit entferntes Meeres erinnerte.

Deutlich waren die Stimmen aus dem Gang vernehmbar. Durch einen akustischen Effekt schienen sie sehr nahe zu sein.

Der Stimmenklang wurde lauter, blieb eine Weile gleich stark. Es schien eine Diskussion zu geben. Dann wurden die Stimmen leiser und verklangen.

Der Bote, der in der vorgebeugten Haltung eines gespannten Bogens gelauert hatte, rich­tete sich nun wieder auf.

Das war das Zeichen für die anderen, auch ihre Konzentration aufzugeben. Ein erleichter­tes Raunen klang durch den niedrigen Raum.

»Wie konnten diese Menschen in den Gang kommen?«, fragte der Bote barsch.

Wieder war es der Diener, der ihm antwortete.

»Sie müssen einen Zugang gefunden haben, den wir nicht kennen … Es gibt keine andere Erklärung.«

»Gab es Sperren, die jenseits der Möglichkeiten dieser Welt sind? Magie …?«

Der Diener zuckte bei dem Wort Magie in abergläubischer Furcht zusammen. Dann schüttelte er energisch den Kopf, als müsste er durch die Vehemenz seiner Gestik auch sich selbst überzeugen.

»Ich weiß es nicht … mir ist nichts dergleichen zu Ohren gekommen …«

Der Bote antwortete nicht und schickte den Mann mit einer ungeduldigen Handbewegung zurück an seinen Platz. Die Kapuze wendete sich unruhig dem Wandbehang zu, hinter dem der Zugang zum Gangsystem verborgen lag. Ein Lichtschein fiel unter die Kapuze und riss noch einmal das hagere Gesicht mit der schmalen Nase aus seiner Verborgenheit. Die Falte über der Nasenwurzel, die Unruhe und Wut signalisierte, war deutlich zu erkennen. Die dürre Hand des Boten rückte die Kapuze zurecht und sein Gesicht verschwand aufs Neue in der Schwärze.

»Was soll’s«, sagte er. Er schien zu sich selbst zu sprechen, aber die Stimme war so laut, dass es jeder im Raum vernahm. »Was soll’s! Sie könnten nichts mehr ändern. Wir werden uns später um sie kümmern. Jetzt wollen wir den Rest des Weges bis zum Triumph zurückle­gen. Los denn, bereite dem Gast Schmerzen.«

»Nichts lieber als das«, antwortete Panpopidis. Er dienerte in unterwürfiger Haltung zum Boten hinüber. Dann wandte er sich dem Conte di Saloviva zu.

***

»Ruhe mal!«

Steele schob ein Ohr in die Richtung, aus der er ein unbestimmtes Geräusch vernommen hatte. Er selbst konnte es nicht einordnen, es schien eine Art Brausen zu sein, und er hatte sofort das Bild eines Felsenloches, durch das der Wind rauscht, vor sich gesehen. Es könnte die Rettung sein.

Als jetzt weder ein Wort noch ein Atemzug aus seiner Umgebung zu hören war, lauschte Steele mit einer Intensität, der eine Prise Verzweiflung beigemischt schien. Aber er musste sich getäuscht haben. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, zurück zum Abzweig zu humpeln, wo er größere Gewissheit gewinnen würde. Dann gab er es auf und arbeitete sich hinter den anderen her. Sie hatten nur eine Lampe, deren Kapazität begrenzt war und sie mussten zusammenbleiben, das war wichtiger als windige Hoffnungen.

Langsam entfernte sich Steele immer weiter von dem Abzweig. Manchmal zögerte er und lauschte erneut. Dann bemühte er sich, den tanzenden Lichtschein einzuholen, der vor ihm wie ein gelber Schiffsbug durch die Dunkelheit schnitt, Mauern und Felsdecken hervortreten ließ und scharf die Umrisse von Little, Lucille, Dorkas und Tony Tanner ausschnitt. Ein letz­tes Mal wandte er sich zurück.

Fortsetzung folgt …