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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.7

Wo die Erde blutet – Teil 7

Ein oder zwei Tage danach stand er neben Dorkas in der Küche und schnitt ein französisches Baguette in Scheiben. Seine rechte Hand führte das Messer, seine linke Hand hielt das Brot. Seine rechte Hand schnitt in die linke Hand, ein tiefer Schnitt, aus dem sofort das Blut hervorquoll, als hätte es nur auf diese Fluchtmöglichkeit gewartet. Während Dorkas quiekte und hektisch durch die Küche wuselte, die eine und andere Tür oder Klappe öffnete, um Verbandszeug zu besorgen – das er schließlich im Badezimmer fand – schaute Little auf die Wunde und den Blutfleck, der sich mehr und mehr auf dem weißen Küchenbrettchen ausbreitete. Ein Schmerz pochte in dem verletzten Finger, schien aber völlig nebensächlich zu sein.

Little schaute und fragte sich, ob die rechte Hand zu ihm gehörte oder die linke oder vielleicht auch beide, aber warum schienen sie dann einen Krieg zu führen? Dann registrierte er zum ersten Mal bewusst das Blut, und das Blut erinnerte ihn an Brantley bei seiner perversen Verjüngung, und das wiederum erinnerte ihn an den Mantel, und der Mantel …

 

Little hätte das Vorkommnis als beiläufige Episode behandeln können, als Ausfluss des nicht unbeträchtlichen Stresses einer gefahrvollen Reise, den er noch immer nicht völlig überstanden hatte. Er versuchte es tatsächlich auf diese Weise. Dann schloss er eine Tür und klemmte sich den verletzten Finger derart ein, dass er vor Schmerz schrill aufschrie. Auch hier blieb noch der Ausweg, von einem dummen Zufall zu sprechen. Aber spätestens in dem Augenblick, als er heißes Wasser in eine Teekanne gießen wollte und – als wäre er ein Kranführer, der hilflos aus seiner Kabine zuschauen muss, wie die Mechanik seines Arbeitsgerätes versagt und ein Unglück geschieht – er ansehen musste, wie seine rechte Hand, von einem eigenen, zerstörerischen Willen erfüllt, das Wasser auf die Linke lenkte, die nicht einmal zu einem instinktiven Fortzucken befähigt war, gab es keine Ausflüchte mehr. Etwas war in ihm. Etwas hatte von Little Besitz ergriffen. Er war in der Psychologie zumindest so gut bewandert, dass er mit solchen Formeln wie unbewusste Selbstbestrafung oder dem härter klingenden primären schizophrenen Schub agieren konnte. Für einen Mann wie Jake Little, den sie John nannten, der Dinge gesehen hatte, welche die Mehrheit der abendländischen Bevölkerung für unmöglich halten musste, um nicht verrückt zu werden, waren das keine Erklärungen. Brantley war eine Erklärung. Sarah war eine Erklärung. Diese Namen waren allerdings nicht nur Erklärungen, sondern auch Drohungen.

 

John Little ließ sich in den Sessel zurückfallen, als suchte er einen Rückhalt für einen Moment der Rast. Immer noch herrschte eine völlige Stille, die die Existenz einer Millionenmetropole draußen vor den Backsteinmauern leugnete. Kein Mensch konnte John Little helfen. Es war immerhin gut zu wissen, dass Dorkas ihm beigestanden hätte, falls eine solche Möglichkeit bestanden hätte. Für Tony Tanner galt dasselbe, obwohl Little bei diesem nach ihrer Ankunft so etwas wie Impulse von Eifersucht registriert hatte. Schon das Wissen um Männer, die er mit einigem Recht als so etwas wie Freunde bezeichnen konnte, hatte auf Little eine beruhigende Wirkung.

 

Die Stille veränderte sich. War sie eben noch die Abwesenheit von Geräuschen, so gewann sie jetzt eine eigene Qualität. Sie gerann zu einer Form von Flüssigkeit, die den Raum erfüllte. Es wurde zu einer salzigen Flut der Stille, die mit ihrem bitteren Geschmack begann, alles zu bestimmen. Little spitzte die Lippen und versuchte erneut, ein Lied zu pfeifen. Es misslang. Er brachte nicht mehr als ein zischendes Ausatmen zustande, von dem er nicht einmal wusste, ob er es tatsächlich hörte oder nur als eine tröstliche Vorstellung im Kopf hatte.

John Little verlor das Zeitgefühl. Im Moment war er sicher, dass Dorkas und Tony Tanner bald zurückkommen müssten, im nächsten war er sich nicht einmal sicher, ob nicht soeben erst das Geräusch der zuschlagenden Tür verklungen war.

Etwas Anderes, Fremdartiges, schlich sich in sein Bewusstsein. Zuerst bemerkte er es nicht, dann vermochte er es nicht einzuschätzen. Little begann, über diese Empfindung zu grübeln, versank immer tiefer im Nachsinnen, während er sich bemühte, sie zu entziffern wie einen nur halb verstandenen Satz einer fremden Sprache. Langsam, als müsste er mit spitzen Fingern ein zerbrechliches Meerestier zur Untersuchung auf eine Glasplatte legen, näherte sich Little dem fremden Kern, der sich in seinem Denken eingenistet hatte. Als er erkannte, um was es sich handelte, war es schon zu spät. Indem er sich der Empfindung zuneigte, nährte er sie, ließ sie wachsen und schwellen. Und nun stand sie in unverrückbarer Festigkeit vor ihm. Brantley war hier!

Brantley war hier in diesem Raum, befand sich direkt neben ihm, unsichtbar, unhörbar, aber mit übermächtiger, geradezu wuchtiger Präsenz, die stärker wirkte als eine bloße körperliche Anwesenheit. Die Erkenntnis wirkte auf Little, als würde sich unter ihm ein Abgrund öffnen. Er schwankte und rutschte schließlich von der Sitzfläche des Sessels herunter auf den Teppich. Seine Wange lag auf das raue Gewebe gepresst, er spürte deutlich einige gröbere Sandkörner, die im Flor steckten und nun in seine Haut rieben. Der Gedanke, sich wieder aufzurichten, kam Little erst gar nicht. Eine solche Überlegung wäre ihm absurd erschienen, unpassend und unverständlich, weil in seinen Überlegungen kein Platz blieb für eine Aktion wie sich auf die Arme zu stemmen oder ein Knie anzuziehen.

 

Er hörte seine eigenen Atemzüge, vernahm den beschleunigten Rhythmus aufschießender Panik. Er fühlte sich ausgeliefert. In Littles Kopf formte sich ein Bild: Wasser in einem Topf, den eine unsichtbare Hand auf die heiße Herdplatte schiebt. Und so wie Wasser von der Hitze durchdrungen wird, zu kochen und zu brodeln beginnt, formten sich Littles Vorstellungen, ohne seinem Willen eine Möglichkeit zum Eingriff zu lassen. Das Außen spiegelte sich in seinem Inneren, aber vielleicht war es auch so, dass er nur den Ansturm fremder Bilder, die sich in seinen Kopf drängten, wie ungehobelte Besucher in eine Bar, nach außen projizierte.

Deutlich empfand er, wie Brantley ihn mit nachlässiger Langsamkeit umkreiste. Er konnte die Schritte Brantleys hören, das Rauschen des Mantels, selbst die Atemzüge glaubte er erkennen zu können.

Das Zimmer ist leer, sagte sich Little, er ist nicht da. Es war ein schöner, klarer Satz, und er war doch nicht als ein ängstliches Pfeifen im Dunkeln. Littles Feststellung mochte vielleicht sogar richtig sein, aber sie stimmte nicht, denn in seinem Kopf spürte er das Rauschen von Brantleys Mantel ganz nahe bei sich, und er konnte sogar die Berührung des Leders bemerken. Ein Schauder lief über Littles Rückgrat. Er schloss die Augen, genauer, er versuchte, die Augen zu schließen, aber sie waren schon längst geschlossen, und so kniff er nur die Lider um so fester zu, als wäre hier eine Chance, die Bresche zu stopfen. Es gab keine Möglichkeit, sich zu wehren. Als wäre sein Bewusstsein als Stück Papier, auf dem eine gichtige Hand mit kratzender Feder das Todesurteil schreibt, musste John Little alles über sich ergehen lassen. Im Grunde hatte er vieles schon gewusst, zumindest geahnt, aber auch dann hatte es für ihn noch den Ausweg des Leugnens, Abstreitens oder Ignorierens gegeben. Das Rauschen des Mantels unmittelbar neben ihm sagte Little, dass die Zeit des Wegschiebens nun vorbei war. Es war ein seltsames Rauschen, das fiel Little auf. Es klang nicht so, als wäre Leder die Quelle des Geräusches, sondern eine Art von Flügel. Schwarz glänzendes Gefieder, gewaltige, weit ausgreifende Schwingen, geschaffen um durch endlose Räume voller eisiger Leere zu gleiten, vor deren Schrecken und Bedrohung das menschliche Verstehen zu bewegungsloser Starre gefroren wäre. Federn, die nichts Weiches hatten, die spitz und hart waren wie Pfeile, als wären sie dazu geschaffen, herausgezogen zu werden und dem letzten Chronisten der Apokalypse als Schreibgerät zu dienen.

 

Die Erkenntnis raubte Little den Atem. Für einen Moment schien er selbst über dem Schlund des Nichts zu hängen. Er spürte das Saugen, die Schwere, die ihn herabziehen wollte – was war es eigentlich, das ihn noch halten konnte? – damit er für Ewigkeiten durch dieses Nichts stürzte. So musste die Hölle sein – keine Feuer, keine kleinen Teufelchen mit Dreizack und einer neuen Foltermethode, sondern nur das wache Wissen um das Nichts und die Leere und die Kälte und die Ewigkeit, die nach der Ewigkeit des Leidens wartete, und ein kleines zitterndes Ich, das sich dieses Wissen wie eine Litanei immer wieder vorsprach.

Little wusste nicht, wie lange er über diesem gähnenden Abgrund hing. Noch war er sich sicher, ob er das höhnische Lachen wirklich und wahrhaftig gehört hatte, ob es in seinem Kopf war oder in dem Zimmer. Dann vernahm er etwas anderes. Flüstern. Wispernde Stimmen waren es, die erst aus der Ferne erklangen, sich zaghaft näherten und ihre Geschichten herunterhaspelten, die aber immer näher kamen, bis sie wie ein Schwarm Schmeißfliegen um Littles Kopf surrten und sich um ihn drängten, als wäre er ihre letzte Rettung. Sie wisperten in seine Ohren, beluden ihn mit dem Wissen um ihr Schicksal und zerrten Bilder, Vorstellungen, Visionen herbei. Little sah ihre Gesichter, ihre Gestalten, spürte den Schmerz und die Qual, als sie ihr Leben aushauchten. Er blickte auf ihre willkürlich beendeten Existenzen, erkannte ihre Pläne, Hoffnungen und Wünsche, die unbefriedigt wie ein verirrter Fluss in der Wüste verdunsteten, und schaute schließlich auf Brantley, der von einem Schleier umgeben war, und Little wusste nun, dass dieser aus leichthin verschwendeter Lebenskraft gewoben war – Jahrhunderte und Jahrtausende strangulierten Lebens, und darüber heulten die irrenden Seelen der Opfer und krallten sich wütend an das Verlorene und leugneten das Unveränderliche.

Das leise Zirpen und Wispern in Littles Ohren steigerte sich zu dem unerträglich schrillen Crescendo eines Wintersturmes. Die Stimmen trieben sich wie Keile in Littles Kopf, sie strömten in ihn hinein wie kaltes Meerwasser in einen aufgeschlitzten Schiffsrumpf. Little presste sich die Hände vor die Ohren, schlug sich auf den Schädel, um die Stimmen zu vertreiben und erntete nur Schmerz, unter dem das Heulen und Jammern weiterhin erklang.

Schließlich wälzte er sich auf dem Boden und trat um sich, nur den Schwall der Stimmen wachsen und immer noch wachsen zu spüren.

 

Plötzlich war es still. Little lag auf der Seite. Aber die Stille war keine Befreiung. Sie war die Rückseite dessen, was er eben durchgemacht hatte, der Hinterhof der Bedrohung. Sie bedeutete keine Ruhe, sondern nur die Abwesenheit der Stimmen. Sie war nichts als die notwendige Voraussetzung für die nächste Qual. Grau und trübe wie ein Montagmorgen lag sie auf Little und lastete wie Blei. Jeder Versuch, sich zu befreien, endete in einer Sackgasse, jeder vermeintliche Ausweg führte tiefer in das Labyrinth düsterer Nebensächlichkeiten.

Little wusste, dass er in diesem Augenblick den Atem anhalten konnte, bis er ihm die gnädige Schwärze des Todes Unterschlupf bot. Er dachte auch daran, sein Herz zum Stillstand zu bringen, und noch während er diesen Gedanken hatte, begann das Herz in seiner Brust zu stolpern und sich schmerzhaft zu verkrampfen. Aber was war schon dieser Stich im Vergleich zu den Qualen, die Brantley ihm bereitet hatte! Etwas hielt ihn für einen kurzen Augenblick zurück. Es war wie eine Betriebsanleitung. Little las diesen Gedankensplitter, der durch sein Bewusstsein trieb und fühlte, wie ihn neue Kraft durchströmte. Der Inhalt der Betriebsanleitung war nicht besonders originell. Er besagte lediglich, dass der Ausgang nur für autorisiertes Personal offen war und dass alle Unbefugten, die diesen Weg dennoch benutzten, sich damit abzufinden hatten, dass sie ihre Aufgaben nicht erledigt hatten und daher auf einer anderen Ebene mit minderwertigem Werkzeug genau diesen Job weitermachen mussten.

 

Als Dorkas und Tony Tanner zurückkehrten, waren sie erst einmal zu sehr mit sich selbst und ihren Gedanken beschäftigt, um sich groß um Little zu kümmern. Der saß in der Küche und sah aus, als hätte er soeben eine Fahrt in einer äußerst schnellen Achterbahn hinter sich.

»Sie sehen nicht gut aus«, konstatierte Dorkas schließlich mit unangemessener Leichtigkeit. »Ist etwas Besonderes vorgefallen?«

»Ja«, antwortete Little. »Ich habe auf Ihren Teppich gepinkelt.«

»Oh!« Dorkas wirkte für den Moment etwas verwirrt, aber ihm war deutlich anzumerken, dass es ihm keineswegs um den Teppich ging, sondern um das peinliche Gefühl, hier mit einer Art von intimem Geständnis konfrontiert zu sein. Er zuckte müde die Achseln. »Sie werden schon wissen, warum Sie das getan haben, Herr Little.«

 

Mit dieser abschließenden Bewertung platzierte sich Dorkas auf seinem Stamm-Stuhl an den Küchentisch, raffte seine Papiere darauf und war für die nächsten Stunden nicht mehr ansprechbar. Er übertrug seine Notizen auf größere Blätter, sprang zwischendurch auf, um in seinen älteren Aufzeichnungen zu wühlen, sie zu ergänzen oder zu verändern. Während

Dorkas unzufrieden vor sich hin knurrte und leise mit sich selbst sprach, fuhr seine Hand in einem angelernten Automatismus zur Teetasse und führte diese zum Mund. Und jedes Mal verstärkte sich Dorkas’ Knurren und wurde um einen Ton höher, wenn er dann die völlig leere Tasse zurück auf den Tisch knallen ließ. Die Aktion wiederholte sich mit der Gleichförmigkeit eines arbeitenden Roboters. Endlich hatte Tony ein Einsehen und begann, literweise Tee zu kochen. Die Ablenkung tat ihm gut. Als er fertig war, setzte er sich neben Little, der die Zwischenzeit mit einer ausführlichen Reinigungsaktion des Teppichs verbracht hatte. Es roch stark nach Kernseife und anderen Putzmitteln. Tony Tanner bot Little eine Tasse Tee an, dann ließen sie sich in die Sessel fallen und bliesen schweigend auf das heiße Getränk, um es abzukühlen.

»Hatten Sie Erfolg?«, fragte Little plötzlich.

»Wie man’s nimmt. Nein, eigentlich nicht. Jedenfalls sehe ich das so. Oder halten Sie es für einen Erfolg, wenn die Lösung einer Frage aus einem Dutzend anderer Fragen besteht?«

»Der Zustand ist nicht neu, vermute ich mal.«

»Es gibt Dinge, an die werde ich mich nie gewöhnen. Nun ja, vielleicht sieht Dorkas die Angelegenheit ja etwas optimistischer als ich. Morgen müssen wir jedenfalls noch einmal hin, um Fotos zu machen.«

 

Wieder verfielen sie in Schweigen. Nur aus der Küche war das Brabbeln von Dorkas vernehmbar, unterbrochen von eifrigem Gekritzel auf Papier und dem Schlürfen, wenn er seine Tasse leerte.

Little räusperte sich. »Haben Sie eigentlich schon mal den Verdacht gehabt, Sie könnten für die falsche Seite arbeiten, Herr Tanner?«

Tony brauchte eine Weile, um den Inhalt der Frage richtig zu verstehen. »Sie wollen mir doch nicht etwa weismachen, dass Dorkas vielleicht ein doppeltes Spiel …«

Mit aufgeregtem Fuchteln zwang Little ihn, seine Lautstärke zu mäßigen. »Es geht nicht um Dorkas. Es geht um das, was wir, oder genauer Sie und Dorkas und vielleicht auch ich machen.«

»Jetzt sind Sie mir, glaube ich, aber eine genauere Erklärung schuldig«, antwortete Tony Tanner nur. Little wand und wehrte sich eine Weile, aber dann erzählte er von dem, was ihm in den letzten Stunden zugestoßen war.

»Wir waren sicher«, beendete er seinen Bericht, »dass Brantley ohne den Grand Albert nicht mehr als ein Fisch auf dem Trockenen ist.«

»Ja, dieses Triumphgeheul ist mir nicht entgangen«, kommentierte Tony sarkastisch und schämte sich im selben Moment, weil er spürte, wie wieder die unerklärliche Eifersucht seine Reaktion verbogen hatte. »Jedenfalls war Dorkas wirklich sehr überzeugt«, fügte er hinzu und schielte auf Little, um dessen Reaktion zu prüfen. Aber dieser hatte die unterschwellige Schadensfreude nicht registriert. Er drehte die inzwischen leere Tasse in den Händen.

»So weit ich das beurteilen kann, war es auch so. Ich meine, ich hätte vielleicht schon früher das gespürt, was ich heute durchgemacht habe – wenn es denn da gewesen wäre.«

»Also war es nicht da. Jedenfalls noch nicht zu diesem Zeitpunkt.«

»So sehe ich es.«

»Und jetzt ist es wieder da – was immer es auch ist.«

»Das kann ich nur bestätigen.«

»Fragte sich, warum es wieder da ist.«

»Das ist es doch, Herr Tanner«, rief Little erregt. »Genau das habe ich doch gemeint. Wir glaubten, Brantley erledigt zu haben, stattdessen hat er immer noch gewaltige Macht über die Menschen. Und vielleicht wusste er ja von vorneherein, was geschehen würde. Ich meine, wer sagt uns, dass er nicht wollte, dass wir den Grand Albert stehlen und nach London bringen?«

»Aber Sie haben ihm doch mitten in ein Ritual gefunkt, war es nicht so?«

»Und wie wir da hineingefunkt haben!«

»Dann halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass Brantley auf Sie und Dorkas gewartet hat. Nein, er wird einfach die neue Situation analysiert und seine Schlüsse daraus gezogen haben.«

»Aber das sagt doch nichts! Wie konnte er plötzlich … ja, wie konnte er hier sein? Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber er war wirklich hier, sogar wirklicher, als wenn er wirklich hier gewesen wäre …« Little brach ab und lauschte seinem letzten Satz selbst etwas verwirrt nach. »Nach all den Vorsichtsmaßnahmen, die Dorkas ergriffen hat …«, fügte er noch hinzu.

Tony Tanner überlegte eine Weile. »Könnte es sein, dass der Grand Albert nicht das ist, für was wir ihn gehalten haben? Nicht bloß so eine Art Kochbuch für die magische Zunft, sondern irgendetwas anderes, so eine Art Infektionsherd? Ich kann mich deutlich an den Schreck erinnern, als das Ding vom Tisch gefallen ist.«

 

Damit war das Gespräch erst einmal beendet und beide versanken in dumpfes Brüten.

Plötzlich schien es in den Raum kälter geworden zu sein und beiden fröstelte. Tony Tanner nagte an seiner Unterlippe, Little hatte die Arme um sich geschlungen, als stünde er im Winter an einer einsamen Bushaltestelle. Schließlich verständigten sie sich mit einem Blick und gingen zu Dorkas. Dem quollen fast die Augen aus dem Kopf, als sie von ihrem Verdacht erzählten.

»Was sollen solche Kindereien«, fragte er verblüfft. Dann bildete sich eine scharfe Falte über seiner Nasenwurzel, die Tony Tanner bei ihm bisher noch nicht bemerkt hatte. Und auch der Klang von Dorkas’ Stimme war ihm fremd. Der korpulente Mann stemmte sich mit beiden Armen auf die Tischplatte, dass das Holz vernehmlich knarrte.

»Bin ich eigentlich nur noch von Deppen umgeben«, legte er unvermittelt los und warf einen giftigen Blick auf seine beiden Gäste. »Ich bemühe mich bis zum Umfallen, diese Sch … hier aufzuzeichnen und diese beiden Herren haben nichts anderes zu tun, als Latrinenparolen zu verbreiten …«

 

Während er sprach, wurde seine Stimme lauter, bis sie sich schließlich zu einem unbeherrschten Gebrüll steigerte. Dorkas hieb auf den Tisch, dass seine Teetasse hochsprang, umfiel und zu Boden kullerte, wo sie mit einem lauten Scheppern zerbrach. Der Klang des zerspringenden Behälters schien gierig die plötzliche Stille ausfüllen, die nach Dorkas’ letztem Satz ausgebrochen war. Die drei Männer schauten sich gegenseitig an. Zuerst standen in den Augen von Tony und Little Erstaunen und blankes Entsetzen über diesen völlig unerwarteten Anfall. Dann verdüsterten sich auch ihre Mienen. Little deutete auf Tony. »Es war seine Idee«, rief er erregt, »und ich verbitte mir diesen Ton, ich habe es nicht nötig, mich in Ihrer Scheißküche so anschreien zu lassen!« Er machte Anstalten zu gehen, kam aber nicht zur Tür, weil ihm Tony Tanner in den Weg trat.

»Jetzt bin ich es plötzlich gewesen, was?«, keifte der. »Kommt jetzt die US Air Force mal kurz zum Bombardieren vorbei oder schicken Ihre heldenhafte Landsleute nur einen Marschflugkörper?«

»Ich muss mir diesen Schwachsinn von einem elenden Saftsack wie Ihnen doch nicht anhören«, schnaufte Little und wollte sich an Tony vorbeischieben. Oder dass einer von ihnen genau gewusst hätte, wie es dazu kam, entstand ein Gerangel. In einem klaren Moment registrierte Tony das wutverzerrte, rot angelaufene Gesicht von Little untermittelbar vor sich und fragte sich, was das alles sollte. Dann fuhr seine Hand vor und schob Little zurück. Hinter ihnen krachte ein Stuhl zu Boden, als Dorkas schimpfend aufsprang und sich wie ein Sumokämpfer auf die beiden miteinander ringenden Männer stürzte.

»Blödes Pack«, schrie er, »schlitzt euch meinethalben die verschissenen Kehlen auf, aber versaut nicht meine Küche, es genügt, dass ihr auf meinen Teppich pisst, ihr Barbaren!« Dann legte er Tony und Little die Hand in den Nacken und versuchte, ihre Köpfe gegeneinander zustoßen. Es blieb bei dem Versuch, weil ihm Little einen heftigen Tritt gegen das Schienbein verabreichte und Dorkas heulend auf einem Bein zur Seite hüpfte. Dort klammerte er sich an die Spüle und begann nach kurzer Überlegung, die beiden anderen mit gebrauchtem Geschirr zu bewerfen. Er landete einige Treffer, aber weil Dorkas aus praktischen Gründen in der letzten Zeit Campinggeschirr aus Plastik nutzte, waren die Einschläge nicht geeignet, Little und Tony Tanner tiefer zu beeindrucken. Die Teller und Tassen hüpften unbeschädigt über den Boden.

Dann traf allerdings eine Tellerkante die Schläfe von Tony und setzte ihn für einige Sekunden außer Gefecht. Er taumelte und musste nach einem Halt suchen. Diesen Moment der Schwäche nutzte Little, um sich auf ihn zu stürzen und ihn halb zu Boden zu werfen.

Instinktiv hob Tony den linken Arm, an dem er die Peitsche als Armband trug, und stieß den Angreifer zurück. Es war bestimmt kein harter Schlag, aber Little zuckte mit glasigen Augen zurück und taumelte nach hinten. Im gleichen Moment fuhr es wie elektrischer Strom durch Tonys Arm, sodass er mit einem unwillkürlichen Wimmern auf den Boden kippte und nur noch den schmerzenden Arm halten konnte.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass sich Dorkas mit einer großen gusseisernen Pfanne bewaffnet hatte, um mit deutlich mehr Nachdruck in den Kampf einzugreifen. Er hätte sie auch eingesetzt, hatte sie schon erhoben, da wurde er von dem zurücktaumelnden Little gerammt, nach hinten gegen einen Schrank gedrückt und hatte nun keinen Platz mehr, um richtig auszuholen. Wütend wollte er Little zur Seite schieben, aber der winselte erbärmlich und schlug um sich, als müsste er einen angreifenden Bienenschwarm vertreiben. Sein Gesicht war vor Schrecken verzerrt, seine Pupillen so verdreht, dass man nur noch das Weiße seiner Augen sehen konnte.

 

Es war weniger dieser Anblick als vielmehr der scharfe Schmerz in seinem Arm, der Tony Tanner einen kurzen Moment der Besinnung bescherte. Aber bevor er die richtigen Worte fand, hatte Dorkas unter Einsatz seines gesamten Körpergewichtes Little zur Seite gedrückt, um sich jetzt mit geschwungener Pfanne auf Tony zu werfen.

»Das ist doch … nicht normal«, rief Tony und wich ihm aus.

»Das kann ich nur bestätigen und darum werde ich euch Hosenkacker jetzt aus meiner Drecksküche prügeln«, blaffte Dorkas zurück und holte weiter aus.

»Es ist der Grand Albert«, fuhr Tony keuchend fort. »Er ist es, der uns durchdrehen lässt.«

»Durchdrehen?« Dorkas betrachtete skeptisch die Pfanne in seiner Hand, überlegte, schrie dann: »Das ist doch nur einer deiner Tricks«, schwang die Pfanne … und ließ sie dann verwirrt sinken.

»Ich würde Ihnen liebend gerne das bisschen Gehirn aus Ihrem Idiotenschädel prügeln, aber ich fürchte, Sie könnten recht haben.«

»Wo haben Sie den Grand Albert

»Im Keller, wo denn sonst, Sie Klugscheißer? Wollen Sie mir jetzt vielleicht Schlampigkeit vorwerfen oder was … Eierbär!«

 

Die Pfanne zuckte wieder in ihre ursprüngliche Schlagposition.

Tony rollte sich zur Seite und stand auf. Er empfand eine unbezähmbare Lust, Dorkas einen gut gezielten Tritt zwischen die Beine zu verpassen. Weil ihm jede Bewegung noch immer elektrische Schläge durch den Arm fahren ließ, fiel es ihm leichter, auf diese robuste Kundgebung seiner unfreundlichen Absichten zu verzichten. Er lehnte sich stöhnend gegen die Wand und massierte seinen Arm.

»Sachte, sachte«, sprach er beruhigend auf Dorkas ein, als müsste er einen wütenden Bullen beruhigen. »Legen Sie dieses Mordwerkzeug weg und versuchen Sie mal für einen Moment ruhig zu bleiben. Haben Sie das Buch einfach so abgelegt?«

»Einfach so, einfach so«, fauchte Dorkas, legte aber gehorsam die Pfanne zurück auf den immer noch beträchtlichen Haufen gebrauchten Geschirrs. »Ich mache gar nichts einfach so. Verstanden. Ich habe natürlich Vorsichtsmaßnahmen getroffen … Sie … Sie … ich hau’ Ihnen gleich …«

»Dann gehen wir jetzt nach unten und werden diese Maßnahmen kontrollieren.«

»Sie wollen mir nicht glauben, was?« Dorkas knirschte förmlich mit den Zähnen in seiner dampfenden Wut. »Aber gut. Gehen wir in den Keller – aber nur, wenn Sie vorgehen, einen blöden Affenpopo wie Sie will ich nicht im Nacken haben.«

 

Die ganze Zeit, während sie in den Keller stiegen und sich durch den muffigen Geruch abgestellter Möbel und alten Gerümpels bewegten, hörte Tony hinter sich das unterdrückte Gegrummel von Dorkas und spürte seinen hasserfüllten Blick im Nacken. Es war so angenehm, als würde er durch einen Tunnel gehen und hinter sich den heranrasenden D-Zug hören.

Schließlich drängte sich Dorkas rücksichtslos an Tony vorbei, schloss einen Verschlag auf und schob eine Mauer aus Kartons zur Seite. Wie zur Salzsäule erstarrt blieb er dann stehen. Jetzt war es Tony, sich an Dorkas vorbeizuschieben. Er sah den Grand Albert auf dem Boden liegen, umgeben vor den Resten dessen, was Dorkas als eine Form der Sicherung hingelegt hatte. Ein Kreis aus weißem Pulver war an vielen Stellen unterbrochen, das Pulver über dem Boden verstreut. Einige Kerzen lagen als abgenagte Stummel umher.

»Ratten«, murmelte Dorkas. »Wir haben Ratten!«

»Wo finde ich die Waschküche?«

»Was geht Sie die Waschküche an, Sie ungewaschener Schnösel?«

Trotzdem zeigte Dorkas die Richtung, und Tony rannte los. Er fand, was er suchte und kam mit einer Packung Waschpulver zurück. Sorgfältig schüttete er das Pulver zu einem Kreis um den Grand Albert. Noch während er damit beschäftigt war, hörte er, wie sich Dorkas heftig räusperte.

»Falls ich mich in der letzten Zeit vielleicht … na ja … etwas rustikal verhalten haben sollte, dann möchte ich hiermit in aller Form um Entschuldigung bitten, Herr Tanner.«

»Dito. Es war also tatsächlich das Buch.«

»Daran bestanden nie Zweifel. Ich war nur zu beschäftigt, Ihnen den Schädel zu spalten, um mich ernsthaft mit diesem Faktum auseinanderzusetzen.«

»Ich nehme mal an, das mit den Ratten war auch kein Zufall, Dorkas?«

 

Dorkas bückte sich schnaufend nach den Kerzenresten und begann, sie umständlich einzusammeln. Es war eher ein Ausdruck seiner Verlegenheit als seines Ordnungssinnes. Sein Gesicht war rot angelaufen – nicht nur durch die Anstrengung, sondern weil er sich nach dem eben beendeten Auftritt wie ein junges Mädchen fühlte, das man bei unanständigen Gedanken ertappt hatte.

Schließlich richtete er sich schnaufend wieder auf und betrachtete versonnen die Wachsstumpen auf seiner Handfläche.

»Zufall? Wenn ich irgendetwas gelernt habe in der letzten Zeit, dann das Eine: Es gibt keine Zufälle.«

»Dann fragt sich, welcher Rattus Rex uns hier seine nagenden Boten geschickt hat«, fragte Tony Tanner, der ganz froh war, den Auslöser der Aggressionen entdeckt zu haben.

»Wenn ich es wüsste, würde ich mich besser fühlen. Oder eben auch nicht – das Thema hatten wir ja schon durch. Sarah vielleicht – oder das, was sie jetzt geworden ist.«

»Der Grand Albert scheint unsere alte Freundin jedenfalls nicht sonderlich beeindruckt zu haben.«

»Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen, Herr Tanner! Das mit der Freundin gefällt mir nicht. Was ich sagen will – keiner von uns kann mehr sicher sein, welche Auswirkungen seine Worte haben.«

»Mit dieser Meinung mindern Sie meine Kommunikationsfähigkeit allerdings beträchtlich.«

»Sie brauchen einfach kurz zu überlegen, bevor Sie etwas sagen. Manche Menschen tun so etwas immer. Dies nur so als Hinweis. Außerdem kommen die meisten Menschen sowieso mit zweihundert Worten aus. Manche Indianersprachen am Amazonas haben überhaupt nicht wesentlich mehr Wörter. Aber das ist im Augenblick auch nicht unser größtes Problem.«

 

Das eigentliche Problem lag von einem Kreis aus Waschpulver umgeben vor ihnen auf dem staubigen Kellerboden. Dorkas ließ sich auf einen Karton nieder und starrte eine Weile auf den Grand Albert, als könnte geduldiges Warten eine Lösung bringen.

»Warum schmeißen wir das Teil nicht einfach weg?«, schlug Tony vor.

Dorkas blickte müde lächelnd auf. »Wenn das mal so einfach wäre. Schließlich handelt es sich hier um einen kraftgeladenen Gegenstand. Den wegzuschmeißen würde so hilfreich sein, als wollten Sie Atommüll unterm Bett lagern. Nein, wir haben das Ding an der Backe kleben, wenn ich mich mal etwas rustikal ausdrücken darf, und es wird uns fast so viel Arbeit kosten, den Grand Albert loszuwerden, als wir hatten, um ihn in die Finger zu bekommen.«

»Das kommt mir wie ein schlechtes Geschäft vor.«

»So sind die Regeln, Herr Tanner. In dem Bereich, in dem wir uns tummeln, gibt es nur diese Art von Geschäften. Sie schlecht oder gut zu nennen, ändert nichts an den Tatsachen.«

»Und was machen wir nun? Hier sitzen bleiben und jede Ratte platt knüppeln, die sich am Waschpulvermagiekreis vergeht? Oder haben Sie eine bessere Idee?«

»Ja. Nachdenken.«

 

Damit zog sich Dorkas in ein brütendes Schweigen zurück. Tony Tanner verzichtete darauf, sich die Absurdität der Situation in allen Einzelheiten deutlich zu machen: zwei Männer, die vor einem mittelalterlichen Buch voller abergläubischer Verhexungen saßen und sich um die Haltbarkeit magischer Kreise aus Seifenflocken Gedanken machten. Während von der Straße Motorenlärm und die Schritte vorbeischreitender Passanten erklangen, hockten sie beide hier in ihrem ganz privaten Mittelalter, abgetrennt von dem, was die Menschen dort draußen für ihre gesicherte Welt halten mochten. Aber, wie Dorkas so richtig gesagt hatte: Dieses Thema hatten wir schon durch – mehrmals sogar.

Tony massierte seinen Arm. Der Schmerz war inzwischen wieder abgeklungen, aber ein unangenehmes Kribbeln blieb. Vor allem hatte dieser Arm kaum noch Kraft. Was soll’s, sagte sich Tony bitter, falls es mit dem Zuschlagen nicht klappt, verscheuche ich jeden Gegner mit Grimassenschneiden.

Er schrak auf, als sich Dorkas mit der flachen Hand gegen die Stirn klatschte. »Dass ich nicht sofort darauf gekommen bin«, schmetterte Dorkas, dass es unter der niedrigen Decke dröhnte. »Nehmen Sie das Buch, Herr Tanner und folgen Sie mir.«

 

Es war das erste Mal, das Tony den Grand Albert in der Hand hielt. Das Buch fühlte sich eigentlich ganz normal an. Wesentlich schwerer als erwartet, aber das konnte an dem Papier liegen. Und überraschend kalt, aber schließlich hatte das Buch ja in einem Keller gelegen.

Tony trottete hinter Dorkas her und ärgerte sich, dass er das schwere Buch schleppen musste. Das war ja mal wieder typisch für diesen Blödmann Dorkas, andere die Arbeit tun zu lassen. Kein Wunder, dass dieser Mensch vom Rumsitzen einen derart fetten Arsch bekommen hatte. Allein schon die Art, wie er jetzt vor Tony die Treppe hochwackelte, war eine einzige Beleidigung. Tony überlegte, ob er Dorkas den Grand Albert in den Nacken rammen sollte.

Es wäre nur eine gerechte Tat gewesen, die Rache für alle, die jemals vom Anblick dieses menschlichen Molches in ihren ästhetischen Menschenrechten verletzt worden waren.

Leider legte Dorkas plötzlich eine schnellere Gangart ein und machte Tonys Anschlagplanungen zunichte. Tatsächlich flitzte der Wissenschaftler förmlich um die Ecke und zum Hintereingang seines Ladens, sodass die Tür schon offenstand und Dorkas im schummrigen Inneren verschwunden war, als Tony zähnefletschend ankam. Aus verständlichen Gründen hatte Dorkas seinen Laden in den letzten Monaten nur selten geöffnet. Seit mehreren Wochen hing das Schild Bin im Urlaub an der Tür. Der langdauernde Urlaub verwunderte keinen Menschen, weil sowieso keine Kunden in Dorkas’ Geschäft kamen und die Hausbewohner aufgegeben hatten, sich um ihren seltsamen Mitmieter zu kümmern. Das Schaufenster war mit Eisengittern verrammelt, als gäbe es wirklich Dinge in dem Geschäft, die für einen Einbrecher von Interesse wären.

 

Dorkas hatte kein Licht angeschaltet. Nur aus dem Nebenraum, in dem er eifrig wühlte, drang ein Lichtstrahl. Tony stieß sich das Bein an einem alten Hocker und konnte nur mit Mühe ein Wutheulen unterdrücken. Einzig die Furcht, noch mehr blaue Flecken zu riskieren, hinderte ihn, zu Dorkas zu stürmen und ihm sowohl Buch als auch Hocker über den Kopf zu schlagen. Er wunderte sich nicht über seine Wut. Sie erschien ihm völlig gerechtfertigt, verständlich und angemessen.

Bevor Tony die geringste Reaktion zeigen konnte, war Dorkas aus dem Nebenraum geschossen wie der Korken aus der Sektflasche, hatte ihm das Buch aus der Hand gerissen und war damit im dunklen Laden verschwunden. Tonys erster Impuls war, hinter Dorkas herzurennen und ihm für diese unverschämte Frechheit eine tüchtige Tracht Prügel zu verabreichen. Dann wurde ihm plötzlich klar, dass Dorkas Handlung durchaus Sinn machte, ja, es schien ihm nun so, als ob dieser Dorkas ein wirklicher kluger und pfiffiger Bursche war.

»Licht an, Herr Tanner«, erklang die Stimme aus dem Dunkeln und Tony begann, nach dem Schalter neben der Tür zu tasten. Als er endlich die Beleuchtung angeschaltet hatte, bot sich ihm das bemerkenswerte Bild eines auf dem Boden knieenden Dorkas, der an einen Pfadfinder vor dem ersten selbst erzeugten Feuerchen erinnerte.

»Kommen Sie schon!«

Mit Erstaunen erkannte Tony im Nähertreten den Grand Albert, auf den Dorkas eine Statue platziert hatte.

»Kennen Sie das gute Stück noch, Herr Tanner?«

In der Tat, Tony kannte es. Es handelte sich um nichts anderes als um die ägyptische Statue des Hermes Trismegistos, deren Verkauf Tony Tanner zum ersten Mal in diesen Laden geführt hatte.

»Und ob ich das Teil kenne«, knurrte er. »Darf ich ein wenig darauf herumtrampeln?«

»Unterstehen Sie sich, Herr Tanner. Diese Statue ist jetzt unser Trumpfass. Damit hatten sie nicht gerechnet, nicht wahr, so ist es doch? Und ich hatte auch nicht sofort daran gedacht, ich Schlingel. Ist doch klar – Hermes Trismegistos, der Herrscher der Geheimnisse von Himmel, Erde und Unterwelt. Wer sonst könnte den Grand Albert bewachen und seine negativen Einflüsse neutralisieren?«

»Dorkas, es ist nur eine Statue, nur ein Stück Materie.«

»Nicht schon wieder diese Leier.« Dorkas unterbrach seine Antwort, um sich in die Senkrechte zu wuchten. Dann betrachtete er händereibend sein Werk. Nach einer Weile fuhr er fort: »Erstens: Nur Materie ist nicht, klar? Nur ist sowieso nicht! Himmel und Wolkenbruch, Herr Tanner, da konzentrieren Unmengen von bedauernswerten Männern ihre gesamte Begierde auf diese komischen Aufblaspuppen aus Hongkong oder so, und Sie kommen mit ihrem nur. Nur Worte, nur Zufall, nur Materie – vergessen Sie es endlich, auch wenn ich mir den Mund fusselig reden werde, bevor Sie diese Grundwahrheit verinnerlicht haben werden. Außerdem ist es eine Götterstatue. Der materielle Ausdruck einer überirdischen Macht. Und …« – hier hob Dorkas den Zeigefinger und bekam einen verklärten Ausdruck – » … diese Hermes-Statue wurde von Ihnen höchstpersönlich in diesen Laden gebracht!«

»Sie wollen mich nicht zufälligerweise ein ganz klein wenig veräppeln?«

»Danach ist mir im Augenblick nicht zumute. Es ist doch ganz klar, ohne die Statue wären Sie gar nicht in mein Blickfeld gekommen und hätten … gewisse Tätigkeiten der letzten Monate niemals auf sich genommen. Sie brauchen gar nicht so ostentativ zu nicken, Herr Tanner, ich habe mir mein Leben in den letzten Jahren auch anders vorgestellt. Wo war ich …

Ach so, damit ist doch eindeutig klar, dass diese Statue zum großen Spiel gehört. Sie hat eine Bedeutung und voilà …« Damit deutete Dorkas mit großer Geste auf das Ensemble aus Buch und Statue. Für Tony sah es ein wenig nach Flohmarkt aus.

»Und Sie sind sicher, dass es wirkt«, erkundigte er sich zweifelnd.

»Könnten wir uns sonst so relativ kultiviert austauschen? Ich habe momentan gar keine Lust, Ihnen die Zähne herauszuschlagen. Wie geht es Ihnen in Bezug auf mich? Wo bleiben Ihre Aggressionen?«

Das Argument leuchtete ein. Der Grand Albert lag ohne weiteres magisches Brimborium auf dem Boden und schien seine Wirkung verloren zu haben.

»Es ist ziemlich unheimlich, was dieses Buch auslösen kann«, murmelte Tony, der sich an die letzten Minuten erinnerte. »Es ist so, als würde man gedankliches Gift intravenös injiziert bekommen.«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Das hier ist so etwas wie Magie im XXL-Format. Jeder Werbefuzzi kann von dieser Beeinflussung nur träumen. Oh, wir sollten uns jetzt aber um Little kümmern, bevor der uns noch weiteren Kummer macht.«

 

Im Treppenhaus begegneten sie einem Pizzaboten, der einen Stapel erfreulich duftender Pappschachteln hochschleppte. Zu beider Erstaunen klingelte der Mann an der Tür von Dorkas Wohnung und wurde von Little eingelassen.

»Ich hatte einfach ein enormes Bedürfnis nach Pizza«, erklärte Little wenig später, als sie in der Küche saßen und in trauter gemeinsamer Verfressenheit versuchten, die enorme Bestellmenge zu reduzieren. Little ging es wieder prächtig, ja, in diesem Fall war er es, der mit blitzenden Augen die gedrückte Stimmung wieder aufhellte. Die drei aßen, bis sie sich wie schwangere Robben fühlten. Tony und Little vernichteten die beiden Flaschen Rotwein, die kostenlos zu der Mega-Bestellung zugegeben worden waren.

»Wenn jetzt mein Arm wieder richtig funktionieren würde, wäre der Tag geradezu gelungen«, urteilte Tony Tanner am Ende des Gelages. Dorkas verbot ihm kategorisch, in seiner eigenen Wohnung zu schlafen. Obwohl Tony das eigene Bett vorzog, hatte er eigentlich keine Lust darauf, zu dieser mitternächtlichen Stunde den Heimweg anzutreten, und so war er über diese Entscheidung ganz froh.

 

Tony nächtigte auf zwei zusammengeschobenen Sesseln, während Little darauf bestand, auf dem Boden zu liegen, weil ihn das an die Sommerlager in den Rocky Mountains in seiner Jugend erinnerte.

Dorkas schnarchte schon bald in seinem Schlafzimmer, und seine Gäste waren angetrunken genug, um trotz hektisch wirkenden Verdauungstraktes auch schnell einzuschlummern.

 

»Herr Tanner …«

Tony fuhr aus dem Schlaf. Wirre Traumbilder wirbelten noch durch seinen Kopf. Er blinzelte in die Helligkeit der Wohnzimmerlampe. Auf seiner Schulter spürte er eine Hand. Es war eine Albtraumsituation, das eindeutige Signal, das irgendeine Katastrophe geschehen war.

Als sich seine Augen an das Licht gewöhnten, erkannte er das Gesicht von Little vor sich.

Ein Blick zur Uhr zeigte, dass es kurz nach drei war. Dann hörte er das Schnarchen aus dem Nebenraum und empfand eine gewisse Erleichterung.

»Suchen Sie die Nummer vom Pizzaservice oder wollen Sie einfach nur ein wenig Ärger haben«, eröffnete Tony mit gebremstem Charme das Gespräch.

»Wenn ich das so genau wüsste«, antwortete Little etwas kläglich.

Nachdem er in sich keinen Impuls verspürte, Little zu schächten oder sich sonst wie für die Unterbrechung der Nachtruhe zu revanchieren, fühlte sich Tony schon wesentlich besser.

Zumindest der Grand Albert war also tatsächlich ruhiggestellt, einen besseren Test konnte es gar nicht geben. Und dieses Wissen war ja auch etwas wert. Versöhnt zog er mit Little in die Küche ab, wo sie sich bei geschlossener Tür um Tee bemühten, der ihnen ein wenig die Promille aus dem Kopf spülte.

»Dann bin ich mal gespannt«, sagte Tony, nachdem er sich einige Tassen gegönnt hatte und sich leidlich klar fühlte.

»Es ist nicht einfach zu erklären.«

»Och, bis der Frühzug geht, haben wir noch viel Zeit …«

 

Little kratzte sich am Kinn. Es gab ein schabendes Geräusch, weil sich die ersten Bartstoppeln durch die Haut drängten. Er suchte nach Worten, formulierte mit lautlos bewegten Lippen die ersten Sätze. Was war es gewesen? Es begann damit, dass John Little von seinem Lager hochfuhr. Er konnte nicht einmal sagen, dass er aus dem Schlaf geschreckt wäre, denn er war in diesem Moment unsicher, ob er tatsächlich wach war oder noch schlief. Er war sicher, dass er eben noch geträumt hatte. Kein besonders aufregender Traum im Grunde, denn er sah nichts als eine Art von Gussform, in dem durch ein Labyrinth von Rinnen rot glühendes Metall floss, als würden sich lange Schlangen vorwärts bewegen. Bei näherer Betrachtung stellte er fest, dass es sich gar nicht um eine Gussform handelte, sondern um eine Art von Stadtplan. Als er die Themse erkannte, war ihm auch klar, dass es sich um einen Stadtplan von London handeln musste. Eine ganze Weile betrachtete Little das Spiel der glühenden Metallstränge. Es erinnerte ihn an ein nächtliches Gleisfeld, durch das sich ein beleuchteter Zug seinen Weg zum Bahnsteig sucht. Hier allerdings war es nicht das sanfte Scheinen der Abteilfenster, sondern ein hartes, geradezu schmerzhaft grelles Licht, das zudem ruckartig vorwärts sprang, verharrte, um dann wieder mit größter Geschwindigkeit seinen Weg zu nehmen.

 

Der Anblick hatte zuerst etwas Amüsantes. Little schaute es an wie einen Film. Dann begann ihn das Bild zu beunruhigen. Die Bewegungen schienen etwas Gewalttätiges, gefährlich Rabiates zu haben, und sie schnitten durch die schlafende Stadt wie ein Skalpell, ohne das diese Stadt sich wehren konnte. Vielleicht schlief diese Stadt ja nicht einmal, vielleicht lag sie in einer Ohnmacht, war in Narkose versetzt worden, während irgendeine Macht ihre Manipulationen durchführte? Aber welche Macht mochte es sein? Je länger Little darüber nachsann, desto beunruhigter wurde er. Schließlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er selbst war ja in dieser Stadt und er selbst war Teil dieses Bildes. Und das bedeutete, dass er auch in Narkose versetzt worden war.

 

An diesem Punkt fuhr Little hoch. Er schnappte nach Luft und roch den muffigen Geruch, den sein verschwitzter Pyjama ausströmte. Seine Unruhe war nicht verschwunden. Sie steigerte sich im Gegenteil, weil er nicht sicher war, ob er sich schon aus dem Traum entfernt hatte oder immer noch in dieser Welt aus Hirngespinsten gefangen war. Die Methode, sich zu kneifen, ging ihm durch den Kopf, aber er schreckte davor zurück. Schwer atmend stützte er sich auf die Ellbogen und versuchte, die Quelle seiner Beunruhigung auszumachen. Er brauchte nicht lange, um die Lichter als Ursache zu erkennen. Es war für Little jetzt, als würde er einen Schmerz spüren und müsste sich nun, zögernd und mit ängstlichem Widerwillen, die Wunde anschauen, die ihn verursachte. Er nutzte seine Fähigkeiten, konzentrierte sich auf das Bild der Lichter und lauschte. Dann fand er sich senkrecht auf seinem Lager stehend wieder.

»Ab da wussten Sie also, dass Sie wach waren?«, kommentierte Tony Tanner sarkastisch.

»Zumindest das wusste ich.«

»Aber nicht nur das!«

»Nein, nicht nur das!« – Erneut suchte Little nach Worten. Er hätte von einer verbrennenden Hitze sprechen müssen, die wie ein Wüstenwind durch die Straßen fauchte. Eine Glut, angefacht von Hass und Wut und einer Gier, die die Wesen durch die Straßenschluchten der Großstadt mit rasender Hast vorwärts peitschte. Denn es war kein kochendes Metall gewesen, das Little gesehen hatte, auch kein Licht. Es waren Spuren von Energie, Leuchtzeichen einer Kraft, die alleine durch ihre Größe und Gewalt unmenschlich wirken musste.

»Sie meinen also, da draußen ist etwas, das durch die Straßen heizt und sauer ist?« Tony Tanner war sich selbst bewusst, dass sein Satz bemüht locker klang. Zu sehr, um nicht genau den gegenteiligen Eindruck hervorzurufen. Tony fühlte ein steigendes Unbehagen. Es bereitete ihm keinerlei Vergnügen, nachts geweckt zu werden und die Botschaft zu erhalten, dass irgendetwas, etwas, das überhaupt nicht nett zu Menschen zu sein schien, dort draußen unterwegs war. Besonders die Ereignisse des Vortages machten ihm klar, dass er Littles Traumbericht nicht ignorieren durfte.

 

Und außerdem war der Tee ausgegangen. Seufzend machte sich Tony daran, diesem Mangel abzuhelfen. Er wirkte eifrig vor dem Küchenschrank und wendete Little den Rücken zu. Es wäre gut gewesen, wenn der Amerikaner ihm geholfen hätte. Sein Arm schmerzte immer noch, und jetzt begannen auch die Narben auf seiner Schulter zu pochen.

»Nehmen wir Orange Pecoe, Earl Grey, grusinischen oder Assam?«

Tonys Frage wurde nicht beantwortet, also entschied er selbst und griff zu der Dose mit dem Assam-Tee. Der herbe Geschmack schien der Stunde und dem Thema angemessen zu sein.

»Ich frage mich«, sagte Tony dann, »ob uns die Sache irgendwie angeht. Und wenn sie uns etwas angeht, dann frage ich mich, warum sie gerade uns was angeht …«

Little schaute ihn verständnislos an.

»Na ja, ich meine, wenn Sie so eine Meldung bekommen, dann bedeutet das ja noch lange nicht, dass wir uns dadurch irgendwie angesprochen fühlen müssen. Oder habe ich das falsch verstanden? Ich will es mal so formulieren, wenn ich jetzt im Radio eine Sturmwarnung für das schottische Hochland höre, dann binde ich doch deswegen noch nicht die Fensterläden fest.«

»Nun ja,«, antwortete Little zögernd. »Im Prinzip haben Sie recht. Ich scheine nicht in einer Phase zu sein, in der ich selbst auf Sendersuche gehe. Es funkt sozusagen in mich hinein.«

»Na also, gehen wir wieder schlafen!«

»Ja, es war nur so …«

Little sackte auf seinem Stuhl förmlich in sich zusammen und begann die Finger zu kneten, als könnte er mit seinem Handschweiß zusammen irgendeine Erklärung herausdrücken.

Tony setzte die Tasse, die er gerade zum Mund führen wollte, und starrte den Amerikaner misstrauisch an. Es gab einen kurzen Moment völliger Stille, in dem beide den Atem anhielten und nur das Knarren des Stuhls hörbar war, auf dem Little nervös rückte.

»Also, ich glaube … ach was … also, da war ein Hilferuf.«

»Ein Hilferuf, ja?«

»Ja, ein Hilferuf«, bestätigte Little. Er klang, als müsste er eine äußerst peinliche Verfehlung beichten.

Tony Tanner blies die Backen auf. Dann klatschte er mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Hilferuf? Was soll’s, Herr Little? Wir sind in London. Da wird ständig um Hilfe gerufen – dünne Ehemänner werden von ihren fetten Frauen verprügelt und rufen um Hilfe, Mittvierziger werden von drallen zwanzigjährigen Blondinen vergewaltigt, indem die Schnuckis ihre glatten, sanft schimmernden Schenkel um deren Fettbäuche schlingen und ihre riesigen, birnenförmigen Brüste mit den steinharten Nippeln in die moralisch zu Recht empörten Gesichter der älteren Herren – na, und dann rufen die um Hilfe …«

Es war nicht nur der völlig entgeisterte Blick Littles, der Tony abbrechen ließ. Er fuhr sich über die Stirn und legte sein Gesicht dann in beide Hände. Als er wieder aufblickte, war es, als wäre er aus einem anderen Raum zurückgekommen.

»Verzeihung«, sagte Tony, »ich weiß, ich rede Unfug. Ich bin zurzeit einfach nicht in optimaler Verfassung.« Wann je?, lautete der Kommentar, den seine innere Stimme dazu abgab.

»Ich fürchte, in dieser Hinsicht bilden Sie keine Ausnahme in unserem Trio.«

»Also – alles auf null. Was für ein Hilferuf?«

»Ich kann es nicht erklären. Es war nicht einmal so, dass da jemand Hilfe gerufen hätte. Ich hatte nur das absolut sichere Gefühl, dass irgendwer Unterstützung brauchte.«

»Und diese Unterstützung wollte er von Ihnen, respektive von uns, Herr Little?«

»Ich fürchte, genau so war es.«

 

Nach zwei Tassen Tee raffte sich Tony auf. »Wecken wir Dorkas.«

Aus dem Schlafzimmer drangen noch immer lautstarke, sägende Geräusche, unterbrochen von Prusten und Schmatzen. Die Geräuschkulisse zwang mit geradezu logischer Notwendigkeit Bilder von riesigen Wassertieren, die vor lauter Atemnot an die Oberfläche kommen, vor das geistige Auge.

Zaghaft klopfte Tony an die Tür. Ihm war keinerlei Erfolg beschieden, auch dann nicht, als er die Lautstärke seines Klopfens steigerte, bis es sich schließlich an Dorkas’ Geräuschemissionen angepasst hatte. Hilfe suchend blickte Tony auf Little, aber der war gerade in diesem Moment sehr damit beschäftigt, sich ein Taschentuch vor die Nase zu halten.

Seufzend öffnete Tony die Tür ein wenig, schob die Hand durch den schmalen Spalt, tastete nach dem Lichtschalter und knipste die Lampe an. Das Schnarchen veränderte sich, wurde von einem zornigen Fauchen unterbrochen und verfiel dann erneut in den altbekannten Rhythmus.

Obwohl Tony diesen Raum kannte, überfiel ihn dennoch das unerfreuliche Gefühl, etwas wenn nicht Verbotenes, so doch zumindest etwas völlig Unangemessenes zu tun, als er sich nun durch die Tür schob. Erst als er im Raum war, fiel ihm ein, dass es keinen Grund gab, die Tür nicht völlig zu öffnen, und ein kleiner Ärger stieg in Tony Tanner auf.

 

Das Schlafzimmer erinnerte wie alles in der Wohnung von Dorkas an eine Mischung aus chaotischem Kinderzimmer und Bibliothek. Die Bücher, die eigentlichen Herrscher in den vier Wänden, hatten sich auch hier wie verwöhnte Katzen breitgemacht und lagerten in Regalen oder dösten auf Kissen und Stühlen. Dazwischen hatte Dorkas seine Kleidungsstücke verteilt. Für Tony sah es aus, als würden hier mindestens vier Menschen undefinierbaren Geschlechts, aber eindeutig verminderten Ordnungssinns hausen. Einzig seine neu erworbene und hochmodische Krawatte war mittels eines patentierten Aufhängers am Kleiderschrank wie an einem Totempfahl aufgehängt.

Ein riesiges Federbett, seinerseits von einer babyblauen Decke überzogen, bauschte sich auf der Schlafstatt auf. Von Dorkas war nichts zu sehen, allerdings diente das Schnarchen als eindeutiger Hinweis, wo er sich aufhielt. Nachdem er in die Knie gegangen war, entdeckte Tony zwischen Federbett und Kissen einen Teil von Dorkas. Sein Gesicht, oder zumindest dessen sichtbarer Teil war von kleinen Schweißperlen bedeckt. Die wenigen Haare klebten an der Stirn und erinnerten an das Craquelé einer Porzellantasse. Der warme Stallmief des Schlafenden stieg von dem Lager auf. Es war für Tony ein seltsames Gefühl, das Gesicht des anderen Mannes in der absoluten Schutzlosigkeit des Schlafes vor sich zu haben. Es gab ihm für einen Augenblick das Gefühl absoluter Überlegenheit, fast so, als würde er auf eine leblose Steinfigur schauen. Das Gefühl schwand schnell und wich der Frage, ob nicht vielleicht Dorkas Herr der Situation war, schon darum, weil er sich so weit von allem entfernt hatte.

 

Trotz der kriegerischen Geräusche, die er von sich gab, wirkte Dorkas völlig entspannt und geradezu kindlich. Es lag sogar etwas von reiner, ungetrübter Heiterkeit auf seinen Zügen und Tony fragte sich unwillkürlich, ob er Dorkas jemals auf diese Art erlebt hatte – auf eine Weise, von der das Gesicht behauptete, sie sei möglich. Nein, sagte er sich dann, wir müssen wohl tief schlafen, um bis zu diesem Punkt zu kommen. Dann nannte er sich selbst einen sentimentalen Trottel und streckte die Hand aus, um Dorkas wach zu rütteln.

Wie nicht anders erwartet, brauchte er auch hier Energie und Ausdauer. Schließlich mündete das Schnarchen in ein letztes heulendes Stakkato, in dem sich Protest und Trauer um den verlorenen Tiefschlaf mischten, und Dorkas zwängte seinen trüben Blick durch ein halb geöffnetes Lid.

»Was ist los?«, brummelte er, und wurde in diesem Moment von Misstrauen erfasst. Er öffnete erst das eine Auge ganz, dann klappte er langsam auch das andere auf und blinzelte mürrisch in die Helligkeit. Schließlich wurde ihm die Situation bewusst. Er wischte sich über den schweißnassen Schädel und lief rot an.

»Ich hoffe, Sie haben eine Erklärung für diese abrupte Unterbrechung meiner gesundheitlich wichtigen Tiefschlafphase, Herr Tanner.«

»Erstens möchte ich, dass auch Sie dieses Gefühl genießen, weil ich es nämlich schon erfolgreich überstanden habe. Und zweitens hat Ihr Gefährte Little Ihnen einiges zu erzählen. Ich dachte, es würde Sie interessieren. Und bevor Sie nachfragen – ja, auch zu dieser nachtschlafenden Zeit.«

Damit entfernte sich Tony aus dem Schlafgemach des Wissenschaftlers und hätte es sogar mit einer gewissen Eleganz geschafft, wenn er nicht über die auf dem Boden verteilten Treter von Dorkas gestolpert wäre.

 

Dorkas selbst trieb seinen Blutdruck unerwartet schnell in die Höhe. Er schlurfte ins Badezimmer, ließ das Wasser laufen und gab prustende Geräusche von sich, die in ihrer akustischen Gemeinheit seinem Geschnarche gleichkamen. Dann schlappte er, eingehüllt in seinen antiken Bademantel und Wolken eines unklaren Eau de Toilette-Geruchs in die Küche und füllte sich in verbissener Konzentration mit Tee ab, während er Littles Bericht lauschte.

Es entging Tony keineswegs, dass Little fast dieselben Worte benutzte, die er bei der ersten Erwähnung der inneren Geschehnisse gegenüber Tony gewählt hatte. Zumindest machte sich der Amerikaner keiner poetischen Ausschmückungen schuldig.

»Energie also?«, fragte Dorkas.

»So habe ich es empfunden«, bestätigte Little.

»Individualisierte, extradimensionale Energiequanten«, rief Dorkas und schaute sich Beifall heischend um. Er wurde enttäuscht. Zwei Augenpaare, in denen sich blankes Unverständnis spiegelte, waren ihm zugewandt.

»Zumindest Sie als psychologisch geschulter Mensch sollten mich verstehen, Herr Little«, murmelte Dorkas merklich kleinlauter. Little schüttelte nur den Kopf.

»Na gut.« Jetzt hatte Dorkas den patzigen Unterton eines vergrätzten Mädchens. »Soll ich vielleicht Dämonen sagen, wäre Ihnen das lieber?«

»Ich würde mir genauso veräppelt fühlen, aber auf einer anderen Ebene«, brachte Tony heraus.

»Auch von Ihnen hätte ich mehr Offenheit für die wissenschaftlichen Fakten erhofft, Herr Tanner!«

»Wissenschaftliche Fakten? Ich darf also davon ausgehen, dass die Exorzisten des Vatikans energische extrabreite Individuen oder was auch immer zum Teufel schicken? Das hilft mir verständnistechnisch kein bisschen weiter.«

»Müssen wir zu dieser Stunde eine Grundsatzdiskussion führen«, meckerte Dorkas. Dabei schob er die Füße unter den Tisch und machte deutlich, dass er keinerlei Probleme damit hätte, zu dieser Stunde eine Grundsatzdiskussion zu führen.

»Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen – nehmen wir mal an, es gäbe eine Art von Menschen, die nur die Länge und die Breite kennen und von Höhe keine Ahnung haben. Diese Wesen würden in ihren zwei Dimensionen glücklich leben, und irgendein Kant würde auch eindeutig nachweisen, dass diese beiden Dimensionen ausreichen und man keine Gedanken über drei Dimensionen verschwenden sollte. Also, wenn ich jetzt in diese Welt käme, dann könnte ich auftauchen und verschwinden, einfach, indem ich ein wenig hüpfe, also die dritte Dimension nutze. Das sollte doch einleuchtend sein. Nächster Punkt: Vielheit der Dimensionen. Mathematisch stellt das kein Problem dar. Der so genannte gesunde Menschenverstand allerdings hat in dieser Hinsicht seine Blockaden. Wahrscheinlich ist das nichts als ein natürlicher Schutzmechanismus zur Vermeidung der Überdehnung. Oder so ähnlich.

Jedenfalls gibt es keinen Grund, warum nicht in diesem Moment ein Ozeandampfer durch dieses Zimmer rauschen sollte oder ein Schnellzug, allerdings in einer anderen Dimension, daher merken wir es nicht. Wenn wir so weit sind, kommen wir zurück zu meinem Beispiel, in dem ich als glorreicher Supermann in der Zweidimensionalität wirke.«

»Nehmen wir mal an, ich hätte Ihre Ausführungen verstanden. Diese Dinger kommen also aus einer anderen Dimension – man, selbst wenn ich es sage, klingt es bescheuert.«

»Sie waren auch schon mal seriöser, Herr Tanner. Aber es ist genau so. Sie kommen aus einer anderen Dimension. Und wenn ich von Energie spreche, dann meine ich damit auch, dass alle Materie bekanntermaßen zugleich eine Form von Energie ist und umgekehrt.«

»Bekanntermaßen …«

»Was habe ich von dem Hilferuf zu halten?«, mischte sich Little ein.

»Ja«, Dorkas räusperte sich. »Man sollte dem nachgehen. Ich habe da einen Verdacht …, man muss einfach los, Little, Sie führen …«

»Nur kein Zwang. Ich passe inzwischen auf Ihre Wohnung auf«, sagte Tony Tanner.

 

Als er auf die Straße trat, wurde Tony die Dunkelheit erst richtig bewusst. Sie lag schwer über den Hausdächern, mit einem Gewicht, das fast körperlich spürbar war, und vermischte sich mit der Müdigkeit, die träge unter seiner künstlichen Aufgedrehtheit ruhte. Die Luft war kühl. Ihm fröstelte und Tony steckte die Hände tief in die Taschen, ohne an ausgebeulten Stoff zu denken. Er schaute sich zu Little um.

»Links oder rechts?«

»Keine Ahnung«, sagte Little. »Aber ich glaube links.«

»Sie sind der Chef.«

Little ging vor und hielt dabei den Kopf schräg, als müsste er auf etwas lauschen. Tony war froh, dass sich zu dieser Stunde kein Passant auf der Straße blicken ließ. Die Häuser waren dunkel und abweisend. Zwischen den Straßenlaternen lagerte die Nacht, und wenn sie sich dem Licht näherten, huschten ihre Schatten lautlos heran und sprangen über abgestellte Autos und kletterten an Hausfassaden entlang. Es hätte Tony nicht im geringsten gewundert, wenn sich sein Schatten plötzlich selbstständig gemacht hätte. Nur wenn Dorkas dafür keine wissenschaftliche Erklärung gehabt hätte, wäre das ein Anlass zur Verwunderung gewesen.

 

Sie liefen durch einige Straßen, bis Tony den Verdacht nicht mehr los wurde, dass Little die Orientierung verloren hatte. Gerade als er zur Vorsicht nachfragen wollte, blieb Little stehen.

»Merken Sie das?«, fragte er.

Was sollte Tony merken? Er blickte sich um, lauschte, schnüffelte und zuckte dann die Achseln. Little stand einige Schritte von ihm entfernt mitten auf der Straße und winkte ihn heran. Als Tony zur Straßenmitte ging, erkannte er, was Little gemeint hatte. Unvermittelt spürte er Wärme auf der Haut. Es war mehr als die freundliche Wärme, die abends von einer sonnenerwärmten Straße aufsteigt und Vögel und andere Tiere anzieht. Für ihn war sofort klar, instinktiv, ohne dass er weiter darüber nachdenken musste, dass hier die letzten, eben noch erträglichen Ausläufer einer verbrennenden, tödlichen Hitze an seine Haut schwemmten.

»Hier sind sie entlang gekommen«, murmelte Little. »Und wir müssen hier lang. Ich höre Lärm. Ich meine … Sie verstehen schon, nicht wahr?«

Sie verfielen in einen Laufschritt und eilten die Straße entlang. Es war nicht allein die Anstrengung und nicht nur die unnatürliche Wärme, die ihnen den Schweiß aus den Poren trieb.

»Dort hinten«, keuchte Little. Tony Tanner hatte den Mann schon gesehen, der auf dem Gehsteig lag und sich mühte aufzustehen.

Dann spürte er eine plötzliche Hitze im Nacken, die wie ein schartiges Rasiermesser über seine Haut kratzte. Sie kam völlig unerwartet, geräuschlos, ohne Vorwarnung. Wie eine stille Lawine fegte sie die Straße entlang und ließ die Luft im Schein der Laternen kochen wie flüssiges Glas. Erschrocken sprangen Little und Tony zur Seite. Schon nach zwei, drei Schritten waren sie wieder in der kühlen Nachtluft. Das alles hat nichts mit dem zu tun, was ich über Physik gelernt habe, dachte Tony. Nicht einmal das stimmt mehr.

»Sie sind da«, flüsterte Little. Dann drückte er die Finger gegen die Schläfen und krümmte sich.

 

Boo Little taumelte und konnte sich nur mit größter Mühe auf den Beinen halten. In seinen Kopf drängte sich Lärm, der ihn fast um den Verstand brachte. Es war das Brüllen vieler wütender Stimmen in einer fremden, wenig wohlklingenden Sprache voller hastiger RLaute und kehliger ch. Nur mit größter Konzentration gelang es ihm, sich von diesem Lärm zu befreien. Er war sich jedoch sicher, dass er etwas vernommen hatte, das sich in unmittelbarer Nähe abspielte. Er wurde gerufen. Er musste eine Botschaft entgegennehmen. Er wurde herangewinkt, angesaugt, herbeigefleht, und bei allem schien die Zeit zu drängen. Am liebsten hätte Boo Little einen Schalter herumgelegt und alles wäre still und dunkel gewesen. Aber es gab keinen solchen Schalter.

Auch Tony Tanner hatte sich jetzt gestrafft und lauschte aufmerksam. Er glaubte, einen leise sirrenden Ton gehört zu haben, wie von einer weit entfernten Turbine und fragte sich, ob es von einem der Nachtfalter stammen könnte, die in der Nähe um die Laternen kreisten oder ob es eine andere Ursache hatte.

 

Little hatte sich wieder unter Kontrolle. Seine Beine setzten sich wie von selbst in Bewegung. Zögernd näherte er sich dem liegenden Mann. Der hatte seine Versuche, sich aufzurichten aufgegeben und lag nun zitternd und zuckend auf dem Pflaster. Auf Little wirkte er wie ein großer sterbender Fisch auf dem Trockenen. Im Näherkommen bekam Little schon den Furcht einflößenden Gestank von verbranntem Fleisch in die Nase. Er kämpfte gegen seine aufsteigende Übelkeit. Als er den liegenden Mann jetzt genauer betrachtete, begann sich Littles Magen vollends zu verkrampfen und lag wie eine große, mühsam geballte Hand in seinem Körper.

Little trat an dem Mann heran. Irgendwie schaffte er es, den natürlichen Fluchtinstinkt zu überwinden. Noch niemals hatte Little einen derart schwer verstümmelten Menschen zu Gesicht bekommen. Mit einem Anflug von Panik wurde ihm gewahr, dass er hier nicht das Werk von Hollywood-Maskenbildern vor sich hatte. Der Mann atmete rasselnd, als würde eine schlecht eingestellte Mechanik in ihm ihr Werk verrichten. Trotzdem hörte er Littles Schritte und wandte sich mühsam zu ihm um.

 

Das Gesicht des Mannes war völlig verbrannt. Kein einziges Haar bedeckte den Schädel, die Haut war verschwunden und das rohe, rote, feucht schimmernde Fleisch glänzte im Licht der Straßenlaterne. Der Mann hatte alle individuellen Züge verloren und wirkte auf Littles wie ein sich bewegendes Anatomiepräparat. Die Nase war verschwunden, die Lippen waren nur noch Überreste vorhanden und gaben den Blick auf das Gebiss frei. Die Lider waren verdorrt, die Augen standen rund und fremdartig in der rot schimmernden Fleischmasse. Sie schauten Little an und der Gedanke durchzuckte Little, dass in diesen Augen keine Panik und kein Schwerz erkennbar waren, was er für eine Auswirkung eines Schocks hielt.

Der Mann lag in einer Blutlache, das erkannte Little jetzt. Seine Kleidung war zerfetzt, durch die Risse im blutverschmierten Stoff schimmerten tiefe längliche Wunden, die aussahen, als seien sie von Krallen gerissen worden. Obwohl er sich völlig hilflos fühlte, kniete Little neben dem Verwundeten. Er suchte nach irgendeinem Satz, den er sagen konnte, um seine Hilflosigkeit zu verbergen. Was ihm einfiel, waren nichts als banale Versatzstücke aus Filmdialogen. Hilflos schaute Little hinüber zu Tony Tanner. Aber der achtete nicht auf ihn.

 

Tony Tanner wurde von einer Empfindung völliger Unwirklichkeit gelähmt. Er sah, wie der Asphalt unter der Hitze weich wurde und Blasen trieb. Die Hitze pulsierte, manchmal berührte sie ihn sogar, als würde sie sich aufblähen. Dann vernahm Tony ein fernes Dröhnen. Sein Geist suchte fieberhaft nach einer Erklärung und fand sie in einem Gewitter. Als ihm diese Vermutung wegen der kühlen, klaren Nacht gleich darauf unsinnig erschien, versteifte er sich darauf, dass es eine Flugzeugturbine sein musste, die diesen Ton hervorbrachte. Aber der Ton wurde lauter und ließ keinen Zweifel mehr zu, aus welcher Richtung er kam. Er entstand direkt vor Tony, in der hitzeflirrenden, glasigen Luft. Das Dröhnen verstärkte sich mehr und mehr. Es wurde so stark, dass es die Luft zum Pulsieren brachte. Dann zeigten sich in den wabernden Luftmassen erste Schlieren. Sie tanzten wie die heiße Luft über dem Wüstenboden. Sie begannen, sich zu vereinen, gewannen an Dichte, bis sie schließlich dem entsetzten Blick Tony Tanners Widerstand boten wie farblose Kristalle, die sich in einer gesättigten Lösung bilden.

 

Die Szene hatte nicht den Glanz, das Sensationelle, Farbige oder Spektakuläre, das ihm aus manchen TV-Serien bekannt war. Sie entwickelte sich vielmehr mit der bitteren Zähigkeit eines Verkehrsunfalles, der auch nach dem dritten oder vierten Hinsehen immer noch ein unbestreitbares Faktum bleibt, selbst wenn das Verstehen dem Erkennen hinterherhinkt. Tony

Tanner merkte, wie sein Körper an Spannung verlor. Er stand mit hängenden Armen und Schultern, mit nach vorn geneigtem Kopf da und merkte, wie schwer es ihm fiel, sich aufrecht zu halten. Vielleicht mochte sich der erste Insulaner, der Kolumbus und seiner Mannschaft am Strand begegnete, so gefühlt haben. Tony wurde von dem atemberaubenden Bewusstsein überwältigt, dass solche Dinge nicht geschehen durften. Wenn er am Horizont einen aufsteigenden Atompilz erblickt hätte, wenn er seine Arbeitsstelle verloren oder ihm der Arzt gesagt hätte Tut mir leid, Herr Tanner aber länger als zwei Wochen machen Sie es nicht mehr, dann wäre dies schrecklich, aber diese Schrecklichkeit hätte sich immer noch in einen Rahmen einfügen lassen. Hier aber, wo sich vor seinen Augen die flimmernde Luft verdichtete und die Umrisse einer Gestalt sich langsam abzeichneten, gab es keinen Halt, keine Erklärungen, keine Kategorien mehr. Dreihundert Jahre Aufklärung – Newton, Descartes, Leibniz, Kant und wer auch immer – wurden in Tony Tanners Kopf weggewischt wie der Kakaofleck vom Frühstückstisch, und er fühlte sich ausgesetzt und hilflos.

 

Ein wütendes Gefühl in seinen Schulterblättern ließ ihn zusammenzucken. Es war eine Erinnerung daran, dass er trotz allem noch existierte – ein Wesen aus Fleisch und Blut, mit einem völlig verwirrten, aber immer noch weitgehend brauchbaren Denkvermögen. Schritt für Schritt zog sich Tony zurück und wickelte sich dabei seine Peitsche vom Handgelenk. Er war für einige Sekunden abgelenkt. Als er wieder aufblickte, hatte sich die Gestalt so verfestigt, dass sie im Licht der Laterne einen Schatten warf. Sie wirkte immer noch wie ein nicht völlig entwickeltes Foto. Aber jetzt, als er sie sah, als er Arme, Beine und eine Art Kopf unterscheiden konnte, fühlte Tony fast so etwas wie eine Befriedigung, weil er hinter dem Schleier des völlig Unglaublichen etwas erkannte, das sich wieder in sein Weltbild einfügen ließ.

Damit war seine Befriedigung allerdings auch schon an der Grenze ihrer Kapazität angelangt.

Was sich dort mitten auf der Straße langsam aufrichtete, hatte die Ausmaße eines Grizzlys und die groben Umrisse eines Gorillas. Zwischen breiten Schultern erhob sich ein halsloser Kopf. Im ersten Augenblick dachte Tony Tanner an einen Umhang mit Kapuze, den die Gestalt übergeworfen hatte. Dann war er sich sicher, dass dieser Kopf aus der riesigen Schultermuskulatur herauswuchs – wenn diese Kreatur denn so etwas wie Muskeln haben sollte …

 

Von den Schultern hingen bis fast zum Boden zwei stämmige Arme. Der lang gestreckte Oberkörper lief in zwei kurze säulenartige, elefantenähnliche Beine aus. Langsam formte sich so etwas wie ein Gesicht. Zwei große, schwarz schimmernde Flächen erinnerten an Augen, darunter zog sich ein kurzer, waagerechter Schlitz durch die weiße Haut. Eine Art von Lippen säumte ihn wie ein schlaff herabhängender Vorhang. Das Wesen drehte die Schulter in Richtung auf Little, der immer noch neben dem Verletzten kniete und bewegungslos, wie starr vor Angst, herüberblickte. Dann wandte sich es sich zurück und tat einen Schritt auf Tony Tanner zu. Die Bewegung wirkte langsam und ungeschickt, ein Arm wurde zur Seite abgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten. Aber unter dieser scheinbaren Unbeholfenheit spürte Tony sofort die Absicht. Er hatte nicht erwartet, dass dieses Wesen ihn zu einem Tee einladen würde. Dennoch spürte er jetzt die Aggressivität des anderen wie eine Brandungswelle, die ihn unter sich begrub.

 

Tony Tanner bestand diese Prüfung nicht. Es nahm ihm den Atem und machte die Knie wachsweich. In seinem Denken fand nur noch der Gedanke an Flucht Platz – gefolgt von dem Gedanken, dass jede Flucht unmöglich war. Die Hitze, die das Wesen umgab, erfasste auch ihn. Sie berührte seine Haut, zwang ihn zu einem instinktiven Rückzug, bis das unerträgliche Brennen wieder nachließ.

Tonys Hand griff in die Tasche. Die Idee, die ihm gerade gekommen war, war absurd, aber er steckte bis zum Hals in Absurdität, wenn nicht noch tiefer. Er hatte ein äußerst distanziertes Verhältnis zu Funktelefonen und besaß seines nur aus beruflichen Gründen, hatte aber einige private Nummern eingespeichert. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass ihn die Technik nicht im Stich lassen würde. Er drückte mit zitternden Händen die Tasten, behielt dabei immer noch die Gestalt im Blick. Mit einem schleifenden Geräusch näherte sie sich ihm wieder Stück und wieder glaubte er, sein Herz müsste unter dem Ansturm ungebremster Drohung stehen bleiben.

»Dorkas?«

Die vertraute Stimme wirkte in diesem Augenblick wie ein Rettungsanker. Sie war ein Zeichen, dass es noch so etwas wie Normalität gab.

»Tanner hier. Laufen Sie in Ihren Laden und nehmen Sie die Statue von dem Buch. Schnell.«

An Tonys Ohr drang zuerst nur das Geräusch von Atemzügen. Dann räusperte Dorkas sich. »Herr Tanner, geht es Ihnen gut? Ich verstehe nicht so ganz …«

»Die Statue vom Buch runter! Machen Sie schnell!«

Damit unterbrach Tony die Verbindung. Er wich erneut einen Schritt zurück, stolperte über den Randstein und taumelte rückwärts auf den Gehsteig.

Das Wesen folgte ihm. Umgeben von einer Aura aus flirrender Luft schob es sich vorwärts. Unter den Elefantenfüßen schmolz der Asphalt und zeigte runde Trittspuren. Ein Gartenbaum streckte einen Ast über den Gehsteig. Tony konnte deutlich sehen, wie die Blätter sich unter der Hitze schlagartig braun färbten und dann einrollten. Wieder drückte er sich ein Stück nach hinten. Die Bewegung fiel schwer, als würde der Befehl an seine Beine erst den Instanzenweg eines Behördenhauses durchlaufen müssen. Es war eine Verfolgungsjagd, erkannte Tony Tanner. Eine in Langsamkeit erstarrte Verfolgung, absurd wie die ganze Situation und ebenso tödlich. Mit äußerster Anstrengung gelang ihm noch ein Schritt zurück. Es reichte gerade, um dem Hitzeschwall zu entgehen. Trotzdem schien es, als stünde er vor einer aufgerissenen Ofentür. Die Gestalt vor ihm, drehte sich in den Schultern, verlagerte das Gleichgewicht und schob ein Bein vor.

 

Little beobachtete dieses langsame Duell. Er musste zusehen, wie Tony Tanner bewegungslos auf dem Gehsteig stand, während sich die übergroße Gestalt an ihn heranschob und ihn inzwischen schon mit ihrer Hitzeaura erfasste. Boo Little spürte, dass das Wesen aus dem Dunkel nur eine Aufgabe hatte. Und diese bestand darin, den Boten daran zu hindern, seine Nachricht zu übermitteln.

Jetzt konnte Little sich auch denken, woher die fürchterlichen Verbrennungen stammten, die der Verwundete neben ihm erlitten hatte. Bei diesem Gedanken wandte Little unbewusst den Kopf zur Seite. Obwohl er direkt neben dem Liegenden kniete, hatte er es nicht über sich gebracht, das zerstörte Gesicht noch einmal anzuschauen. Jetzt fuhr sein Kopf herum. Auch der Verwundete hatte den Kopf gedreht und schaute gegen eine Hauswand. Sein Atem war nur noch ein hastiges, rasselndes Luftschnappen. Eine weiße Sehne, die sich am Hals spannte, zeigte, wie groß die Anstrengung für ihn war. Der Mann starb, dennoch verplemperte er den Rest an Kraft damit, den Kopf anzuheben und mit aller Kraft gegen die Hauswand zu starren.

Littles Blick wurde förmlich mitgesogen und gegen diese nebensächliche, banale Hauswand gestoßen. Er versuchte zu erkennen, was den Sterbenden so anzog. Der Mann krampfte sich jetzt zusammen, als wäre ein Stromschlag durch ihn gefahren. Er presste die zitternden Arme vor die Brust, ballte die Hände zu Fäusten und atmete röchelnd. Dann beugte sich Little vor. Er glaubte, eine Veränderung an der Ziegelmauer erkannt zu haben. Für einen kurzen Moment schimmerte über den rötlichen Ziegeln und den grauen Fugen eine Folge von Gold schimmernden, scheinbar brennenden Buchstaben. Die Vision dauerte kaum zwei Sekunden, dann fiel der Kopf des Mannes mit einem hässlichen Knacken kraftlos auf das harte Pflaster. Unsicher knetete Little die Hände. Er fühlte sich verpflichtet, dem Toten die Augen zu schließen, aber es gab keine Lider, die er mit der theatralischen Geste hätte zudrücken können. Die Sache machte ihn plötzlich wütend.

 

Ein Schrei ließ Little herumfahren.

»Willst du blöder, verschissener Stinker wohl dahin verschwinden, wo du hingehörst«, brüllte Tony Tanner außer sich vor Wut. Little stand auf.

»Sie wollen mit Ihrem dämlichen Geschrei wohl die ganze Gegend aufwecken«, schrie er sich sein Entsetzen aus dem Leib.

»Wenn Sie täten, was Sie mich könnten, käme ich nie mehr zum Sitzen«, giftete Tony Tanner zurück. Er warf Little einen hasserfüllten Blick zu. Die monströse Gestalt nutzte diesen Moment, um wieder näherzurücken. Tony Tanner verschwand in der flimmernden Luft und wirkte wie eine Fata Morgana über der mittäglichen Wüste. Das schwarze Ende der Peitsche stach wie eine Schlange aus dem Flimmern heraus. Die Wut, die plötzlich wieder in Tony kochte, trieb ihn zum Angriff. Er spürte die knallende Kraft, die von der Peitsche in seinen Arm strömte. Und es gab genügend rot kochende Wut in seinen Gedanken, um alle Blockaden zu überwinden.

Mit aller Kraft schlug er zu. Es reichte gerade, um die Peitsche ins Ziel zu bringen. Die Luft um ihn schien nicht nur zu kochen, sie hatte sich allem Anschein nach auch verfestigt und bot seiner Waffe einen unerwarteten Widerstand. Tony riss die Peitsche zurück. Die Hitze brannte bei jedem Atemzug in seiner Lunge, dörrte ihm Hals und Gaumen aus, als wäre dort nur noch rohes Fleisch. Es machte ihn fast rasend vor Wut und gab ihm die Kraft für einen zweiten Schlag. Wieder glaubte Tony, seine Waffe mit brutaler Kraft losgeschleudert zu haben. Und wieder wurde alle Energie aufgesaugt und die Bewegung verlangsamte sich, als würde ein Film angehalten. Das Atemholen wurde zur gigantischen Anstrengung. Die ausgetrockneten Schleimhäute brannten, die Luft floss wie Säure durch seine Kehle. Er schwankte und wurde sich bitter bewusst, dass er am Ende war. Diese Erkenntnis stachelte seinen gesamten Zorn ein letztes Mal an. Mit einem Schrei, der nicht mehr als ein Gurgeln war, legte er alle Kraft, die ihm noch blieb in den letzten Schlag.

 

Sein Gegner war ihm noch einmal näher gerückt. In jeder Pore Tonys schien ein Feuer zu brennen. Er hob den Arm und ließ ihn zu Boden schnellen. Die Peitschenschnur wand sich, wurde langsamer, schien stehen zu bleiben. Für einen Herzschlag berührte ihr Ende die Gestalt. Der Schlag war so abgebremst, dass er nicht einmal mehr eine Fliege beeindruckt hätte. Trotzdem zuckte Tonys Gegner zurück. Die Gestalt drehte sich, dann begann sie zu flimmern und ihre Konturen zu verlieren. Zuerst verschwand das Gesicht mit den übergroßen schwarzen Augen. Damit gewann Tony auch wieder die Kontrolle über seine Gliedmaßen zurück. Er konnte nach hinten hüpfen und die köstlich kühle Nachtluft einatmen. Vor ihm verschwand sein Gegner in einem Schwall von kochender Luft. Dann erklang erneut das ferne Dröhnen.

»Ging das nicht vielleicht was schneller?«, grölte Little. »Das war ja wohl absolut ein Fall für das Altersheim.«

Tony Tanner wollte auf Little zuschießen, um dem Amerikaner die verdiente Tracht Prügel zu verpassen. Zwei Dinge hielten ihn ab. Sein rechter Arm begann unkontrollierbar zu zucken, und irgendwo wurde rasselnd ein Rollladen hochgezogen.

»Gleich gibt’s was auf die Fresse«, versprach Tony und rannte los.

»Da möchte ich dabei sein.« Little schloss sich der Flucht an und galoppierte hinterdrein.

 

Es fiel Tony wahrhaftig nicht leicht, mit seinem fast unbrauchbaren, zuckenden Arm schnell zu laufen. Nach einigen Straßenecken hielt er an und griff sich das Telefon. Keuchend hielt Little neben ihm.

»Nur noch ein Telefonat – und dann kreist der Hammer, dann gibt’s was auf die Zwölf, dass Ihnen die Kniescheibe durch den Kopf wächst!!!«

»Dorkas?«

»Wo kommen Sie denn her? Haben Sie schon wieder gepennt oder warum brauchen Sie so lange zum Telefon?«

»Suchen Sie sich ein anderes Opfer, um ihren Unfug loszuwerden – ich habe direkt neben dem Telefon gesessen.«

»Ich habe direkt neben dem Telefon gesessen, ich habe direkt neben dem Telefon gesessen«, äffte Tony Tanner nach. »Dann leiden Sie unter fortschreitender Paralyse. Hören Sie Dorkas, heben Sie Ihren Fettarsch in die Höhe und stellen Sie die … verkack … Mist-Statue auf das …«

»Den Teufel werd’ ich tun, Rotzlöffel!«, krakeelte Dorkas wutschnaubend und schmiss den Hörer auf die Gabel. Trotzdem schlurfte er böse brabbelnd in seinen Laden. Er musste einen starken Impuls überwinden, die Statue des Hermes Trismegistos in Stücke zu schlagen.

Er stellte sie auf das Buch und wunderte sich im selben Moment, dass ein Mann wie er, der sich eines Wortschatzes rühmte, der demjenigen Shakespeares gleichkam, von Tony Tanner noch Begriffe lernen konnte, die ihm bis dahin unbekannt waren.

Fortsetzung folgt …