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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.4

Wo die Erde blutet – Teil 4

Sie lauschten. Tatsächlich, jetzt hörte es auch Dorkas. Aus der Tiefe des Tales erklang das lang gezogene Heulen eines Hundes und wurde von den Hängen als Echo zurückgeworfen.

»Wir müssen bald da sein.«

»Sollten wir nicht besser aussteigen und zu Fuß gehen?«

»Und vielleicht einem Köter begegnen, der hier frei herumläuft? Kein Bedarf. Fahren Sie los, hübsch langsam, aber das brauche ich Ihnen ja gar nicht zu sagen.«

»Glauben Sie, dass diese oben offene Plastikkiste bei einem angreifenden Hund hilft?«

»Vielleicht weiß der Hund ja nicht, dass es Plastik ist. Müssen Sie eigentlich immer so hemmungslos destruktiv sein, Herr Little?«

 

Nach einigen Hundert Metern, die eine unendlich lange Strecke zu sein schienen, sahen sie das Gebäude. Vom Kamm zur Rechten teilte sich eine Felsrippe und lief leicht ansteigend auf den Querhang des Berges zu, der das Tal abschloss. Dort oben, auf einer Verbreiterung, die von steil abfallenden Wänden begrenzt wurde, thronte das Kloster. Es lag noch im Sonnenschein, dennoch war wenig mehr zu erkennen als eine Ansammlung von Gebäuden aus hellbraunem Mauerwerk und mit roten Ziegeldächern, über der sich ein wuchtiger Kirchturm erhob.

»Späte Romanik, sehr eindrucksvoll«, meinte Dorkas mit Kennerblick, nachdem er eine Weile mit halb zusammengekniffenen Augen beobachtet hatte. »Von hier unten ist wenig zu sehen, aber das niedrige Gebäude auf der rechten Seite scheint so eine Art Torhaus zu sein.«

»Das nutzt uns jetzt nicht viel.«

»Doch, es sagt uns, wo wir es erst gar nicht zu probieren brauchen. Wir müssen versuchen, von oben heranzukommen. Eben ging doch ein Waldweg nach links ab. Versuchen wir den.«

 

Im Schritttempo kroch der Mehari heulend durch die ausgefahrene Fahrspur, kratzte immer wieder mit dem Unterboden auf der Erde oder blieb mit durchdrehenden Reifen in einem Schlammloch hängen. Als selbst mehrmaliges Vor- und Zurückrollen des Wagens nicht half, ihn freizubekommen, schaute Little erwartungsvoll auf Dorkas. Der blickte unschuldig zurück, reagierte nicht einmal auf den Daumen, mit dem sein Fahrer ihn zum Aussteigen aufforderte. Erst eine längere und ziemlich temperamentvoll vorgetragene Einführung in die Welt der Realitäten zwang Dorkas aus seinem Sitz und ließ ihn am Fahrzeugheck Position beziehen.

»Fertig?«

»Fertig!«

»Los!«

Little gab Vollgas, und Dorkas stemmte sich keuchend mit seinem gesamten Gewicht gegen das Fahrzeug. Die Reifen sirrten, griffen in festen Untergrund, und der Wagen machte einen Sprung vorwärts. Little fuhr weiter, bis er gefahrlos anhalten konnte und wartete, dass sich Dorkas aus dem Schlamm erheben und nachkommen würde.

»Sollen wir tauschen?«, fragte Little boshaft.

 

Dorkas würdigte ihn keines Blickes, säuberte nur sein schlammbedecktes Gesicht und warf sich schnaufend auf den Beifahrersitz. Im Laufe der nächsten Stunde musste er diesen Platz öfter verlassen, als ihm lieb war. Schließlich trottete er ergeben hinter dem Wagen her, stemmte die Schulter gegen das Heck oder warf sich auf den Eichenast, den er als Hebel benutzte und hinter sich herschleifte wie ein geschlagener Soldat sein Gewehr. Der Weg war nun wenig mehr als ein Saumpfad, die kleinen Bäume und das Kraut, das auf ihm wuchs, zeigten, dass er seit langer Zeit von keinem Wagen mehr befahren worden war. Der Hang wurde steiler, zwischen Felswand und Abhang blieb kaum noch Platz für das schmale Fahrzeug. Little öffnete den Verschluss seines Sicherheitsgurtes und machte sich bereit, abzuspringen, falls der Wagen über die Kante gleiten würde. Viel fehlte dazu nicht, vor allem nicht, als die Räder wieder bis zur Achse in einer Kuhle versanken und Little heiser fluchend bemerkte, wie die durchdrehenden Reifen ihn Millimeter für Millimeter auf den Abgrund zuschoben. Endlich war Dorkas zur Stelle und schob seinen Ast unter die Stoßstange. Little kletterte über das Heck nach draußen, und in gemeinsamer Anstrengung gelang es ihnen, den Wagen wieder in die richtige Spur zu hebeln. Vor Erschöpfung japsend fielen sie nebeneinander auf den Boden.

 

»Was machen wir, wenn wir diesen verdammten Weg endlich hinter uns haben«, keuchte Little.

»Ich habe definitiv nicht die geringste Spur einer Ahnung. Aber unten im Tal hatten wir noch weniger Chancen.«

»Weniger als gar nichts geht ja auch nicht.«

»Hören Sie, wenn mir irgendeiner vor einem halben Jahr prophezeit hätte, dass ich Anstrengungen wie diese hier überleben würde, hätte ich ihn ausgelacht …«

»Schön und was trägt das jetzt zur Diskussion bei?«

»… ähm, ich vermute, ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass ein Mensch wesentlich mehr zustande bringen kann, als er selbst glaubt.«

»Danke für die tröstenden Worte.«

 

Der Wald wurde dünner und zerfaserte sich in einzeln stehenden Bäumen, die sich in den Fels klammerten. Nach einem kurzen Fußmarsch hatten sie den Kamm erreicht. Little hatte nun genügend Raum, um den Wagen zu drehen. Er stellte ihn neben dem Weg ab und fragte sich gleich darauf selbst, warum er sich solche Mühe machte, angesichts der geringen Wahrscheinlichkeit, hier einen anderen Autofahrer zu behindern.

 

Von einem Baum zum anderen huschend liefen die beiden Männer quer über den steilen Hang, bis sie oberhalb des Klosters waren. Nun erst konnten sie den gesamten Gebäudekomplex überschauen. Er war wesentlich größer, als vom Tal aus zu ahnen war. Ein schmaler Zuweg führte von diesem Tal aus durch den Wald zu einem Torhaus. Drei breite Türen, die nachträglich eingebaut waren, führten mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu Unterstellplätzen für Fahrzeuge. Von diesem ersten Haus gelangte man über eine Treppe und eine turmartig vorgebaute Bastion zum höher gelegenen Kloster.

Das Gemäuer bestand aus zwei dreistöckigen Gebäuden, die quer über den Fels gebaut waren. Zwischen ihnen lag auf der einen Seite die mächtige dreischiffige Kirche und auf der anderen ein niedriges, schmales Gebäude, das wenig mehr als eine überdachte Bogenreihe darstellte und den Kreuzgang abschloss. Die Baumeister des Klosters hatten das vorhandene Gelände geschickt genutzt und die Gebäude auf verschiedene Ebenen gesetzt, sodass sich die höher gelegene Kirche über allem erhob, obwohl sie nicht höher war als die übrigen Häuser.

Vor der Kirche war ein freier Platz, von dem aus man zu zwei weiteren kleineren Gebäuden gelangen konnte, die zum Teil direkt an den Abhang gebaut waren. Eines dieser beiden Häuser stand dort, wo die Felsrippe im Querhang mündete.

 

Dorkas griff nach Littles Arm und begann, heftig daran zu zerren.

»Sehen Sie den Weg?«

»Ich sehe keinen Weg«, knurrte Little. Was er sah, war eine Art von uneinnehmbarer Festung, die in sich durch eine Vielzahl von Treppen und einzelnen Aufgängen einen zusätzlich verwirrenden Eindruck machte.

»Doch, doch«, beharrte Dorkas. »Schauen Sie genau hin. Von diesem einen Haus am Rand des Klosters direkt auf den Kamm zu. Dort müssen wir hin.«

»Warum?« Little wollte ursprünglich ein herzhaftes zum Teufel einfügen, unterließ es dann aber doch.

Statt einer Antwort watschelte Dorkas tapfer los. Kopfschüttelnd folgte ihm Little. Er sah keine Möglichkeit, in diesen Komplex einzudringen, geschweige denn, dort heraus etwas zu entwenden. Egal, was Dorkas jetzt vorhatte, es konnte wenig mehr sein als ein Aufschub, bis auch er sich eingestehen musste, dass sie nicht die geringsten Erfolgsaussichten hatten. Es war im Gegenteil fraglich, ob es ihnen überhaupt gelingen würde, bei Helligkeit aus dem Tal heraus zu gelangen. An aufkommende Feindseligkeiten mit den Bewohnern wagte er gar nicht erst zu denken. Unbewaffnet und erschöpft, wie sie waren, hätten sie sich in keiner Weise zur Wehr setzen können. Und aus dem Alter, wo man im Boys Camp Geländespiele machte, waren auch beide weit heraus.

»Wir sollten an den Rückzug denken«, sagte Little daher, als sie den Bergkamm erreicht hatten. Auf der anderen Seite, schon auf spanischem Gebiet, fiel die Bergflanke sanft ab und war unterhalb des Kamms schon dicht bewachsen.

 

Auch hier war ein Pfad erkennbar, der im Wald verschwand.

Dorkas schleppte sich nur noch einige Schritte weiter und fiel dann zu Boden. Sein Gesicht hatte eine krebsrote Farbe angenommen und er nahm die Brille ab, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen.

»Wir warten hier«, stellte er kategorisch fest, nachdem er wieder zu Atem gekommen war.

»Auf was?«

»Auf die Lösung unserer Probleme. Falls Sie unbedingt noch etwas tun wollen, stellen Sie sich oben auf den Pass und beobachten Sie das Kloster.«

Viel zu beobachten gab es nicht, denn noch immer war keine Menschenseele zu sehen.

Es gab keine Anzeichen irgendeiner Aktivität – nirgendwo stand ein Fahrzeug, nirgendwo lehnte ein Besen an einer Wand, keine Türe war halb offen, kein Fenster, das nicht fest geschlossen wäre, nicht einmal ein Rauchfaden aus einem der zahlreichen Schornsteine. In völliger Stille und Ruhe lag das Kloster und schien in tiefem Schlaf zu liegen.

 

Little machte es sich bequem, streckte sich auf dem warmen Fels aus und legte das Kinn auf die Arme. Zweifel machten sich breit, ob sie nicht doch in eine Sackgasse geraten waren.

Der Widerspruch zwischen diesem uralten Gemäuer, das wie ein Symbol klösterlicher Einkehr in einer wunderschönen Landschaft eingebettet war und dem, was sie dort vermuteten, erschien nun geradezu surreal. Diese seltsame, lastende Stille in dem Tal, dachte Little, konnte nichts anderes sein als die Spiegelung dessen, was sie erwartet hatten zu finden. Wenn Dorkas nur lange genug von Satanisten schwafelte, dann tauchte schließlich an jeder Ecke so ein Teufelsanbeter auf.

Wenn er nicht so müde gewesen wäre, hätte sich Little geärgert. Noch einmal ließ er seine Blicke über das Kloster schweifen. Der Kreuzgang, daneben die Kirche, an deren Seite der Turm mit seinem flachen Dach, dessen Zinnen wohl früher als ernsthafte Verteidigungsmaßnahmen gedacht gewesen waren. Ein Glitzern erweckte Littles Aufmerksamkeit. Er kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt zum Turm, von dessen Dach das Glitzern kam. Es musste von einem Blitzableiter, einem einzelnen senkrechten Stab, stammen. Dann, nach einiger Zeit, erkannte Little, dass dieser Stab unten einen Querstab hatte und dann brauchte er erneut eine Weile, um zu erkennen, dass auf dem Dach ein umgedrehtes Kreuz angebracht war.

 

Ein lauter Ruf schreckte ihn auf. Er drehte sich und sah Dorkas, der sich hinter einen Busch kniete und ihm mit der Hand Zeichen zuwedelte.

Vorsichtshalber kroch Little hinter einen Felsvorsprung. Nun sah er, was Dorkas so erregt hatte. Aus dem Wald kam ein Kleinbus, kroch holpern auf dem ausgetretenen Pfad weiter, um dann schwungvoll zu wenden und anzuhalten. Der Fahrer stieg aus, öffnete die Heckklappe des Wagens und brachte eine Anzahl von Eimern, Besen und Lappen zum Vorschein. Er stellte die Eimer in einer Reihe auf, dann schob er die Seitentür auf und zog eine Gestalt heraus.

Diese führte er zum ersten Eimer, drückte ihr Eimer und Besen in die Hand und ging wieder zum Wagen. Dieselbe Aktion fand noch mehrmals statt, bis eine Gruppe von Männern und Frauen zusammenstand. Sie legten die freie Hand auf die Schulter des vor ihm Stehenden und warteten geduldig und ohne ein Wort zu sagen. Der Fahrer sprach kurz auf den vorne Stehenden ein, gab ihm dann einen Klaps auf den Arm und die Gruppe setzte sich langsam in Bewegung. Wie eine Art von Eisenbahnzug folgte sie im Geräusch klappernder Blecheimer dem ausgetretenen Pfad. Der Fahrer schaute ihnen kurz nach, dann lehnte er sich an den Wagen und kramte in seiner Hemdentasche nach einer Zigarette. Dorkas duckte sich noch tiefer und krabbelte, so schnell er konnte, rückwärts in Richtung auf Little.

»Was ist das?«, flüsterte Little.

»Der Reinigungstrupp«, flüsterte Dorkas atemlos zurück. »Ich wusste es, ich wusste es. Bei all den blutigen Spielen, die dort unten gemacht werden, braucht man Leute zum Saubermachen. Und die Anhänger der Domaine werden nicht selbst die Finger rühren.«

 

Die Gruppe schlurfte langsam heran und an ihnen vorbei. Mit einem schnellen Blick versicherte sich Dorkas, das der Fahrer die Gruppe nicht mehr beachtete. Er saß rauchend im Wagen und las in einer Zeitung.

»Passen Sie auf«, zischelte Dorkas. »Sie schlagen einen Bogen und schleichen sich irgendwie an die Tür heran. Warten Sie dort einfach.«

»Und was machen Sie?«

»Na, was schon?« Dorkas verdrehte die Augen und hob die Hände zum Himmel. »Ich versuche, irgendwie mit den Putzleuten in das Gebäude zu kommen.«

»Sie fallen doch sofort auf.«

»Tatsächlich? Ich dachte, ich würde egal aussehen wie eine Putzfrau. Lassen Sie das meine Sorge sein.«

Mit diesen Worten richtete sich Dorkas auf und lief hinter der Gruppe her. Nach einigen Schritten hatte er sie eingeholt und trottete nun im gleichen Tempo hinter dem Letzten her, einer dicklichen Frau mit geblümtem Kittel und einem giftgrünen Kopftuch, aus dem gelbe Locken quollen. Die schlurfenden Füße wirbelten Staub auf, Dorkas schien sich in dieser Hinsicht besonders hervorzutun, sodass die Gruppe bald von einer bräunlichen Wolke umwabert war.

Little schlug sich zur Seite in das Gebüsch, kroch auf dem Bauch über die offene Fläche und kam sich ausgesprochen kindisch vor, als würde er hier ein allzu verspätetes Räuber- und Gendarmspiel mitmachen. Immer wieder warf er einen sichernden Blick zum Kloster hinüber.

Von seiner Warte aus konnte er nur den hinteren Teil mit dem Kreuzgang sehen. Von der Seite erklang leise das Scheppern der Blecheimer. Dann stockte Little für einen Moment der Atem.

 

Im Kreuzgang erschien eine Gestalt in einem langen weißen Gewand. Aus der Entfernung konnte er keine Einzelheiten ausmachen, aber er erkannte sofort das hellblonde Haar und die Art, wie sie mit einem Blick auf den Boden vorwärts tänzelte. Der Anblick ernüchterte Little wie ein Guss kalten Wassers. Es war kein Spiel. Es war etwas anders; eine Wirklichkeit, die er nicht verstand, aber sicherlich alles andere als ein Spiel. Als er endlich nach einem langen Umweg das Gebäude erreicht hatte und sich hinter einer Buschgruppe verbarg, war der Reinigungstrupp schon verschwunden.

 

Little war zum Warten verdammt. Langsam mischte sich Unruhe in sein ergebenes Ausharren. Die Stille umgab ihn erneut und wirkte lästig und niederdrückend wie ein Nebel, der das Luftholen erschwert. Die Sonne berührte einen Berggipfel, die Schatten wurden länger und dunkler. Das Tal verschwand schon in grauem Dunst. Der Gedanke, hier die Nacht verbringen zu müssen, erschreckte Little. Es war nicht die Kälte, die langsam empfindlich spürbar wurde, sondern etwas anderes. Manchmal glaubte er, etwas zu hören, was seinen Ursprung jenseits der umgebenden Stille zu haben schien. Es waren keine Klänge, es war nichts, was überhaupt mit einem Wort bezeichnet werden konnte. Aber es berührte sein Inneres, stürzte ihn von einem Moment zum anderen in eine Tiefe der Verzweiflung und hob ihn einen Herzschlag später hoch zu einer Empfindung wahnwitzigen Triumphes und absoluter Unbesiegbarkeit. Zudem keimte in ihm die Angst, einzuschlafen und den Träumen und Gesichten nicht gewachsen zu sein.

 

Little wischte sich den Schweiß aus den Augenwinkeln. Er versuchte sich zu konzentrieren, wollte seine Sinne schärfen, um die geheimen Schwingungen, das unkörperliche Flüstern zu vernehmen und zu entschlüsseln, das diesen Ort umgab. Vergeblich, er zuckte zurück, als hätte er eine heiße Eisenplatte gespürt. Es gab einen Instinkt der Selbsterhaltung in Little, vielleicht erst neu erworben in den letzten Wochen des Zusammenseins mit Dorkas, der ihn warnte und hemmte. Hier geriet Little an Grenzen und bald hatte er genug zu tun, sich nicht völlig dem lautlosen Kreischen zu überlassen, das bedrohlich wie ein Schwarm Fledermäuse über dem Ort schwebte.

 

Die Nacht kam mit einem prachtvollen Sonnenuntergang, mit Bergzügen, die noch einmal in tiefem Rot aufglühten und mit Bäumen, die in kristalliner Klarheit vor dem weißlichen Himmel standen, bevor die Dämmerung mit ihrem Schwamm alles verwischte.

***

Eine Tür quietschte. Wieder erklang das blecherne Geräusch der Eimer. Hintereinander, verbunden durch den Arm auf der Schulter des Vordermannes gingen die Leute des Reinigungstrupps aus dem Haus, verschwanden in der grauen Fläche des Hanges und erschienen noch einmal auf dem Bergkamm als schwarze Umrisse vor dem Himmel.

 

Und wieder lastete die Stille. Wieder wartete Little auf den Wellenschlag, der sein Inneres aufwühlen sollte. Aber es kam kein Hoch und kein Tief, sondern nur ein seltsames Wispern und Pfeifen, auf das Little verwundert lauschte. Schließlich erkannte er, dass dieses Geräusch äußerst real war. Jemand, dem dazu jedwedes Talent mangelte, versuchte zu pfeifen. Little steckte den Kopf hinter dem Gebüsch hervor und schaute zum Haus, von dem das Geräusch kam. Stand dort die Tür offen oder war es nur eine Täuschung in dem schwindenden Licht?

Eine Falle vielleicht, nachdem Dorkas aufgefallen war und man auf diese tölpelhafte Art nach etwaigen Komplizen forschte? Alles Überlegen half nicht. Fast wäre es Little gelungen, sich lautlos dem Gebäude zu nähern. Aber er übersah einen Stein, kam ins Stolpern und trat eine kleine Lawine von Geröll los, die abwärts kollerte.

 

Die Türe stand tatsächlich halb offen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass in dem anschließenden Raum kein Mensch war, schlüpfte Little hinein und lehnte die Tür an. Sie war schwergängig und zudem aus massivem Holz gefertigt, würde also nicht durch Auf- und Zuschlagen Aufmerksamkeit erregen, selbst wenn Wind aufkommen sollte. Der Raum roch streng nach Reinigungsmitteln. Im Schein einer kleinen Deckenlampe erkannte Little Besen, Schaufeln und übereinandergestapelte Kanister.

»Dorkas!«, flüsterte er, »Dorkas, sind Sie hier irgendwo?«

Little blieb mit eingezogenem Nacken stehen, horchte, schlich ein Stück weiter, blieb erneut stehen, um zu horchen. Dann durchquerte er den Raum und versuchte sich an der Tür der anderen Seite. Sie war ebenfalls unverschlossen. Vor sich hatte er den Platz, der auf der anderen Seite von der Kirche begrenzt wurde. Rechts schloss sich das zweite kleine Haus an.

Nachdem er sich durch die Tür geschoben hatte, drückte sich Little an die Mauer. Er schaute sich um. Über den Hauseingängen hingen einige Petroleumlaternen und boten Orientierung.

Aber wohin sollte er sich wenden? Er musste sich bewegen, er hatte etwas auszuführen! Aber eine kalte Furcht fesselte Little, ließ ihn zaudern und zagen und an die Wand gelehnt abwarten, als würde der nächste Moment eine Lösung bringen. Vor Nervosität begann er zu zittern.

Schließlich riss er sich aus seiner Unentschlossenheit los und schlich an der Hauswand entlang, huschte durch den Lichtschein vor dem Eingang des Nachbarhauses und hatte die niedrige Mauer erreicht, die den Platz zum steilen Abgrund hin abtrennte. Er kauerte sich in die dunkelste Ecke und wartete, bis sich sein Herzschlag etwas beruhigt hatte. Aus dem Tal schien kalte Luft aufzusteigen, grünlicher Duft nach feuchter Erde und dichtem Unterholz schwang sich mit ihr hoch.

Es gab keine andere Möglichkeit, Little hatte den Weg begonnen, nun musste er weiter.

Halb kriechend, halb schleichend arbeitete er sich an der Mauer entlang zum Querbau vor.

Dieses Gebäude lag, wie alle anderen auch, in völliger Dunkelheit. Bis zum Eingang waren es nur wenige Meter. Little hatte die Strecke zur Hälfte zurückgelegt, als er ein Geräusch hörte. Es kam aus der Richtung der Kirche. Die Panik lähmte ihn, dann sprang er ohne jede Vorsicht zurück zur Mauer und warf sich in die Ecke, wo Mauer und Hauswand zusammenliefen.

 

Little kauerte wie ein verschüchtertes Kind. In seinem Kopf rasten die Gedanken. Es gab nur einen Impuls, der da lautete: aufstehen und fliehen und alles, was er jetzt tun konnte, war dieses Nur weg von hier zu unterdrücken. Hinter der Hauswand fiel flackernder Lichtschein auf den Boden. Nackte Füße schleiften über den Stein, daneben klang der harte Schritt genagelter Stiefel, das Rauschen von Gewändern und das Knarren von Leder.

Little sackte in sich zusammen, verschanzte sich hinter seinen Knien wie hinter einer Barrikade. Eine Prozession bog um die Ecke. In ihrer Mitte war eine weiß gekleidete Gestalt und neben ihr – das konnte nur Innis Patrian Brantly sein.

 

Brantly, die Frau und die Fackelträger, die beide begleiteten, hielten vor dem Hauseingang. Brantly wendete sich der Frau zu und strich ihr über den Kopf.

»Nur noch wenige Stunden, dann ist der Augenblick gekommen. Bereite dich vor, so wie wir uns alle vorbereiten, denn heute ist die Nacht der großen Ankunft und du wirst die Gabe sein«, sagte er. Seine Stimme war heiser und dabei doch sicher und durchdringend.

Er trug ein langes, mantelartiges Ledergewand mit hochstehendem Kragen, das den gesamten Körper bis zu den Stiefelabsätzen verhüllte. Das Haupt war mit einem breitrandigen Hut bedeckt. Als sich die Fackelträger zum Gehen wandten, fiel für einen kurzen Moment ein Lichtschein auf das Gesicht Brantlys. Mit Mühe unterdrückte Little einen Ausruf des Erschreckens. Er hatte alles erwartet, aber nicht diese ausgezehrten, kränklichen Züge eines Greises, in denen die Augen als schwarze Höhlen eingelagert waren wie Kohlestücke im Kopf eines Schneemannes.

 

Von den Fackelträgern umgeben, schritt die Frau zurück zur Kirche. Der Mann blieb allein zurück. Ein heftiger Husten schüttelte ihn. Er krümmte sich, lehnte gegen die Wand, hustete und rang nach Luft. Auch als der Hustenanfall längst vorüber war, blieb Brantly in seiner gebückten Stellung. Schließlich schob er sich mühsam an der Wand hoch, zurück in die aufrechte Position. Das Leder des Ärmels schabte an der rauen Mauer, der Atem des Mannes ging rasselnd, und jeder Atemzug schien geradezu gewalttätige Kraftanstrengung zu verlangen.

 

Das konnte nicht Brantly sein. Deutlich erinnerte sich Little an die Beschreibung, die er vor einigen Tagen gehört hatte. Ein attraktiver Mann, der wie ein Fünfzigjähriger wirkte. Dies hier war ein verfallener Greis, der schon mit dem Tode kämpfte. Irgendwo musste der wahre Brantly sich verbergen. Der Alte schob die Hand in seine Manteltasche, schien Kraft zu sammeln und brachte dann einen Schlüssel zum Vorschein. Seine Stiefel kratzten über den Boden, als er die zwei, drei Schritte zur Tür machen musste. Mühsam schloss er auf und trat ein.

 

Little sperrte die Ohren auf. Die Tür fiel ins Schloss, aber sie wurde nicht wieder verschlossen. Er wartete, stellte sich vor, wie lange ein schwacher alter Mann brauchen würde, um sich vom Eingang zu entfernen und huschte dann bis zur Tür. Dahinter war alles still. So wagte es Little, die Klinke herunterzudrücken und zu prüfen, ob sich die Türe tatsächlich öffnen ließ. Sie ließ sich aufdrücken, und Little betrat einen hochgewölbten Gang. Kühle dumpfe Luft schlug ihm entgegen. Ein leises Knarren der Türangeln hallte erschreckend laut. Das dürftige Äußere des Gebäudes mit seinen aus Felssteinen gemauerten braunen Wänden hatte Little über die Architektur des Inneren völlig getäuscht. Von außen nicht erkennbar hingen Ampeln mit Öllampen von der Decke. Ihr Schein wurde von dem blinkenden Fliesenboden und den polierten Wänden aus Marmor zurückgeworfen. Kantige Pfeiler traten aus der Wand hervor und verschwanden in dem Dunkel unter dem Gewölbe. Zwischen den Pfeilern war jeweils nur eine hohe Tür aus dunklem, schimmerndem Holz. Little blickte nach links und rechts und öffnete eine dieser Türen. Sie schwang in einen dunklen Raum auf, der riesig groß zu sein schien, denn selbst das Schwingen der Tür brachte einen hauchenden Nachhall hervor.

Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte Little an der Gegenseite des Raumes hohe Fenster, durch die er die Konturen des Turmes ausmachen konnte. Jetzt erinnerte er sich auch an den Anblick des Hauses vom Berghang her und an die Reihe der Bogenfenster, die auf den Kreuzgang hinausschauten.

 

Ein leises Klimpern – Little zuckte zusammen, drückte sich in den Raum und lehnte die Tür an. Jemand kam den Gang entlang. Schlurfende, aber eilige Schritte, Schniefen und Räuspern, eine heisere Stimme, die hastig unverständliche Worte brabbelte. In der Nähe der Tür blieb der Unbekannte stehen. Little stockte der Atem. Ein durchdringender Geruch nach Schweiß und Alkohol breitete sich aus. Die Sekunden dehnten sich. Metall klimperte. Eine Kette. Wenn dieser Mann bemerkte, dass die Tür nicht richtig geschlossen war und sie nun abschloss …

 

Endlich, scheinbar nach einer Ewigkeit, setzten die schlurfenden Schritte wieder ein und eilten den Gang entlang. Little wartete und schlich zurück auf den Gang. Wenn sich hier Sektenangehörige bewegten, dann war er in höchster Gefahr. Dennoch tastete er sich Meter für Meter vor, bis er zu einer Treppe am Ende des Ganges kam. Er konnte sich nach oben wenden oder den Weg nach unten wählen. Unentschlossen verharrte Little. Er war sicher, dass jede Entscheidung die falsche sein würde. Endlich entschloss er sich für den Weg nach unten.

Während er die Treppen hinunterschlich, sagte er sich, dass er von dort in den Kreuzgang kommen könnte. Und tatsächlich gelangte er wieder auf einen Gang, der direkt unter demjenigen der oberen Etage lag. Alles entsprach exakt dem darüberliegenden Stockwerk, wenn auch der Gang weniger hoch zu sein schien.

 

Little öffnete eine Tür, spürte den kühlen Hauch eines großen Raumes, wagte aber nicht, sich durch die Dunkelheit auf die andere Seite zu tasten, nur auf die vage Hoffnung hin, einen Ausgang zu finden. Mehrmals noch starrte Little in diese Dunkelheit, die schwer wie Öl erschien, als bestünde die Gefahr, darin stecken zu bleiben und allen Mutes verlustig zu gehen.

Er verplemperte Zeit, indem er den nächsten Schritt überlegte. Little war wie gelähmt, nur zähflüssig rannen die Überlegungen durch sein Bewusstsein, und im Hintergrund seines Denkens erhob sich das Eingeständnis einer Niederlage, die er nicht verhindern konnte und wollte. Er legte seine heiße Stirn an die kalte Mauer. Nun tat die Kühlung ihm wohl und erfrischte ihn. Irgendwo in diesem Gebäude musste der alte Mann sein. Und irgendwo musste auch Brantly sein. Der Gedanke, einen dieser Männer zu finden, wirkte wie ein Korsett, das Littles Überlegungen Festigkeit gab. Er fragte nun nicht mehr, warum er die Männer finden wollte und was dann zu geschehen hätte. Little musste wieder zurück und in das oberste Stockwerk.

Im Dämmerlicht der wenigen Laternen schlich er zur Treppe. Jeder Schatten wirkte bedrohlich, konnte einen Gegner verbergen und barg, schlimmer noch als das, die Gestalten von Littles eigenen Ängsten. Überall griff sich die Vorstellung einen Anlass, knetete kleine Vorsprünge zum monströsen Profil eines Lauernden um, schob Bögen zusammen, bis sie ein Gesicht bildeten, aus dem der zornerfüllte Blick wie eine Lanze herausstach.

 

Fröstelnd und zugleich schweißgebadet erreichte Little endlich die Treppe. Schon wollte er die ersten Stufen nehmen, als er stockte. In seinen Augenwinkeln glaubte er, einen Hauch von Helligkeit bemerkt zu haben. Er fixierte die Stelle, sah nur Dunkelheit und begann dann tastend, die Wand zu untersuchen. Seine Fingerspitzen glitten über den Marmor der Wand, suchten in weiten Bögen. Jetzt spürte er ein Eisenband, jetzt einen schmalen senkrechten Spalt und jetzt fuhren seine Finger über Holz. Dort war eine Tür.

Obwohl alles in ihm nach Flucht schrie, tastete Little weiter, erfasste die Klinke und öffnete die Tür. Um ein Haar wäre er in die Dunkelheit gestolpert, denn wo er festen Boden vermutet hatte, war Leere. Sich langsam vortastend erkannte Little eine Wendeltreppe, die steil abwärts führte. Mehrere Male umrundete er die mittlere Säule, als ihn Geräusche vorwarnten.

 

Es war der Klang der genagelten Stiefel, die der Alte getragen hatte. Little schlich weiter und prallte nach einer weiteren Umrundung zurück, weil sich vor ihm ein Saal öffnete. Und er hätte nur noch wenige Schritte gebraucht, um neben dem Alten zu stehen.

Geistesgegenwärtig zog sich Little zurück. Im Fackelschein hatte er einen schmalen Durchgang entdeckt, der von der Treppe abging und zu einer Galerie führte. Es kostete Mühe, sich durch das Loch zu drängen. Einige Male konnte Little sich nur mit Mühe einen Schmerzensschrei verkneifen, als er mit dem Kopf gegen Felsvorsprünge stieß.

Der Saal lag unterhalb des Gebäudes und musste aus dem gewachsenen Fels geschlagen worden sein. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, kam Little vorwärts. Die Galerie verlief als niedriger Gang knapp unterhalb der Decke des Saales. Auf der einen Seite war sie vom grob behauenen Fels begrenzt, auf der anderen öffneten sich Bogenreihen. Skurrile Figuren dienten als Pfeiler – fettbäuchige Zwerge mit gewaltigen, rammbockähnlichen Geschlechtsorganen, widerwärtig unförmige Frauen, deren überhängende Brüste auf einem lappig herabfallenden Bauch lagen, wasserköpfige Bucklige, die sich voller Geschlechtsgier über eine Ziege beugten und das Tier an den Hörnern in Position hielten. Little suchte sich ein Versteck, von dem aus er den gesamten Raum überblicken konnte.

 

Der erste Eindruck war derjenige einer einschiffigen Kirche im romanischen Stil. Kantige Pfeiler und wuchtige Säulen waren der Wand im Wechsel vorgestellt. Sie erhoben sich bis zu einem Sims, der unterhalb der Galerie um den Raum lief. Dort setzten Steinbänder an, die über das tonnenförmige Deckengewölbe zur Gegenseite verliefen. Herb, von urtümlicher, archaischer Einfachheit, aber doch von großer, unbezwingbarer Glaubenskraft geprägt – das wäre etwa das Fazit eines Kulturreiseführers gewesen und darunter das Symbol für Umweg lohnt sich. Die eine Schmalseite des Raumes war nicht mehr als eine schmucklose Mauer, auf der anderen deutete eine dunkle Öffnung an, dass sich dahinter eine Apsis verbarg. Trotz allen Bemühens konnte Little dort nichts weiter erkennen. Ein kleines rötliches Licht schimmerte in der Dunkelheit, ohne aber etwas um sich her zu erhellen. Trotzdem empfand Little ein Unbehagen, als habe er dort eine Quelle der Gefahr entdeckt.

 

Der Alte schleppte sich durch den weiten Raum, immer wieder anhaltend und sich ausruhend.

Sein Verfall schien minütlich weiterzuschreiten. Er schien unter Littles spähenden Blicken zu vergehen.

»Wo seid ihr?«, krächzte die Stimme des Alten. Er konnte nur leise sprechen, aber die Akustik des Raumes verstärkte jedes Flüstern zur allseitig hörbaren Lautstärke.

»Wir kommen, Herr!«, kam die Antwort.

Direkt unter Littles Versteck quietschte eine Tür, und fünf Gestalten schlurften auf den Alten zu. Der Gestank nach Fusel und ungewaschenen Körpern, den sie ausströmten, überzeugte Little, dass einer von ihnen vorhin über den Gang gekommen war.

»Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, meine Lieben. Ich spüre schon die kalte Hand, die nach meinem Herzen greift.«

»Wir eilen, wir eilen, Herr.«

Die fünf purzelten durcheinander und trafen Vorbereitungen, die Little nicht verstand. Jeder der Diener war kleiner als der Durchschnittsmensch und durch eine körperliche Missbildung verunstaltet. Dem einen war ein gewaltiger Buckel gewachsen, der seinen Nacken und Kopf nach unten drückte und ihn zwang, mit zur Seite gedrehtem Kopf auch immer nur seitlich zu gehen. Der andere hatte einen riesigen Wasserkopf, der ohne sichtbaren Halsansatz direkt auf der Schulter saß. Ihr Anführer wirkte wie ein zweigeteilter Mensch. Auf kurzen, krummen Beinchen mit absonderlich großen Füßen saß ein schön gebildeter, muskulöser Oberkörper, dessen Proportionen jeder griechischen Statue zur Ehre gereicht hätten. Die Arme schienen länger als es normal gewesen wäre, sodass die Handgelenke über den Boden schleiften und der Gang des Mannes etwas Affenartiges annahm. Auf den breiten Schultern saß ein Kopf mit breiter, flacher Stirn, die als schmaler Hautstreifen zwischen dem Ansatz des wuscheligen schwarzen Haares und den buschigen Augenbrauen lag. Die Nase war flach gedrückt wie bei einem Boxer, mit großen Öffnungen, die sich blähten, wenn der Mann nachdachte. Ein breiter Mund, kleine dunkle Augen und ein schweres Kinn komplettierten das Gesicht. Die Gestalt wackelte an die Seite des Alten.

»Soll ich euch stützen, Herr?«

»Du weißt, dass ich es alleine schaffen muss, Manolo. Macht alles bereit, du und deine Helfer, dann bin ich euch zu Dank verpflichtet.«

Manolo nickte und bezeugte seinen Eifer, indem er einem anderen in den Hintern trat, weil der gerade stehen blieb, um in der Nase zu bohren. Der Getretene kugelte quiekend zu Boden und wollte sich auf den Angreifer stürzen, wurde aber durch eine Ohrfeige zur Raison gebracht. Nach diesem Zwischenspiel, dem der Alte keine Aufmerksamkeit gegönnt hatte, rannten sie los, um die notwendigen Sachen zu holen.

 

Der Bucklige, der erhebliche Kräfte zu haben schien, schleppte eine kleine Steinsäule heran und stellte sie neben einen Bereich des Fußbodens, der unter einer schwarzen Decke verborgen war. Der Nächste balancierte eine goldene Schale, die Manolo vorsichtig auf die Säule setzte. Ein Haufen Stoffe wurde auf den Boden geworfen, eine goldene Karaffe neben die Säule gestellt. Dann ertönte das Klappern von Hufen. Zuerst glaubte Little an eine Täuschung seiner Ohren, dann an eine Verkleidung. Dann musste es glauben, was er sah: Ein Stier, ein Esel und ein Schaf wurden nacheinander hereingezerrt und an Ringen, die in einen Pfeiler eingelassen waren, festgebunden. Die Tiere waren ganz offensichtlich halb betäubt.

Mit hängenden Köpfen standen sie bewegungslos da, selbst als die fünf johlend um sie herumtanzten, und einer von ihnen, ein kleinwüchsiger, überall von Geschwüren bedeckter Schwarzhäutiger, dem Stier in die Hoden kniff, hob das Tier kaum den Kopf.

»Schluss damit!« Manolo klatschte heftig in die Hände und stieß seine Gefährten zu dem Stoffhaufen. Sie wühlten darin herum, verspotteten sich und halfen sich doch gegenseitig beim Anziehen. Es waren priesterliche Gewänder, die sie sich schließlich eitel zurechtzupften. Manolo schlurfte mit dem verbliebenen Gewand zu dem Alten.

Der keuchte inzwischen mitleiderregend und zog sich langsam und ungeschickt sein Priestergewand über den Kopf. Als er schließlich im vollen Ornat dastand, näherte er sich mit kleinen Schritten dem Becken. Einer seiner Helfer brachte noch ein Tablett.

Was nun stattfand, war eine Taufe nach dem alten lateinischen Ritus der katholischen Kirche. Getauft wurden ein Stier, ein Esel und ein Schaf.

 

Little kannte sich in der europäischen Politik nicht besonders aus, sie interessierte ihn genauer gesagt nicht die Bohne, aber er glaubte doch, dass die Tiere auf die Vor-und Nachnamen bekannter Politiker getauft wurden. Obwohl er sich kaum auf den Beinen halten konnte, führte der Alte in seiner Priesterrolle das Ritual drei Mal unter Beachtung der kleinsten Einzelheit durch. Die lateinischen Formeln kannte er auswendig. Die Helfer hielten die Tiere fest, brachten Handreichungen dar und sprangen ansonsten in der Nähe des Taufbeckens herum.

Als das letzte Taufritual abgeschlossen war, wandte sich der Alte an Manolo. Der hatte sich gerade damit vergnügt, den Buckligen gegen einen Pfeiler zu drängen und ihm ins Gesicht zu furzen. Jetzt kam er eilfertig heran und stellte sich auf die Spitzen seiner riesigen Füße, um den Alten besser zu verstehen. Er nickte beflissen mit dem Kopf.

»Sicher, Herr. Absolut sicher. Ich habe unseren Gewährsmann sogar einen Blick in die Taufregister werfen lassen. Sollen wir ihn holen?«

Auf das zustimmende Nicken des Alten warfen alle ihre Gewänder ab, einer sammelte sie ein und legte sie zusammen, während die anderen schon einen abgerissenen, stark betrunkenen Mann hereinführten.

»Das ist nicht der Bahnhof von Poi… Poi…«, lallte der Mann, fiel auf den Boden und begann zu schnarchen.

Der Alte betrachtete den Liegenden eine Weile, in der er wohl auch Kraft sammelte, um sich seiner priesterlichen Kleidung zu entledigen. Der Helfer legte auf diese Gewänder sorgfältig zusammen und entfernte sich dann. Die anderen zogen mit großem Hallo und schrillem Gekicher die schwarze Decke zur Seite.

Darunter verbarg sich ein dreieckiges Becken, dessen gleichlange Seiten etwa der Körpergröße eines Mannes entsprachen. Ein kompliziertes Geflecht farbiger Mosaiken umgab das Becken aus schwarzem Marmor. In seiner Aufregung versuchte Little, in den Mustern ein System zu finden. Er glaubte einen roten Strahl zu erkennen, der von einer Gestalt ausging und im Zickzack verschiedene Punkte berührte, die ihrerseits durch blaue, grüne und rote Linien untereinander verbunden waren.

Es hatte Ähnlichkeit mit einem Schaltplan, aber Little kam nicht zu einer weiteren Betrachtung, denn nun trat der Alte an das Becken und begann sich zu entkleiden. Als der lange schwarze Ledermantel fiel, kamen ein Lederhemd und schwarze Hosen aus demselben Material zum Vorschein. Der Mann fiel zu Boden, schien sich vor Schmerzen zu krümmen und begann dann, sich die Stiefel auszuziehen.

Zwei seiner Helfer wollten zu ihm eilen, aber Manolo trieb sie mit klatschenden Schlägen zurück, sodass sie laut aufheulten und begannen, Manolo mit Schafsdreck zu bewerfen. Der kratzte sich den Kot aus den Haaren, verteilte Maulschellen und verschwand mit seinen Kumpanen. Der Alte wälzte sich auf dem Boden, lag immer wieder bewegungslos, aber begann dann, sich erneut zu regen und sich die Kleidung vom Leib zu zerren. Schließlich war er nackt, ein jämmerliches Bild eines dürren, krummen Greises, dessen ganzer Körper mit weißem Haar wie von einem Pelz überwachsen war. Auf allen vieren schob sich der Greis in das Becken, fiel auf die Seite und drehte sich ächzend auf den Rücken. So blieb er mit geschlossenen Augen liegen und hob nur noch einmal eine zitternde Hand.

 

Dies war das Zeichen, auf das Manolo und seine Kumpel gewartet hatten. Blitzartig und mit der Präzision eines eingespielten Teams säuberten sie den Raum vom Dreck, den die Tiere gemacht hatten. Sie verschwanden, um im nächsten Moment mit weißen Gummischürzen bekleidet wieder zu erscheinen. Das Schaf wurde gefesselt, umgeworfen und an den Beckenrand geschleppt. Der Schwarzhäutige betrachtete das Mosaik, zählte an seinen kurzen, von Geschwüren fast zur Unkenntlichkeit verstümmelten Fingern etwas ab und wies dann auf eine andere Stelle, an der das Schaf zu liegen hatte. Der Kopf wurde über den Beckenrand geschoben, dann zog ihm einer ein langes Messer durch die Kehle. Das Blut schoss als dunkler Strahl aus der Wunde, zuerst mit kräftigen Stößen, die die letzten Schläge des Herzens ahnen ließen, dann als stetig rinnender Strom. Der weiße Körper des regungslosen Greises wurde rot gesprenkelt. Als der Blutstrom versiegte, wurde der Kadaver zur Seite geschleift.

Eine der Gestalten ließ die Hose fallen und wollte sich über das tote Schaf hermachen, aber wieder war Manolo zur Stelle und wies ihn, diesmal augenscheinlich sehr erbost, auf seine Pflichten hin. Mit einem Faustschlag, der das Geräusch eines platzenden Ballons verursachte und in allen Winkeln des Raumes nachhallte, schlug er die Nase des Pflichtvergessenen platt und unterbrach dessen Geheul mit einer Serie von klatschenden Ohrfeigen.

Dann hakte er ihn freundschaftlich unter und sie machten sich daran, den Esel zum Becken zu bringen. Das Tier hatte trotz seiner Betäubung den Blutgeruch bemerkt. Es wurde nervös, schrie gellend und keilte aus. Die Helfer purzelten übereinander, einer bekam einen Huf in das Gesicht und zog sich mit erstaunten Augen die Schneidezähne aus dem blutigen Mund, während die anderen um ihn herumstanden und sich vor Lachen auf die Schenkel schlugen, bis auch der Verletzte einstimmte. Nach kurzem Kampf, in dem sich vor allen anderen der Bucklige und Manolo als ebenso mutig wie kaltblütig und entschlossen erwiesen, stand der Esel am Becken, wurde in Position gebracht, umgeworfen, dass das Brechen der Rippen unter dem Gewölbe krachte wie das Zerschlagen von trockenen Hölzern, noch einmal zurechtgerückt. Dann hielten zwei den Kopf fest, zwei andere setzen sich auf die trotz der Fesseln verzweifelt schlagenden Beine, und der fünfte zog das Messer durch die Kehle.

Unüberhörbar pladderte das Blut in das Becken und färbte den Greisenkörper rot. In der kühlen Luft stieg die Blutwärme in nebligen Schwaden auf.

Die Luft schien immer kälter zu werden. Die Feuchtigkeit kondensierte an den Wänden, ein schimmernder Belag von Nässe bildete sich. Und von der Decke klatschten die ersten Tropfen auf den Boden. Little hielt die Finger vor das Gesicht, einerseits, um sie zu wärmen, aber auch, weil er fürchtete, seine Atemwolken könnten ihn verraten.

 

Der Stier war an der Reihe. Auch als die gewaltige Menge seines dampfenden Blutes in das Becken strömte und ein Nebel die Gestalten einhüllte, rührte sich der Greis nicht. Lebte er überhaupt noch? Und wo war eigentlich Brantly? Wo war der Gründer und Führer der Sekte, wenn hier ein derartig blasphemisches Ritual stattfand?

Was nun kam, hatte die bittere Logik des Unvermeidbaren. Dennoch weigerte sich Little, daran zu glauben. Nicht, dass er den Helfern dort unten die Fähigkeit zu irgendeiner Perversion oder irgendeinem Verbrechen absprach. Nein, dazu hatte er sie jetzt zu ausführlich beobachtet. Aber etwas in ihm weigerte sich zu akzeptieren, dass eine solche Schändlichkeit in seiner, der Anwesenheit John Littles, stattfinden sollte. Es war ein absurder Glaube, und Little wurde vor Augen geführt, dass er falsch war.

Der schlafende Mann wurde ohne große Umstände zum Becken geschleift, der schmierige Kragen seines Hemdes wurde aufgerissen – Little schloss die Augen, aber er konnte sich nicht schnell genug die Ohren verstopfen, um nicht das Gluckern und Pladdern des Blutes zu vernehmen.

 

Mit geschlossenen Augen und verstopften Ohren saß er auf der Galerie. Wie lange, das wusste Little selbst nicht. Er war im Zustand eines Kindes, das die Gefahren der Welt vernichtet und neutralisiert, indem es sie aus seinen Sinnen vertreibt. Er starrte in die Dunkelheit seiner zugekniffenen Augen, durch die rote Flecken tanzten, und hörte das Sausen des Blutes in seinen Ohren. Dann vernahm er etwas anderes – Schreie, Kreischen, Stöhnen, Heulen, Klagen, Jammern; eine Orgelmelodie des Wahns, gespielt auf den Stimmen menschlicher Verzweiflung. Die Töne kamen näher. Sie hatten Little entdeckt, sie umkreisten ihn, sie bildeten eine Kugel, eine Sphäre der Verzweiflung um ihn. Schon spürte er, wie sich ihre ausweglose Trauer ihren Weg in seine Nervenbahnen suchte. Wie schwarzer Schimmel tasteten sich die Fäden vor, jeder gebildet von Ausweglosigkeit angesichts einer Ewigkeit der Verdammnis.

Nein, schrie es in Little, lasst mich. Ihr habt euer Leben gehabt, lasst mir nun das meine.

Aber sie bedrängten ihn, enterten seine Seele wie Schiffbrüchige, die die scheinbar rettende Nussschale unter ihrem Gewicht selbst zum Versinken bringen.

 

Little musste an Dorkas denken, der hier irgendwo war und der vergeblich auf Little warten würde. Dieser Gedanke war ein Rettungsanker. Mühsam wurde Little wieder Herr seiner selbst, gewann die Macht über seine Gedanken zurück, konnte die Augen öffnen.

Erschrocken stellte er fest, dass er auf den Rücken gefallen war und mit den Beinen gestrampelt haben musste. Die Geräusche konnten ihn verraten, die Akustik legte alles offen.

Aber er hatte Glück. Die Helfer hatten ihre Pflichten erledigt und kühlten nun ihre sexuelle Lust an den Überbleibseln der Opfer. Schmatzende, schleimige Geräusche, heftiges Keuchen und grelle Lustschreie bezeugten, dass sie anderweitig beschäftigt waren. Little richtete sich wieder auf und hob den Kopf. Die Leiche des Mannes lag auf dem Bauch am Ende einer breiten Blutspur, mit der sie vom Becken fortgeschleift worden war. Die Hosen waren ihm heruntergerissen worden. Vor der Leiche standen zwei Helfer und spielten ein Spiel mit Handzeichen. Als der eine schließlich als Sieger hervorging, ließ er die Hosen fallen und stürzte sich auf die Leiche, während der andere danebenstand und den Rhythmus mit den Händen klatschte.

Der Anblick war so abstoßend, dass Little sich die Ohren zuhielt und seine Augen auf das Becken richtete. Immer noch lag der Greis regungslos in der blutgefüllten Vertiefung.

Little rieb sich die Augen. Täuschte er sich? War das noch immer derselbe Mann, noch immer derselbe todgeweihte, zittrige Greis?

Es konnte nicht sein, Little weigerte sich, es zu glauben, auch wenn seine Augen das Gegenteil bestätigten. Die weiße pelzige Behaarung war verschwunden und einigen dunklen Locken auf der Brust und am Bauch gewichen. Die Glieder hatten sich gestrafft, die Brust war breiter und zeigte ebenso wie die Schultern kräftige Muskeln. Die mitleiderregend dürren Stängel, die den Greis vorwärts tragen mussten, waren geraden, muskulösen Beinen gewichen, die fast auf einen Sportler hindeuteten. Und wo war das Blut geblieben? Der Körper war völlig blutbesudelt gewesen, darin war sich Little sicher.

Nichts war davon zu bemerken. Die Haut schimmerte hell und rein, als sei sie eingeölt.

Gleichermaßen fasziniert wie angewidert beobachtete Little, wie der Körper des liegenden Mannes das Blut aufsaugte wie ein Schwamm. Wo eben noch eine dunkle Schicht geronnenen Blutes war, schimmerte jetzt der blanke, saubere Marmor.

Immer noch lag der Mann regungslos, aber seine Brust bewegte sich in kräftigen Atemzügen. Endlich hob er beide Arme und streckte sich mit dem behaglichen Stöhnen eines gut erholten Schläfers. Und jetzt erkannte Little, dass dort unten Brantly stand. Brantly, der gut erhaltene, der von seinem hohen Alter nicht gezeichnete Mann.

 

Little sackte wieder in sich zusammen und riskierte nur noch, mit einem Auge zwischen Bauch und Phallus einer der Zwergenstatuen vorbeizuschauen.

Der Mann im Becken erhob sich. Die Kraft eines Mannes in den besten Jahren war jeder seiner Bewegungen anzumerken. Von oben bemerkte Little etwas auf der Schädelmitte Brantlys, der sein langes. grau meliertes Haar in der Mitte gescheitelt trug, aber das trübe Licht hinderte ihn am genauen Erkennen. In aller Ruhe kleidete sich Brantly an – Unterwäsche aus schwarzer Seide, die einen seltsamen Gegensatz zu dem kernigen Leder bildete, das er ansonsten als Kleidung zu bevorzugen schien.

Trotz aller lautstark kreischenden Ekstasen ihrer sexuellen Perversionen achteten die Helfer auf ihren Herrn wie die Schießhunde. Als Brantly sich den langen Mantel zuknöpfte und den Hut aufsetzte – außer seiner Leibwäsche das einzige Kleidungsstück, das nicht aus Leder war und als Littles dieser Gedanke kam, ahnte er plötzlich, aus welcher Art Leder Brantlys Kleidung bestand, aber er verdrängte sofort diesen Verdacht – hörte das Schmatzen und Heulen auf, und die fünf sammelten sich um ihn. Er streichelte jedem liebevoll über den Kopf.

 

»Ich danke euch meine Freunde. Ohne euch hätte mich das Schwert des Verfalls, mit dem der verfluchte Schöpfer jeden Körper schlägt, dieses Mal zu Tode getroffen.« Brantly hob den Kopf zur Decke, seine rechte Hand drohte gegen den Himmel. »Warum hüllst du unsere Seelen in das Gefängnis dieses Fleisches, du Meister der Täuschung, drei Mal verflucht sei dein Name! Warum gibst du uns Jugend, die wir aus Unkenntnis verplempern, um sie als hinfällige Greise zu beweinen! Glaubst du, es reicht deinen angeblichen Sohn, den feigen Schwätzer in diesen Stoff der Fäulnis zu kleiden, um uns zu täuschen?« Brantly beendete diese Strafpredigt gegen den Gott im Himmel mit einem lang anhaltenden kehligen Schrei des Zornes.

»Bald, meine Freunde«, wandte er sich wieder an die Helfer, »Bald ist der Tag unserer Gerechtigkeit und auch ihr werdet teilhaben daran, wenn der Pfuscher im Himmel, der euch als Krüppel und Ausgestoßene zur Welt kommen ließ, unter dem Strahl unserer Rache winseln wird.«

Die fünf klatschten Beifall, hüpften auf und ab und brachen in kindischen Jubel aus. Für einen Moment erinnerte die Szene an einen guten Onkel, der im Kindergarten Bonbons verteilt.

»Nun«, sagte Brantly lächelnd, »Für eure treue Pflichterfüllung habt ihr euch ein Geschenk verdient.«

»Ein Geschenk, ein Geschenk«, kreischten die fünf und hüpften umher.

Brantly holte aus seiner Tasche einen Schlüssel und winkte den Buckligen heran.

»Du weißt, wo du die Flaschen findest?«

Der Bucklige nickte.

»Fusel, Fusel. Saufen, Kotzen, Saufen!«, sangen die fünf, fassten sich an den Händen und tanzten einen Ringelreihen. Dann löste sich der Ring und der Bucklige hinkte zu Brantly heran.

»Was ist Adolphe? Hast du noch einen Wunsch?«

Adolphe nickte. Als er sprach, war seine Stimme fast schreiend laut und die hart rollenden R kollerten wie Steinlawinen als Echo durch den Raum. »Wir haben zur Reserve noch ein Lamm und eine Ziege im Stall, mein Herr!«

»Nehmt sie euch.« Brantly streichelte Adolphe die Wange und ging. Nach zwei Schritten blieb er stehen und drehte sich um.

»Du hast doch noch was auf dem Herzen, Adolphe, mein Lieber, ich kenne dich doch. Heraus damit.«

Adolphe druckste herum und räusperte sich. Aus dem Hintergrund zischelten die anderen und flüsterten ihm Aufmunterungen zu.

»Also, mein Herr«, begann Adolphe zögernd«, wir hatten zur Reserve auch noch eine Schlunze von Säuferin mitgebracht, die jetzt im Zimmer liegt und trinkt und schmutzige Lieder singt, dass ich gar nicht wage, die Worte zu wiederholen.«

Brantly brach in Lachen aus. Dann drohte er schelmisch mit dem Finger.

»Und ihr fünf Schlingel habt natürlich den alten Säufer verbraucht und das Weib für eure Lust gelassen? Pfui und gut so.«

Adolphe protestierte energisch und voller echter Empörung. »So war es nicht, mein Herr. Die besoffene V… hat uns heilige Eide bei der Seele ihrer Mutter geschworen, dass sie getauft ist. Aber sie hat uns auch heilige Eide geschworen, dass sie erst 25 ist und sie ist mindestens 38. Und weil wirrrrr (nun, wo er erregt war, gestikulierte Adolphe wie ein begabter Redner und sein R schnarrte wie eine Kettensäge), mein Herrrr, die Taufe nicht nachprrrrrüfen konnten, erschien es uns besser den Mann zu nutzen, bei dem wir sicher waren.«

Brantly klatschte in die Hände. »Ihr habt alles perfekt gemacht. Nutzt das Weib und die Tiere nach der Maßgabe eurer Lust. Schreit vor Vergnügen, denn ihr wisst, dass dies den himmlischen Pfuscher quält.«

»Quält, quält«, sangen die Helfer und tanzten durch den Raum, bevor sie verschwanden.

Von Weitem konnte Little noch den Gesang vernehmen: »Saufen, Kotzen, Fressen, F…, Quä…«

Brantly schaute ihnen nach. Auf seinem Gesicht war väterlich mildes Lächeln. Dann wandte er sich der Treppe zu und stieg sie, drei Stufen auf einmal nehmend, hoch.

 

Little wartete, bis die Tür zugeschlagen war. Das Entsetzen über die Szenen, deren Zeuge er gewesen war, überdeckte die Furcht vor dem, was ihm bei Entdeckung blühen könnte. Jetzt war es plötzlich gut, dass er sich zuerst davor fürchten musste, die Tür am Beginn der Treppe verschlossen zu finden. Danach kam eine andere Furcht und dann noch, eine Schicht nach der anderen, die den Kern verdeckte – jene andere Furcht, die die schlimmste war, weil man sie nicht benennen konnte, die aber die Seele wie Eiswasser erstarren ließ.

Schließlich schien es Little, dass er lange genug gewartet hatte. Er stieg die Treppe hoch, fand die Tür unverschlossen und das Haus völlig still. Nach einigem Hin und Her folgte er dem Weg, der ihn hineingeführt hatte, wendete sich am Ausgang nach rechts und huschte über den Gang. Ein Wind hatte sich erhoben und heulte mit heftigen, unangenehm kalten Stößen um die Gemäuer. So stark waren die Böen, dass sie Little fast gegen leeres Eisenfass trieben, das an einem Abgang stand und beim Herabfallen sicherlich jeden Anwesenden durch seinen Lärm alarmiert hätte.

 

Little gelangte zur Kirche. Über dem Portal waren romanische Skulpturen von Heiligen angebracht. Ihre Gesichter waren durch Hammerschläge zerstört. Die zweiflügelige Tür war kaum zu öffnen. Ein Durchzug pfiff durch den schmalen Spalt, den Little mit aller Körperkraft aufdrückte, und schob das schwere Türblatt wieder zu. Little mühte sich mit aller Kraft, als er sich schließlich durch den Spalt schieben konnte, hätte ihn die zuschlagende Tür fast wie eine Guillotine zerteilt. Das Krachen rollte durch das Kirchenschiff. Little hielt den Atem an. Er wartete, aber nichts geschah. Dann tastete er sich vorwärts, griff in schweren, weichen Stoff, raffte einen Vorhang zur Seite und war in der leeren, matt beleuchteten Kirche.

Der Sturm heulte um das Gebäude. Und von irgendwo ertönten die grellen Schreie einer Frau.

Little lauschte auf. Ihm wurde in diesem Moment bewusst, wie sehr er auf seine körperlichen Sinne angewiesen war, denn seine intuitiven Antennen gaben ihm keine Sinneseindrücke. Vielleicht unterdrückte die Anspannung seine telepathischen Fähigkeiten oder es gab etwas in diesen Räumen, was sie unterdrückte. Wieder drangen die kläglichen Geräusche an seine Ohren.

Es war eine Abfolge von hellen Schreien, unterbrochen von Keuchen und lautem Stöhnen. Little war sicher, dass eine Frau gefoltert und gequält wurde. Er versuchte sich zu orientieren, woher die Geräusche kamen, aber der Sturm, der sich in immer größere Wut gesteigert hatte, pfiff und heulte, als wolle er die Frau übertönen. Schließlich war sich Little sicher, dass die Geräusche aus dem hinteren Bereich des Kirchenschiffes kamen. Er schritt vorsichtig in diese Richtung und stolperte über eine Schwelle. Vor der Apsis hing ein Kreuz von der Decke. Sie hatten es verkehrt aufgehängt, sodass der Kopf des Gekreuzigten knapp über dem Boden hing. Der Geruch nach Urin zeigte, auf welche Weise die Domaine de Brantly ihrer Verachtung dieses Gesandten des Betrügergottes Ausdruck verschaffte.

Eine Ölfunzel lockte Little an und zeigte ihn einen Durchgang zu einer Wendeltreppe. Ja, er erinnerte sich. Die Kirche stand auf einer erhöhten Ebene, und es war in der Mauer eine Türe erkennbar, die zum Kreuzgang führte. Also gab es eine zweite Kirche. Soweit reichten Littles Kenntnisse der romanischen Kirchenarchitektur, um zu wissen, dass daran nichts Außergewöhnliches war.

Das Stöhnen und Klagen kam aus dem unteren Bereich, da gab es keinen Zweifel mehr. Dort fand die große Ankunft statt, von der Brantly gesprochen hatte. Und dort musste auch der Grand Albert sein.

 

Stufe für Stufe schob sich Little nach unten. Er lauschte in beide Richtungen und war in jedem Moment zur Flucht bereit. Das Schreien der Frau brachte ihn an den Rand der Verzweiflung. Obwohl – obwohl Littles Überzeugung bröckelte. Er gelangte zum Fuß der Treppe. Als er um einen Pfeiler schaute, sah er auf die Rücken einer eng aneinander gedrängten Zuschauerschar. Alle trugen lange wallende schwarze Gewänder, an denen goldgestickte symbolische Verzierungen glitzerten. Eine Vielzahl schwarzer Kerzen tauchte den Raum in ein helles, zugleich aber sanftes Licht. Hier unten war vom Heulen des Windes nichts mehr zu hören. Die Schreie der Frau und das unterdrückte Stöhnen eines Mannes bildeten die einzigen Geräusche. Die Zuschauer bildeten eine Mauer regloser, schweigender Gestalten.

Little überkam die Empfindung, hier wirklich in etwas eingedrungen zu sein. Vorher war er in Räumen, war eingeschlossen zwischen Wänden und Decken. Und dennoch war er nicht so eingeschlossen wie jetzt, wo ihn etwas Lebendiges aufzunehmen schien, wo er sich vorkam wie im Leib eines Leviathans.

Er schlich sich zur Seite, wo hinter einer Säule eine erhöhte Nische war. Es war ein großes Risiko, dort hineinzuklettern, aber als er sich überwunden und es tatsächlich geschafft hatte, besaß er einen Logenplatz, der ihm Überblick über gesamtem Raum verschaffte. Und weil er selbst im Dunkeln der Nische war und in die Helligkeit schaute, war die Gefahr der Entdeckung ab jetzt denkbar gering.

Little merkte bald, dass es überhaupt nie eine Gefahr der Entdeckung gegeben hatte. Alle Anwesenden waren völlig von der Zeremonie in Anspruch genommen, an der sie teilnahmen.

Und die Männer und Frauen, die immer wieder herumgingen, um jeden aus einer Schale trinken zu lassen, verteilten nicht nur klares Wasser. Little schaute in die Gesichter. Er kannte sich mit Drogen gut genug aus, um die Zeichen zu erkennen. Hier stand jeder unter ihrem Einfluss.

 

Etwa fünfzig Personen hatten einen Kreis gebildet. In ihrer Mitte war eine altarartige Erhebung, über die eine rote Seidendecke gebreitet war. Das blonde Haar der Frau und die weiße Haut ihres makellosen Leibes hatten durch den bloßen Kontrast zu dem blutigen Rot eine erregende Wirkung, der sich Little nicht entziehen konnte.

Er stellte fest, dass es nicht die Frau war, die er an der Tankstelle gesehen hatte und war im gleichen Moment über eine Erleichterung, die sich deswegen unwillkürlich bei ihm einstellte, zugleich verwundert und verärgert.

Das Schreien der Frau steigerte sich zu einer Folge schriller, fast schmerzhafter Töne. Sie warf den Kopf tief in den Nacken, ihr Haar breitete sich auf der schimmernden Seide aus. Ihre Hände verkrampften sich zu Krallen, ihre langen Fingernägel zogen blutige Spuren über den Rücken des Mannes, der zwischen ihren Schenkeln stand und in diesem Moment mit unterdrücktem Grunzen, mit Muskeln und Sehnen, die sich durch die Haut drückten, als wäre ihnen der Körper zu klein geworden oder als würden sie durch den Druck einer Explosion nach außen getrieben, den Höhepunkt der Lust erfuhr. Der Mann senkte den Kopf und verharrte vor Anstrengung keuchend, die Frau stieß ein katzenhaftes, rollendes Stöhnen aus und warf aufatmend den Kopf auf die andere Seite. Dann lösten sie sich vorsichtig voneinander, dem Mann wurde ein Gewand über die Schultern geworfen und er nahm einen Platz unter den Umstehenden ein, die schweigend auseinanderrückten.

 

Unter den Zuschauern gab es keine Erregung, keine Gier, keine Geilheit, sondern eine Art von konzentriertem Interesse, das Little einmal bei einer Gruppe Studenten aufgefallen war, die ein schwieriges Experiment beobachteten. Diese innere Sammlung stand im Kontrast zum Verhalten der Frau, die ihrer Gier in aller Schamlosigkeit nachgab, sich auf dem Altar zur Seite wälzte und immer wieder von Schauern der Lust geschüttelt wurde.

Dann drehte sie sich auf den Rücken und öffnete erneut ihre schlanken Schenkel. In dieser Bewegung lagen Bereitschaft, Herausforderung und gleichzeitig Ergebung. Eine Frau trat aus dem Hintergrund heran, stellte vier Kerzen auf jede Seite des Altares und verschwand ohne ein Wort. Nichts geschah, die Unterbrechung schien die Zeit anzuhalten. Die Zuschauer schwiegen und schauten, die Frau auf dem Altar atmete schwer und strich sich über den schweißglänzenden Bauch. Dann wurde eine Schale mit einer Öllampe herangetragen. Ein Mann hielt sie vorsichtig in beiden Händen, während die Frau, die schon die Kerzen aufgestellt hatte, die Dochte mit einem Kienspan entzündete. Für jede Kerze nahm sie ein neues Stück Holz, beobachtete den Kerzendocht, schützte ihn mit der freien Hand und blies dann den Kienspan aus.

Wieder war es der unaufhebbare Widerspruch zwischen pornografischer Obszönität und zeremonieller Würde, der Little erschütterte. Der Mann und die Frau umschritten den Altar und verrichteten ihre Arbeit, ohne sich um die Blondine zu kümmern, deren Finger inzwischen die Stelle des abwesenden Liebhabers eingenommen hatten.

 

Sie brauchte nicht lange zu warten, bis ihre Sehnsucht auf andere Weise gestillt wurde.

Das Spiel begann von Neuem, eine weitere Inszenierung des Dramas von Mann und Weib und ihrer Lust aufeinander und aneinander.

Wieder drangen Schreie aus der Frauenkehle, die unartikulierte, tierische Sprache der sexuellen Lust, entstanden, bevor das erste Wort über die Lippen eines Zweibeiners kam. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Maske reiner Gier, sie fletschte die Zähne, verdrehte die Augen, warf den Kopf wie in ungezähmter Wut von einer Seite zur anderen. Sie hatte allen weiblichen Reiz und jede frauliche Schönheit verloren und wirkte nun wie ein dämonisches Wesen, das den Mann mit einer Flut obszöner Worte aufpeitschte wie mit Peitschenschlägen, die ihn kratzte, an seinen Haaren riss, in seine Schulter biss, während er keuchend mit maschinenartiger Gleichheit und Wucht die Hüften bewegte, dass die Stöße wellenartig über den Körper der tobenden Frau liefen. Die Kerzen um den Altar flackerten und rauchten, als würden von den wilden Umarmungen des Paares Windstöße ausgehen. Die schrillen Klänge, das Stöhnen, das lüsterne Jammern und Klagen erfüllten das Kirchenschiff, wurden von Wänden und Decken zurückgeworfen, verstärkten sich, sprangen wie ein Meute Hunde in jede Ecke, jede Nische.

 

Durch die Zuschauer ging eine Bewegung. Als gäbe es irgendwo ein geheimnisvolles Umsetzgetriebe – seelische Zahnräder, psychische Gelenkstangen, metaphysische Übertragungsriemen – das die wild und ungebremst zuckende Energie auf dem Altar umwandelte, begannen sich die Menschen langsam zur Seite zu bewegen. Ihre nackten Sohlen schleiften über den Boden, mit kaum merkbaren Bewegungen setzten sie einen Fuß zur Seite, zogen den anderen nach, setzten wieder den Fuß zur Seite. Ihre Gesichter behielten den Ausdruck absoluter Konzentration, ihre Schultern berührten sich noch immer, als wären sie nicht viele Einzelne, sondern nur eine einzige, kraftvolle, gesammelte und zu allem entschlossene Gestalt.

Während sich die Stimme der Frau zu immer größerer Intensität steigerte, konnte Little die Gesichter der Zuschauer betrachten. Es traf ihn wie ein Schlag, als er einen Mann erkannte, den er vor Tagen im Fernsehen gesehen hatte. Ein Mitglied der Regierung, eine wichtige, maßgebende Persönlichkeit der Republik, in maßgeschneiderte Anzüge gewandet, aus schwarzen Limousinen an Haltung annehmenden Wachen vorbei an Kamerahorden durch weltweit bekannte Eingänge zu den Orten der Entscheidung eilend. Sein Gesicht über dem Lanzenwald der Mikrofone, telegen, verbindlich, diplomatisch, sorgfältig ondulierte Stirnfalten, gewichtiges Äääähm, bevor fundamentale Sätze von weltpolitischer Bedeutung fielen, die die Börsenwerte steigen oder fallen ließen …

 

Er war nicht der Einzige, den Little erkannte. Ein gutes Dutzend Gesichter kam ihm bekannt vor – vom Fernsehen, aus den Zeitungen, von den Titelbildern der Hochglanzmagazine.

Ihm wurde fast schwindlig. Schon das Alter der Anwesenden, die zum großen Teil die Mitte des Lebens überschritten hatten, zeigte Little, dass er hier keine Veranstaltung beobachtete, die man leichthin unter dem Etikett Jugendsekte abheften konnte. Oh nein, diese Leute hatten Intelligenz, sie hatten Bildung, sie hatten Macht, sie hatten Einfluss, sie hatten Reichtum, manche hatten sogar Geist. Und alle diese Menschen, deren Entscheidungen das Leben von Millionen anderer Menschen, wenn nicht das der ganzen Welt, beeinflussten, hatten sich zusammengefunden, um die Domaine de Brantly zu bilden. Sie garantierten ihrem Führer eine fast unaufhebbare Immunität gegenüber dem Gesetz, der Justiz oder den Medien.

Vor allem waren sie sicherlich nur die Elite, die Auserwählten und stellten den innersten Kreis des inneren Kreises dar. Wie viele von ihnen mochte es geben? In welchen Ländern und in welchen Positionen?

 

Das Erschrecken und die Überlegungen hatten Littles Aufmerksamkeit abgelenkt. Er hatte das Kommen dreier, in Kapuzen verhüllter Gestalten nicht bemerkt. Sie traten an den Kopf der Frau, die völlig abgekapselt in der Ekstase ihrer Lust schien.

Das Folgende ging so schnell, dass Little es erst verstand, als das Geschehen schon zur Vergangenheit zählte. Zwei der Drei packen die Arme der Frau und hielten sie auseinander, sodass der Oberkörper freilag und für einen Moment die auf- und abwogenden Brüste zu sehen waren. Die dritte Gestalt schob die Hand in den Ausschnitt ihres Gewandes, zog sie mit einem Dolch heraus und stieß die Klinge mit einer einzigen Bewegung in das Herz der Frau.

Ein Schrei brach ab, die Glieder des Opfers erschlafften, ihr Kopf fiel zur Seite. Nur noch der Griff in Form eines Fledermausflügels ragte zwischen den Halbkugeln ihrer Brüste heraus.

Ein schmaler Blutstrom quoll aus der Wunde und verlief mit dem Schweiß zu einem roten Schleier auf ihrem Bauch.

Der Mann ergoss sich mit Stiergebrüll und wurde nach einer Weile, als er seine Erschöpfung und Betäubung überwunden hatte, bekleidet und zu den übrigen Zuschauern geleitet. In dieser Zeit hatte der Mörder den Kopf der Toten in seinen Schoß genommen, ihr die Lider über den starren Augen zugedrückt und streichelte versonnen ihr Gesicht und ihr seidiges Haar.

 

»Lasst uns preisen die Gabe und lasst uns preisen den Empfänger der Gabe!«

Die Stimme Brantlys erklang aus dem Hintergrund. Zustimmendes Gemurmel kam als Antwort von den Umstehenden. Nun trat Brantly in das Licht. Er stand hinter dem Mörder, dem Henker oder dem Opferpriester, hob mit einer zeremoniellen Geste dessen schwarzes Gewand auf und warf es zur Seite. Er enthüllte eine weiß gekleidete junge Frau mit langem blondem Haar. Little erkannte sie sofort. Es war sie. SIE! Die Frau, die ihm an der Tankstelle einen Blick zugeworfen hatte, den er noch immer zu spüren glaubte wie den Duft eines langsam schwindenden Parfüms.

Die Erregung verklang langsam, die Bewegung der Zuschauer kam zum Erliegen. Stille breitete sich aus, in der man die Menschen atmen hörte.

Aber nun erschien Brantly selbst. An seinem Äußeren hatte sich nichts geändert, wenn man von einem schwarzen, goldbestickten Band absah, das er über den Schultern seines Ledermantels trug und dessen Enden auf seine Brust herabfielen.

»Heute, meine Freunde, ist die Nacht der großen Ankunft. Bereitet den Weg!«

Die herrische Stimme wirkte auf die Mauer der reglosen Zuschauer wie eine Explosion, der einen Damm zum Bersten bringt. Die Menschen stürzten sich augenblicklich in rastlose Tätigkeit, liefen fort, kamen mit Gegenständen beladen zurück, wuselten durcheinander wie ein fleißiges Ameisenvolk. Es schien wie ein hektisches Durcheinander, ausgeführt von Schlafwandlern, die mit unbewegten Gesichtern ihren ganz eigenen Aktivitäten nachgingen.

Doch aus dem scheinbaren Wirrwarr wuchs die Vorbereitung für die große Zeremonie und Little erkannte, dass jeder der Teilnehmer genau wusste, was zu tun war. Sie alle waren Teile eines großen Plans, Mosaiksteinchen, die sich selbst zum großen Bild zusammenführten. In ihrer Trance folgten sie den unsichtbaren Fäden eines Wissens, das sie alle zu einem Muster verwob.

 

Die Tote wurde in die rote Altardecke gehüllt und fortgeschafft. Eine schwarze, mit Gold und Silber verzierte Decke wurde als Ersatz aufgelegt. Die Frau – die Frau, die Little sich nur als sie dachte, als wäre sie mehr als nur ein Mensch – wurde entkleidet und mit Öl gesalbt.

Dann wurden Symbole in verschiedenen Farben auf ihren Leib gemalt. Als diese Arbeit beendet war, kniete sie sich mit gespreizten Schenkeln auf den Altar, formte die Finger zu symbolischen Gesten und schien zu einer Skulptur zu erstarren. Um sie herum wurden die Kerzen entfernt und dreizehn Schalen, in denen brennende Dochte auf Öl schwammen, um den Altar gestellt. Auch alle anderen Kerzen im Kirchenschiff erloschen. Die Luft wurde schwer von dem blauen Rauch, der sich von den gelöschten Dochten hochringelte. Zusätzlich wurden Behälter mit Räucherwerk aufgestellt, aus denen schwere weiße Wolken aufstiegen und einen trägen, süßlichen Duft verbreiteten. Mit jedem Luftholen schien auch Little von einer Betäubung erfasst zu werden. Er konnte seine stieren Blicke nicht mehr von der Frau lösen.

Niemals seit er an diesem fernen zurückliegenden Tag in den Isolationstank gestiegen war, hatte ihn ein Anblick derart erregt.

Sie ist nicht schön, sagte er sich. Er wusste, dass er recht hatte und dass es nichts bedeutete, recht zu haben. Sie hatte tatsächlich wenig frauliche Reize und wirkte in ihrer Schlankheit, mit kaum entwickelten Brüsten und schmalen Hüften, fast knabenhaft. Wie ein Fohlen, sagte sich Little. Wie ein Fohlen, versuchte er sich in den Kopf zu hämmern. Schau dir nur die Beine an, sie ist viel zu dürr, sie hat keinerlei Reiz, sie hat lächerliche Hüften und Ansatz zu X-Beinen, sie wäre in einem Bikini eine Lachnummer, sie wird von jedem Trampel ausgestochen …

Aber wie sie still auf dem Altar saß, in dem seltsamen Schmuck ihrer Bemalung, die blauen Augen in dem schmalen Gesicht ruhig, gelassen und unbewegt, fühlte Little eine Gier in den Lenden, als wäre er ein geiler Faun, der sich des Mittags an eine Najade anschleicht. Er rutschte in seiner Nische und war drauf und dran herabzuspringen und sich auf die Frau zu stürzen, als ihn ein anderes Ereignis wieder an den Anlass seiner Mission erinnerte.

 

Der Grand Albert wurde hereingetragen! Der Anblick ernüchtere und enttäuschte Little, eine Empfindung, die er in diesem Moment allerdings als durchaus wohltätig empfand. Der Grand Albert, das Hexenbuch, die Quelle der Weisheit aller Zauberei, war so groß wie ein normaler Fotoband. Die Buchdeckel bestanden aus Holz, auf dem eine ungelenke Hand krude Zeichnungen von Blättern, Blüten und Vögeln gemalt hatte. Der Rücken war verschlissen und schäbig und zeigte in der Art seiner Bindung, dass er einst von einem Menschen hergestellt worden war, der die Regeln des Handwerks nur unvollkommen beherrschte. Das Buch wurde vor den Altar gelegt. Um diesen Altar konzentrierten sich nun alle Aktivitäten. Aus flachen Schalen wurden rote, weiße, grüne und blaue Flüssigkeiten gegossen. Von Little bisher unbemerkt gab es um den Altar herum Vertiefungen im Boden, in die nun die Farbe floss und langsam ein mandalaartiges Zeichen bildeten. Andere schütteten farbigen Sand zu Figuren auf den Boden. Wenn sie ihre Arbeit getan hatten, schritten sie in den Hintergrund und bildeten so nach und nach wieder eine Umrandung reglosen Zuschauens, während sich das komplizierte, vielfach in sich verschlungene Symbol seiner Vollendung näherte.

 

Schließlich nahm Brantly seinen Hut ab und gab ihn einem Helfer. Er und die Frau waren nun die Einzigen, die sich innerhalb des Mandalas aufhielten. Im flackernden Schein der dreizehn Öllampen leuchteten die Gesichter der Umstehenden.

»Lasst uns beginnen!«

Sie drängten sich näher aneinander, formten einen Kreis und legten sich gegenseitig die Arme um die Schultern. Brantly drehte der Frau auf dem Altar den Rücken zu. Er stand jetzt ziemlich genau unter Littles Nische. Der sah nun noch einmal die hageren, fanatischen Gesichtszüge und fragte sich, ob Brantly schon wieder gealtert war. Jetzt, wo er bei besserer Beleuchtung den Scheitel des Satanisten sehen konnte, erkannte Little in der Mitte des Schädels eine Wunde. Sie war mandelförmig, etwas drei Zentimeter breit und zu Littles Schrecken konnte er darin glänzende blutig-rote Haut erkennen, durch die im Rhythmus des Herzschlages ein Beben lief.

Brantly konzentrierte sich lange. Dann sog er pfeifend die Luft ein und schrie mit Donnerstimme.

»Es beginnt!«

Die Zuschauer setzen sich in eine langsame Bewegung, sodass der gesamte Kreis wie ein Rad um den Altar rotierte.

Ein dumpfes Summen kam von allen Lippen. Es wirkte, als ob sich irgendwo ein Schwarm riesiger Hornissen aufgemacht hätte. Das Summen, obwohl leise, füllte den Raum und setzte die Luft in Schwingungen.

»Belphegor mir zur Linken. Steige auf, Machtvoller und stehe uns bei«, erklang die laute Stimme Brantlys.

»Belphegor, stehe uns bei«, flüsterte der Chor der anderen Teilnehmer.

»Behemoth mir zur Rechten, steige auf, Schöner, und stehe uns bei.«

»Behemoth stehe uns bei.«

Die Luft schien sich mit elektrischer Spannung aufzuladen. Little konnte spüren, wie sich seine Haare langsam aufrichteten. Als er über sein Hemd strich, knisterte der Stoff und blaue Funken sprangen unter den Fingerspitzen.

»Astaroth mir zu Stirn, steige auf, Wissender und stehe uns bei!«

»Astaroth stehe uns bei.«

»Amon mir zu Nacken. Steige auf, Überwinder, und stehe uns bei.«

»Amon, stehe uns bei!«

»Hasdamas mir zu Haupte. Steige auf, Völkerbesieger, und stehe uns bei.«

»Hasdamas, stehe uns bei.«

»Glysabolas mir zu Füßen. Steige auf, Unzerstörbarer, und stehe uns bei.«

»Glysabolas, stehe uns bei.«

 

Eine Pause der Erschöpfung entstand. Brantly stand breitbeinig, unbewegt und mit auf die Brust gelegtem Kinn. Die pulsierende Wunde an seinem Kopf blutete und färbte die Haare in ein schmutziges Rot.

Das menschliche Rad begann sich schneller zu drehen. Statt des Summens stießen die Münder ein kehliges Stöhnen aus. Vielleicht war es auch ein Wort, gebildet aus magischen Tönen und altüberlieferten Silben. Sie wiederholten es immer wieder wie eine Beschwörung, steigerten das Tempo, wurden lauter. Little war sicher – ein Zauberwort, ein magisches Mantra aus den Klängen, die das Universum zum Schwingen bringen.

In diesem Chor hinein begann Brantly mit der Litanei der Verfluchungen. Er verfluchte den Schöpfer und sein Werk, die Heiligen, die Kirchen und ihre Diener, die Religionen und ihre Moral. Eine Abfolge hasserfüllter und obszöner Worte war es, die vielleicht sogar in ihrem Eifer komisch gewirkt hätten, wäre nicht der tödliche Ernst gewesen, der sie trug. Auch Brantlys Stimme wurde lauter. Seine Erregung ließ sich nicht mehr verbergen und am Ende seiner Litanei der Verachtung schrie er mit höchster Lautstärke, zitternd vor Zorn wie ein Volksredner, der die Ungerechtigkeiten des politischen Systems anprangert. Er verstummte abrupt, ließ den Nachhall verklingen und wandte sich der Frau auf dem Altar zu.

»Steige auf, Satan, unser Herr und Meister, steige auf aus den schwarzen Grüften deiner Verbannung. Siehe, dein Weg ist bereitet, siehe, die Pforte ist geöffnet, siehe, das Feld ist bestellt.«

Mit einem Schlag kühlte sich die erhitzte Luft in dem Kirchenschiff ab. Brantlys Atem stieg als Nebel auf, der Körper der nackten Frau auf dem Altar schien vor Hitze zu dampfen.

»Erhebe dich, Satan, und breite die Flügel aus. Tritt in unsere Mitte und nimm dieses leibliche Gabe, dass du unter uns weilst in der Ödnis der fleischlichen Vergänglichkeit und uns leitest hindurch durch den Schleier der Verwirrung in deine Gefilde!«

 

War es eine Täuschung? Little rieb sich die Augen. Es konnte nicht sein, die Kreisbewegung, die immer schneller wurde, sich zur besinnungslosen Raserei steigerte, hatte ihn getäuscht. Er beobachtete noch einmal das Mandala auf dem Fußboden. Es bewegte sich tatsächlich. Symbole verschoben sich. Linien krümmten sich oder krochen wie Würmer zu anderen Symbolen und vereinten sich mit ihnen, Kreise lösten sich auf und wurden zu Dreiecken, Farben vermischten sich und bildeten neue Kombinationen. Das Mandala erwachte zum Leben, es atmete, es wuchs und veränderte sich wie ein Organismus.

Die Erregung, die sich von Beginn des Rituals gesteigert hatte, brachte den Raum zum Vibrieren. Spitze Schreie erhoben sich über das rhythmische, schnelle Singen der magischen Mantras. Einzelne Teilnehmer fielen in Ohnmacht oder gerieten in eine Art Verzückung und wurden von den anderen mitgeschleift. Das Rad drehte sich, eine Gebetsmühle aus Menschenkörpern, die ihre Beschwörungen zu immer feinerer Substanz vermahlte.

Auch John Little war kein Zuschauer mehr. In jeder seiner Körperzellen spürte er das Vibrieren, das lebendige, energiegeladene Pulsieren, das die knisternde Ekstase des Rituals aufnahm. Niemals im Leben hatte sich Little so stark und so lebendig gefühlt. Er merkte, wie sein Zwerchfell trommelartig vibrierte, er spürte, wie trotz der Kälte sich der Schweiß durch seine Poren drängte und in Dampf hüllte.

Auch das Mandala drehte sich, nein, es begann im Kreise zu tanzen. Brantly stand unbewegt, aber aus seiner Scheitelwunde quoll ein breiter Blutstrom, sickerte in sein Haar und lief über seine Wangen. Die Frau auf dem Altar wurde von Zuckungen geschüttelt. Als würden Stromstöße durch ihren Körper gejagt verfiel sie in Krämpfe, ihr langer Zopf peitschte wie der Schweif eines wütenden Tiers über ihren Rücken und ihre Brust. Ihre Augen waren aufgerissen, ein Schrei wollte sich aus ihrem Mund lösen und blieb dennoch stumm.

 

Ja, und es kam. ES KAM! Little war sich sicher, wie er sich niemals vorher über etwas sicher gewesen war. Er konnte die Annäherung körperlich spüren. Windstöße fauchten durch den Raum und brachten die Flammen fast zum Erlöschen. Die Luft begann zu kochen, als würde sie aus der Hitze unterirdischer Kavernen aufsteigen, das Mandala wurde zu einem rasenden Kreis, zugleich irrsinnig schnell und scheinbar unbewegt. Die Frau stöhnte, hin und her geworfen versuchte sie ihre Position zu behalten. Ihre Pupillen waren verdreht, nur noch das Weiße schimmerte glänzend in ihrem Gesicht. Und nun stieg vor dem Altar eine Säule glühender Luft auf, kochend, wabernd wie flüssiges Metall. Die Umrisse einer Gestalt begannen sich aus den wirbelnden Schlieren zu lösen. Riesig, ungeschlacht, mit zackigen Flügeln beugte sich über die Frau und näherte sich ihr. Die Frau warf den Kopf in den Nacken, Blut schoss ihr aus der Nase und Ohren und lief in Fäden, wie dünne Schlangen, wie Risse, die sich durch Marmor ziehen, über ihr Gesicht. Mehr und mehr gewann die Gestalt an Festigkeit. Die gewaltigen Hörner, diese Urzeichen unbesiegbarer Kraft und Vitalität wurden sichtbar. Die Gestalt brüllte, dass die Ohren vor dem Druck der Schallwellen und umarmte die Frau …

 

In diesem Moment geschah etwas, das in der bisherigen Geschichte des Satanismus unbekannt war und wohl auch nicht wiederholt werden wird: Eine mit Besen und Wischmopp bewaffnete Gestalt in geblümtem Hauskittel, mit ausgetretenen Gesundheitslatschen und einem giftgrünen Kopftuch betrat unter lautstarkem Hersingen schottischer Kriegslieder die Szenerie und begann mit dem heiligen Zorn eines Rächers aller Putzfrauen, das Mandala mittels Wasser und Wischmopp zu zerstören. Dabei sang sie mit zitternder, aber weithin vernehmlicher männlicher Stimme weiterhin einen schottischen Schlachtengesang, dessen Refrain lautete: Lasst uns die Hochlandweiden düngen mit englischen Leibern, heißa fröhlich das Schwert geschwungen bei Loch Rodochnar.

Die Gestalt krakeelte wie ein Anhänger von Celtic Glasgow lange nach einem Sieg und kurz vor der Sperrstunde und dabei, mit steinlawinenmäßig kollerndem R und halsentzündungsartigem ch, wischte sie mit verbissener Schnelligkeit über die Mandalasymbole.

Wenn es nicht die Stimme gewesen wäre oder die Brille unter dem Kopftuch, so hätte Little zumindest der Anblick der feisten, behaarten Waden, die unter dem unförmigen Polyesterkittel hervorschauten, überzeugt.

 

Es war Dorkas!

Den Namen zu denken und aufzuspringen war für Little eins. Er setzte aus der Nische auf den Boden, machte zwei, drei Sprünge und war vor dem Altar. Die Hitze war so, als hätte man neben ihm einen Hochofen geöffnet. Weiße Flecken tanzten vor seine Augen, die Hitze floss wie ätzende Säure in seine Lunge und brannte auf den Schleimhäuten.

Aber Little packte zu und fühlte das Holz des Buchdeckels. Er riss den Grand Albert an sich. Im gleichen Moment spürte er die Berührung nackter Haut, einen Bruchteil einer Sekunde nur, aber durch seinen Körper schoss eine Empfindung von Hingabe, von süßer Ergebung und Weichheit, die ihn lähmte.

Der Eimer, den ihm Dorkas in den Rücken knallte, brachte Little auf den Pfad der Pflicht zurück. Er drehte ab und rannte hinter Dorkas her. Die Wendeltreppe hoch, wohin, nach rechts, Dunkelheit, Stolpern, die verfluchte Stufe, der Vorhang, die Tür, in welche Richtung geht sie auf, falsch, nach außen, der Platz, wohin, Dorkas hinterher, das Haus, die Tür, Geruch nach Reinigungsmitteln, die Tür, Vorsicht Treppe …

»Wo wollen Sie hin?«, keuchte Little. Er drückte den Grand Albert wie ein Kind an die Brust.

»Zum Wagen, wohin sonst«, japste Dorkas. Er bemerkte den Blick Littles und riss sich das Kopftuch ab.

»Wollen Sie auf die U-Bahn warten«, fügte Dorkas hinzu, eine giftige Bemerkung, die auf eine gewisse empörte Eitelkeit bei ihm schließen ließ.

Im Dunkeln, das nur durch das Sternenlicht erhellt war, stolperten sie über den Hang. Der Wind riss an ihren Kleidern und warf ihnen Staub ins Gesicht. Little verbarg sich hinter dem Buch, Dorkas legte einen Arm über die Augen und wedelte mit der anderen Hand tastend umher.

 

Endlich erreichten sie den Wagen. Den Rückweg erledigte Little im Stil eines Rennfahrers. Die Löcher, durch die er den Wagen trieb, ließen die Federung krachen, jedes Mal sprangen die beiden Insassen aus ihren Sitzen und fielen mit einem dumpfen Stöhnen wieder auf die dünne Polsterung zurück.

Sie erreichten den Talweg und rasten zur Straße. Im Licht der Scheinwerfer vollführten die Schatten des Waldes einen bedrohlichen Tanz. Als sie endlich auf der Straße waren, klopfte Dorkas dem Fahrer auf den Arm.

»Inzwischen kenne ich Ihre Qualitäten auf dem Gebiet der beschleunigten Fortbewegung über unbefestigte Wege, Herr Little. Sie können es nun langsamer angehen lassen.«

»Und wenn wir verfolgt werden?«

»Wir sind in keinem Moment verfolgt worden. Die Leute waren in Trance, die haben wohl immer noch nicht kapiert, was überhaupt geschehen ist.«

»Und warum, um Himmels willen, haben Sie mir das nicht sofort gesagt?«

»Nun, ich wollte so schnell wie möglich aus diesem blöden Kittel heraus.«

 

Ihre erste Station auf der Rückreise war Lourdes. Dorkas bestand darauf, für einige Tage in der Stadt zu bleiben, die voller Pilger in Rollstühlen und auf Bahren war. Sie nahmen eine Herberge in unmittelbarer Nähe der Kathedrale.

Nachdem die Sache überstanden war, schien Dorkas in einen Schockzustand zu geraten, von dem er sich erst langsam erholte. Immerhin erfuhr Little, dass sich Dorkas an die letzte Person im Gänsemarsch des Reinigungstrupps herangemacht hatte. Es handelte sich bei den Arbeitern durchwegs um geistig behinderte Insassen eines kirchlichen Asyls auf der spanischen Seite der Grenze, die illegal für Arbeiten eingesetzt wurden. Dorkas machte der Frau irgendwie klar, dass er ihre Kleidung und ihre Arbeit haben wollte und diese Dame war klug genug, dem Klamottentausch zuzustimmen und sich für eine Ruhepause hinter einen Busch zu legen.

»Und warum musste es ein schottisches Lied sein?«, erkundigte sich Little.

»Ich bin der Überzeugung, dass der schottische Charakter seine kämpferischen Qualitäten vor allem im folkloristischen Liedgut zum Ausdruck bringt. Und mir schien das zum Anlass zu passen. Ich hätte zugegebenermaßen gerne einen Dudelsackpfeifer und zweitausend Mann mit Claymore-Schwert über der Schulter bei mir gehabt.«

»Nun, Sie haben es auch so geschafft.«

»Mit Ihrer Hilfe. Und ich hatte bei der ganzen Sache eine derartige Angst, dass ich mir in die Hosen gemacht hätte, wenn ich welche angehabt hätte.«

»Was, Sie hatten keine – Hosen an?«

Dorkas war das Thema sichtlich unangenehm. Little hingegen entwickelte plötzlich ein gewisses boshaftes Interesse und fragte nach.

»Also -«, druckste Dorkas, »die Dame bestand auf einem totalen Tausch, auch der Leibwäsche. Nun, für die große Sache war ich bereit meine – ääh Unaussprechlichen hinzugeben, aber die ihren anzuziehen konnte ich mich doch überwinden.«

»War das nicht ein bisschen kalt?«, hakte Little nach, ohne eine Antwort zu bekommen.

In der ganzen Zeit ließ Dorkas den Grand Albert nicht einmal aus den Augen. Einmal hörte Little, wie Dorkas den Kopf schüttelte und vor sich hin murmelte: »Ich glaube es einfach nicht. Ich habe Brantly mitten aus seinem großen Ritual den Grand Albert geklaut. Absolut unfassbar.«

»Was wäre geschehen, wenn wie das Ritual nicht gestört hätten?«, wollte Little eines Tages wissen.

Dorkas zuckte die Achseln. »Ich kann es nicht sagen. Ich jedem Moment wird die Geschichte der Welt verändert – durch Dinge, die geschehen und auch durch diejenigen, die nicht geschehen.« Dorkas setzte sich auf die durchgelegene Matratze seines Herbergszimmers. Er strich sich über den Kopf und schaute eine Weile dumpf vor sich hin auf den Boden.

»Die Satanisten sind nur ein Nebenkriegsschauplatz. Wir brauchten das Buch. Aber Brantly ist so unglaublich weit. Ich hatte vorher eine hohe Meinung von ihm, aber jetzt weiß ich, dass ich ihn weit unterschätzt habe.«

»Macht er weiter?«

»Natürlich macht er weiter! Was sonst? Ein Innis Patrian Brantly lässt sich doch durch zwei Fuzzis wie uns nicht entmutigen.«

»Aber er hat sein Buch verloren. Und das Ritual ist auch zerstört worden.«

»Das Buch – wahrscheinlich war es für ihn Kinderkram, wer weiß. Und sein Ritual ist gestört worden, aber nicht zerstört.«

»Das heißt, diese Sache mit der Gabe – sie könnte wirklich stattgefunden haben?«

»Möglich. Und da ich immer vom schlimmsten Fall ausgehe, sage ich sogar wahrscheinlich. Oder wären Sie wegen einer Putzfrau von dieser Blondine runtergestiegen?«

 

Nach drei Tagen in Lourdes telefonierte Dorkas mit Tony Tanner und kam wachsbleich zu Little zurück.

»Wir müssen schnellstens nach London. Unser junger Freund hat Probleme. Er behauptete, ich hätte ihn vor einigen Tagen mitten in der Nacht mit einem obskuren Auftrag angerufen. Aber dieses war das erste Telefonat, das ich seit Wochen mit Herrn Tanner führe.«

Dorkas bestand darauf, auf die, wie er sich ausdrückte, gesunde, alte Art nach England zurückzukehren. Das bedeutete eine Überfahrt bei Sturm, mit der letzten Fähre, die vor Aussetzung des Verkehrs noch auslief. Die Luft in den Aufenthaltsräumen der Fähre war stickig und verbraucht. Trotzdem suchte sich Dorkas einen Platz mit Blick auf eine Wand, baute um sich eine Barrikade aus Koffern und Taschen und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Er beschränkte sich darauf, die Wand anzustarren und auf seiner Unterlippe zu kauen. Als Little, der es trotz des Sturmes vorzog, sich an einem geschützten Platz an Deck aufzuhalten, einmal nach Dorkas schaute, fiel ihm auf, dass der seltsam breitbeinig und erhöht auf seinem Sitz thronte. Little musste ein Heftchen mit Fahrplänen fallen lassen und es umständlich gebückt aufheben, um hinter das Geheimnis zu kommen. Dorkas hatte sich auf einen Rettungsring gesetzt.

 

Hinter den grauen Regenstreifen tauchten die Klippen von Dover auf. Das Schiff passierte die Hafeneinfahrt und erreichte ruhigeres Wasser. Das heftige Stampfen und Rollen ging in die langsame Fahrt zum Liegeplatz über. Die Autos fuhren schon eins nach dem anderen über die Rampe und die Passagiere drängten sich an den Ausgängen, als Little nach Dorkas schaute.

Der saß immer noch an derselben Stelle und stierte unverwandt gegen das weiß gekleidete Schott, auf dem ein Plakat einer Eisenbahngesellschaft klebte.

»Wir sind da«, sagte Little. Dorkas schaute ihn verständnislos an und machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Erst als Little den dezenten Hinweis vorbrachte, dass zu langes Sitzenbleiben dazu führen könnte, wieder zurück nach Frankreich zu müssen, stand Dorkas stöhnend auf. Der Rettungsring hatte deutliche Spuren auf seinen Schenkeln hinterlassen.

 

Im Eisenbahnabteil saßen sie zuerst mit einem Ehepaar zusammen, das sich verbissen und geduldig über Familienangelegenheiten unterhielt. Er machte ihre Verwandtschaft herunter, und sie konterte mit Angriffen auf seinen Bruder.

Obwohl Little sich auf die verregnete Landschaft vor dem Fenster konzentrierte, überkam ihn doch eine Ahnung von engen Zimmern und noch engeren Leben in schmalen Reihenhäusern. Es wirkte auf ihn wie ein erstickendes Gas. Er musste aufstehen und lief durch den gesamten Zug, nur um diesen Mief aus dem Kopf zu kriegen. Als er sich nach einer Haltestelle dem Abteil wieder näherte, fand er Dorkas alleine vor. Abgesehen von dem Rettungsring hatte der seine Haltung wenig geändert. Auch seine Gesichtsfarbe hatte noch das ungesunde Grün, das auf die Wellenhöhe im Ärmelkanal schließen ließ.

»Was haben wir eigentlich erreicht?«, fragte Dorkas unvermittelt nach einem langen Schweigen.

»Wir haben ein Internat voller knackiger Mädels gefunden.« Seinen Versuch, witzig zu wirken, fand Little selbst erschreckend lahm. Dorkas tat ihm den Gefallen und ging nicht auf den misslungenen Aufmunterungsversuch ein.

»Wir haben etwas über dieses Internat herausgefunden«, sagte er dann, mehr zu selbst.

»Viel hilft das nicht. Unsere Informationen sind schwammig, und im Grunde wussten wir schon vorher, dass die Vergewaltigung, die man Tony Tanner anhängen wollte, ein Trick war.«

»Er wird nicht der Einzige sein, dem man eine Weibergeschichte anhängt, um ihm Probleme zu bereiten.«

»Sicherlich nicht. Aber wenn Sie bei jedem Menschenmännchen, das sich wegen seines überbordenden Sexualtriebes in der Öffentlichkeit unmöglich macht, nachforschen wollen, ob die Dame von der nächsten Ecke oder aus einem Internat in der Schweiz stammt – dann brauchen Sie das Unsterblichkeitsserum.«

»Immerhin haben wir den Grand Albert

»Und was nutzt uns der? Bringt der uns weiter?«

Dorkas warf Little einen finsteren Blick zu und klopfte auf die Tasche, die er vor der Brust hielt und in der sich der Grand Albert befand.

»Vor einer Woche waren Sie noch der Meinung, dieses Buch hätte eine große Bedeutung«, antwortete Little betroffen.

»Sicher, das war ich. Ich hielt es für wichtig, weil es uns einen Gegner vom Leibe halten konnte … aber bei Gelegenheit sollte man das Buch einmal genauer ansehen.«

»Das gilt doch immer noch?«

»Das gilt immer noch. Diese Dame wird uns bald nicht mehr belästigen. Aber es kann sein, dass wir nur unsere Zeit verschwenden. Wir stopfen ein Loch und zwei andere öffnen sich.«

»Sie meinen Brantly?«

»Wen sollte ich sonst meinen?«, giftete Dorkas. »Es ist einfach zu viel. Wir nähern uns rapide dem Ende des Jahrtausends und nun kommen sie alle aus ihren Löchern. Als würde irgendwo das Wasser steigen, sind sie plötzlich da. Wie eine Rattenplage.«

»Vielleicht ist Brantly ja jetzt erledigt. Nach dem Flop, den er seinen Anhängern präsentiert hat.«

»Hören Sie mir eigentlich nie zu, Herr Little? Ich hatte es deutlich genug gesagt. Es gibt keinerlei Garantie dafür, dass das Ritual ein Fehlschlag war. Meine Güte noch mal, wir reden doch nicht von einem Treffen der EU-Regierungschefs, wo man von vornherein weiß, dass die Kompromisse stinken wie uralter Fisch. Brantly ist nicht irgendeiner. Wir haben ihm den Grand Albert geklaut. Mehr nicht. Vielleicht brauchte er die Schwarte überhaupt nicht.

Vielleicht waren wir sogar Teil seines Rituals. Wissen Sie es? Ich bin mir jedenfalls nicht sicher.«

»Vielleicht sollten Sie diesem Satanisten nicht so eine große Bedeutung beimessen.«

Dorkas antwortet nicht und brütete nur dumpf vor sich hin.

»Der Name Jane Mansfield sagt Ihnen etwas«, unterbrach Dorkas schließlich sein eigenes Schweigen.

»Jane Mansfield? Sicher, eine Filmschauspielerin, die nur Schrottfilme gedrehte hat vor allem durch ihren Busen auffiel, richtig?«

»Tatsächlich«, Dorkas staunte Little an. »Das mit dem Busen wusste ich nicht.« Doch, doch, angeblich 100 Zentimeter Brustumfang. Aber wieso wissen Sie das nicht? Sie haben den Namen doch ins Gespräch gebracht?«

»Ich habe den Namen sicherlich nicht ins Gespräch gebracht, um mich mit Ihnen über den Umfang der sekundären Geschlechtsmerkmale dieser Dame auszutauschen«, erklärte Dorkas und gewann etwas von seiner üblichen Würde zurück. »Wissen Sie etwas über den Tod der Mansfield?«

Little schüttelte nur den Kopf.

»Sie verunglückte«, erklärte Dorkas. »Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, war das etwa Mitte 1967. Worum es geht. Diese eher unglückliche Person Jane Mansfield war drei Mal verheiratet und diente sich im Übrigen mit ihren nicht unbeträchtlichen Reizen bei einer ganzen Reihe von Männern an, die vor allem berühmt sein mussten. Schließlich … Sie dürfen jetzt wieder aufwachen, ich komme zum Wesentlichen … geriet sie an einen Herrn namens Anton La Vey. Der, ein Glatzkopf im Übrigen, war Chef der Ersten Kirche des Satans, Sitz in San Francisco, wo sonst. Angeblich hatte diese Vereinigung zu dieser Zeit so um die 25. 000 Mitglieder. Die Mansfield machte lustig mit, als Priesterin bei den Kulthandlungen dieses selbst ernannten Papstes der Satanisten. La Vey war voll des Lobes über ihre Fähigkeiten auf dem Gebiet der Fortpflanzungsgymnastik. Er zelebrierte auf ihrem nackten Körper als Altar und hinterher – na ja, das überlasse ich der pubertären Fantasie, falls nötig. Nun gut, irgendwann 1967 war es für die Mansfield mal wieder an der Zeit, den Mann zu wechseln.

Sie lief zu einem Rechtsanwalt über. Ich frage mich, ob so ein Rechtsanwalt gegenüber einem Satanisten wirklich eine Verbesserung oder nicht doch noch eine Steigerung des Perversen darstellt.

Sei’s drum. La Vey verfluchte jedenfalls, in einer Fernsehsendung wohlgemerkt, seine abtrünnige Priesterin Jane Mansfield und sagte, sie würde kraft seiner satanischen Zauberei den Kopf verlieren. Ich glaube, es waren gerade mal zehn Tage, dann verunglückte die Frau.«

»Hat sie den Kopf verloren? Ich meine … bei dem Unfall?«

»Da gibt es zwei Versionen. Version eins: Sie hat. Natürlich wurde diese Version als die angenehm gruselige in diversen Berichten wiederholt. Version zwei: Sie hat nicht. Bei dem Unfall wurde ihr die blonde Perücke vom Kopf gerissen, das führte zu der Verwechslung.«

»Und welche Version halten Sie für die wahrscheinlichere?«

»Die zweite«, antwortete Dorkas mit Nachdruck. »Und warum ich an die zweite Version glaube? Weil sie die, sagen wir – Teuflischere – ist. Sie hat so einen gewissen satanisch boshaften Humor, obwohl dieses Wort natürlich unangebracht ist. Aber Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich verstehe. Und was Brantly angeht – Sie halten ihn für eine größere Nummer als diesen La Vey?«

»Ich halte ihn für die größte Nummer überhaupt. Obwohl ich es nicht mag, darüber zu reden, als wären wir zwei Mafiosi, die über die Herren des Drogenmarktes sprechen. Was mich beunruhigt sind zwei Dinge. Einmal die Tatsache, dass Brantly zu solchen Fähigkeiten vorgedrungen ist. Es ist etwa so, als hätten die Belagerer von Troja von einem Tag auf den anderen Raketenwerfer zur Verfügung. Ich meine, verglichen zu all den Scharlatanen, die sich irgendwas ausdenken, nur um die gelangweilte Schickeria auf dem Esoteriktrip angemessen zu unterhalten und hier und da Zugang zum Geschlechtsbereich der einen oder anderen Dame zu bekommen. Die andere Sache, dass er überhaupt so weit kommen konnte. Wie soll ich das erklären? Dass sozusagen das Klima so war, die intellektuelle Atmosphäre …« Dorkas gestikulierte hilflos und erhaschte den verständnislosen Blick Littles.

 

»Sagen wir es mal so«, setzte Dorkas neu an. »Ich vermute einfach, dass nicht zu allen Zeiten alles möglich ist. Es ist wie bei vielen technischen Erfindungen. Das Prinzip ist schon lange bekannt. Aber zu einem gewissen Zeitpunkt kommt alles zusammen – die Fortschritte in der Metalltechnik, die Möglichkeit Ventile zu bauen, neue Stromquellen … ach, was weiß ich. Jedenfalls ist irgendwann die Erfindung gemacht und beeinflusst die weitere Entwicklung. Die Vision Leonardos über Fluggeräte war genial und kindisch, jedenfalls nicht durchführbar. Was die Gebrüder Wright dagegen machten, war nichts anderes als die Kenntnisse ihrer Zeit zusammenzuklauben und für einen Zweck einzusetzen, den andere für überflüssig oder kindisch oder unmöglich erklärten, weil es ja schon bei Leonardo nicht funktioniert hatte. Sie verstehen, was ich meine? Schauen Sie sich doch nur um. Die Psychologie, die gesamten Forschungen auf dem Gebiet der menschlichen Psyche, die Erkenntnisse der Archäologen, die Möglichkeit, innerhalb von vierundzwanzig Stunden an Orte und zu Menschen zu kommen, von deren Existenz selbst der Gebildete noch vor 50 Jahren nichts wusste, die neuen Drogen, die Auflösung sozialer Strukturen, die die Menschen zwingt, sich neu zu orientieren, der schwindende Einfluss der christlichen Kirchen …«

»Brantly ist also so eine Art Wilbur Wright auf dem Gebiet des Satanismus?«

»Genau so sehe ich es. Er macht das, was möglich ist, weil er erkannt hat, was möglich ist. Er ist ein Mosaikstein und doch hilft uns das alles nicht weiter. Ich kann nur hoffen, dass Herr Tanner etwas erfolgreicher in seinen Nachforschungen war.

»Ich habe noch eine Frage«, sagte Little. Ihn beschäftigte, seit er sie gesehen hatte, die Wunde auf Brantlys Kopf.

Dorkas war verwundert: »Ich konnte aus meiner Perspektive nichts erkennen. Er ist ja größer als ich. Eine Wunde sagen Sie?«

»Eine richtiggehende Öffnung. Mandelförmig. Wenn ich jetzt recht darüber nachdenke, dann erinnerte sie sowohl in der Form wie auch in den Ausmaßen an ein Auge.«

»Und der Schädelknochen war völlig geöffnet?«

»Völlig. Ich konnte die Gehirnhaut sehen. Und es trat Blut aus. Zuletzt sogar eine ziemliche Menge.«

 

Statt einer Antwort senkte Dorkas den Kopf und trommelte auf die Tasche, die er wie eine Schildwehr vor dem Bauch hielt. Nach einer Weile kam sich Little vor, als habe er einer netten Tante ein unflätiges Wort gesagt und diese trauere nun über den Trümmern ihres Weltbildes. Schließlich hob Dorkas doch den Kopf.

»Bei tibetanischen Mönchen«, sagte er, und es klang, als würde er nur zu sich selbst sprechen, »so heißt es, lässt sich eine schmale Öffnung oder ein Spalt an der Kopfoberseite ertasten.

Traditionell wird an dieser Stelle der siebte Chakra vermutet und man sagt, diese Mönche könnten sozusagen ihr Bewusstsein durch die Öffnung hinausschleudern. Solche Mönche sterben auch nicht, jedenfalls nicht im Sinne der Normalmenschen, sondern sie lassen ihren Geist aus dem Körper stiegen, wenn es Zeit dazu ist. Solche Begabungen sind natürlich nur nach langjähriger intensiver, religiöser Übung möglich. Ja, und was Sie bei Brantly gesehen haben, war wohl die satanistische Variante dieser Öffnung des Kopfchakras. Dieser Mann muss eine ungeheure Macht besitzen. Wenn wir in London sind, muss ich mal in den entsprechenden Werken nachschauen. Das Auge Luzifers … irgend so etwas habe ich noch in der Erinnerung. Aber ich weiß nicht mehr genau, woher ich den Begriff kenne.« Dorkas lehnte sich seufzend zurück. »Es gibt so viel zu tun und so wenig Zeit«, war das Letzte, was von ihm auf der Fahrt zu hören war.

 

Die Wohnung roch nach abgestandener, muffiger Luft, als wollte sie die beiden Männer abwehren. Dorkas und Little standen in einem Stapel von Koffern und Taschen und wurden von einem Gefühl der Fremdheit überwältigt. Für Dorkas war der Geruch einer lange verlassenen Wohnung völlig unbekannt. So lange war er noch nie unterwegs gewesen.

Dorkas hob den Kopf und sog die Luft mit geblähten Nasenflügeln ein. Er wirkte geradezu mitleiderregend hilflos. Die Anstrengungen der Reise lag noch auf ihm wie ein zu schwerer Mantel, so ganz war sein Bewusstsein noch nicht mit dem Körper zusammen zurückgekehrt und nun stand er in Räumen, die sich weigerten, sein Heim zu sein und ihm nur mit ihrem trockenen Muff klar machten, dass er ihre Ruhe störte.

»Tja«, sagte Dorkas nach einer Weile, wie um sich selbst zu überzeugen, »da wären wir dann wohl.«

»Ja, da wären wir.«

Dorkas putzte sich die Nase, überlegte eine Weile und ging dann erst einmal durch jedes Zimmer, als müsste er sein Revier markieren. Als sie schließlich ihre Koffer ausgepackt und Dorkas die erste Kanne Tee zu seiner Zufriedenheit zubereitet hatte, besserte sich die Stimmung. Trotzdem kam kein Gespräch zustande. Sie wechselten einige triviale Sätze, stellten fest, dass keiner rechte Lust auf Unterhaltung hatte und seinen eigenen Gedanken nachhing, und zogen sich früh zum Schlafen zurück.

 

In der Nacht träumte Little von Brantly. Er versuchte, sich vor dem Satanisten zu verstecken, fand aber keine Stelle, in die Brantlys Blicke nicht fallen konnten. Die hohe Gestalt war wie ein schwarzer Leuchtturm, der die Ebenen überragte. Mitten in der Nacht erwachte Little, weil er glaubte, einen Gong oder eine Glocke gehört zu haben. Er lauschte, schlief darüber ein und erwachte erst am frühen Vormittag.

Fortsetzung folgt …