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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.2

Wo die Erde blutet – Teil 2

Am Frühstückstisch bemerkte er einige Male die prüfenden Blicke von Dorkas, aber dieser fragte weder nach, noch hatte Little das Bedürfnis, über die Vision der letzten Nacht zu reden. Aber es war köstlich, die Hand auf den Tisch im Speisesaal zu legen und die Härte des Holzes zu spüren.

Wie üblich brauchte Dorkas lange für sein Frühstück. Und wie üblich hatte er sich einige Zeitungen besorgt, die er sorgfältig studierte und dabei nicht mit Anmerkungen sparte.

Im Laufe dieser Reise hatte Little dieses Verhalten zur Genüge kennengelernt, ohne es jedoch schätzen zu können oder, um der Wahrheit die Ehre zu geben, es fiel ihm ungeheuer auf die Nerven. Ein Gespräch am Frühstückstisch als Sparringsrunde für die geistigen Anstrengungen des Tages war Littles Sache nicht, zumal er sich der Dorkas’schen Süffisanz ziemlich wehrlos gegenübersah.

Dementsprechend froh war Little, als Dorkas das Signal zum Aufbruch gab. Sie fuhren mit einem Mietwagen zum Museé de la Sorcellerie in Concressault.

»Hoffentlich keine Schulklassen oder diese Besuchergruppen, die aus Reisebussen losgelassen werden«, knurrte Dorkas.

Sie hatten in diesem Sinne Glück, denn als sie um die Mittagszeit ankamen, waren keinen anderen Besucher zu sehen. Am Eingang döste ein älterer Herr, dessen rundliche Körperform mit einer ebenfalls dem Vollmond angeglichenen Gesichtsform korrespondierte.

Beides erweckte auf den ersten Blick den Eindruck einer festgegründeten bürgerlichen Wohlanständigkeit und einer persönlichen Wesensart von liebenswerter und sehr erfreulicher Mittelmäßigkeit. Nachdem er eine Weile den Mann betrachtet hatte, der, die Arme vor dem Bauch verschränkt und den Kopf auf mehrere Kinne gestützt, friedlich und sanft atmete, begann Dorkas sich zu räuspern. Erst als er mit schon rauem Hals begann, sich dem Originalton der Trompeten von Jericho anzunähern, stockte der ruhige Atem des Schläfers. Er blubberte und rückte dann mit einer Plötzlichkeit in eine aufrechte Position, die Dorkas zurückschrecken ließ.

»Es tut mir leid, wenn ich Ihren wohlverdienten Schlaf in der Mitte der hellen Tageszeit durch meine Ausströmung von akustischen Signalen zur Störung gebracht haben sollte …«, radebrechte der immer noch erschrockene Dorkas und bekam einen roten Kopf, weil er sich mit seinem Satz in öde Weiten der französischen Grammatik verirrt hatte, aus denen es keine Wiederkehr gab.

»Ich habe mich zu entschuldigen, Messieurs«, antwortete der andere. »Diese Hitze macht mir heute etwas zu schaffen. Sie sind Ausländer?«

Das etwas schamhafte Geständnis seitens Dorkas, dass es sich bei ihnen in der Tat um Angelsachsen aus dem britischen Königreich bzw. aus den USA handelte, wurde mit Aufregung zur Kenntnis genommen.

»Unser Museum ist nicht so bekannt, dass hier oft Besucher aus dem Ausland kommen.«

Anscheinend kommen nicht mal Besucher aus dem Inland, erlaubte sich Dorkas mit einer gewissen Boshaftigkeit zu denken. Laut bemühte er sich aber einen kurzen Abriss der soziologischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts hin zur Massenkultur zu geben, was auf ein Klein, aber fein und Masse ist nicht gleich Klasse hinauslief.

Da der Museumswärter, der das gesamte derzeit vorhandene Personal repräsentierte, sich über die Gelegenheit freute, seine Kenntnisse der englischen Sprache aufzufrischen, wurde das Gespräch für Dorkas und Little wesentlich einfacher.

So erfuhren sie nicht nur einiges über das Leben und den Gesundheitszustand von Monsieur Reinard und seiner Familie, sondern auch über die Art und Weise, wie die Ausstellungsstücke dieses Museums gesammelt wurden. Little hörte mit höflichem Interesse zu. Ihm fiel aber auf, dass Dorkas den Mann mit einer gewissen lauernden Gespanntheit betrachtete, als wäre von ihm eine plötzliche akrobatische Einlage zu erwarten.

 

Als Little und Dorkas schließlich vor einer Versteinerung standen, die aus den nahen Sümpfen geborgen worden war und in der auch eine wenig fähige Fantasie ein monströses Wesen entdecken konnte, fragte Little: »Warum haben Sie sich bei dem Mann nicht nach diesem Grand Albert erkundigt? Die Gelegenheit war so günstig wie vielleicht nie wieder.«

»Alles zu seiner Zeit. Ich stelle ihm die Kardinalfrage noch.«

»Und? Was haben Sie für ein Gefühl?«

Dorkas zuckte die Schultern.

»Also für mich«, sagte Little weiter, »sieht er nicht nach dem typischen Hexenmeister aus.«

»Vielleicht liegt das an Ihrer Vorstellung von solchen Leuten. Aber mal davon abgesehen. Ich will ja keine Hexenmeister.«

»Sie wollen den Grand Albert

»Exakt. Und dafür scheint mir unser neuer Bekannter Monsieur Reinard eine gute Adresse zu sein.«

»Wenn Sie sich da nur nicht täuschen.«

Dorkas umrundete eine andere Versteinerung und betrachtete sie mit schräg gelegtem Kopf und Lippen, die sich leise bewegten.

»Was wäre, wenn dieses Ding nicht einfach eine irgendwie mineralisierte Baumwurzel oder so etwas Ähnliches wäre, sondern das, was es zu sein scheint.«

»Was scheint es denn zu sein? Für mich sieht es so ähnlich aus, wie eine von diesen Figuren bei Fantasy-Rollenspielen.«

»Richtig«, nickte Dorkas. »Orks oder Trolle nennt man wohl diese Wesen. Und wir haben uns daran gewöhnt, diese Geschöpfe als Ausgeburten der abergläubischen Fantasie zu betrachten. Aber was wäre, wenn es sie wirklich gab? Oder sogar noch gibt? Zum Teufel noch mal, wenn irgendwelche fossilen Quastenflosser vor Madagaskar gefangen werden, die man für ausgestorben seit Millionen Jahren hielt, warum soll nicht auch irgendwo im Wald noch eine Bande Orks leben?«

»Sie werfen gerade zweihundert Jahre Aufklärung über Bord, Dorkas.«

»Da gibt es nicht mal viel zu werfen, fürchte ich. Ich meine, denken Sie an die Kantische Urteilstafel, wenn Sie in einem dunklen Keller stehen? Oder ist es nicht eher so, dass sich ganz automatisch Bilder gestalten, die den Idealporträts solcher Trolle ähneln? Woher kommen überhaupt unsere Möglichkeiten, in solchen Klumpen Materie die Formen von Zwergen, Orks oder Trollen zu entdecken? Woher hat das menschliche Bewusstsein die passenden Schablonen?«

»Keine Ahnung. Aber ich bin optimistisch, dass in Harvard einer lebt, der es Ihnen erklären kann.«

 

Statt einer Antwort schnaubte Dorkas nur verächtlich und verzog sich beleidigt in Richtung auf die vollständig aufgebaute Hexenküche. Little bedauerte seine schnippische Replik auf das Dorkas’sche Plädoyer für die Erweiterung des Ökosystems in Hinsicht auf zweibeinige Monster. Es war nicht so, dass er Dorkas allzu ernst nahm. Aber nun stand er alleine vor einer Vitrine und Dorkas beugte sich mit einer derartig verbissenen Hingabe über eine Sammlung getrockneter Pflanzen, dass man das Ansprechen verboten-Schild förmlich sehen konnte.

In der letzten Zeit hatte Dorkas überhaupt ein wenig zu viel von seiner üblichen humorvollen Gelassenheit verloren. Er zeigte Anzeichen von Nervosität, erinnerte dabei an einen sorgenvollen Kapitän, der auf der Brücke seines Schiffes das unheilvolle Sinken des Barometers beobachtet. Wahrscheinlich, so vermutete Little, war er selbst nicht völlig unschuldig an der Gespanntheit des anderen.

Während er diesen Gedanken hatte, erklang das erste Raunen und Wispern wie aus unendlicher Ferne und Little spürte, wie sich ungewollt seine Muskeln zusammenzogen, bis er stocksteif, völlig verkrampft, dastand. Alles, was er um sich hatte, jeder Gegenstand, jedes Buch, jedes Dokument, jedes Bild, jede Kuriosität begann auf ihn einzureden. Er hörte das Echo, vernahm die Stimmen und war wenig mehr als ein Radioempfänger, der Wellen weitergibt und Sendungen hörbar macht. In seine Nase stieg der scharfe Geruch von widerwillig brennendem, feuchtem Holz, seine Kehle brannte von dem schweren, weißlichen Rauch; Jammern erklang, die Stimme eines Priesters, der Litaneien hersagte, wütende Schreie aus einer unsichtbaren Zuschauerschaft.

Dann drängte sich eine Frauenstimme an sein Ohr, ganz nahe, sodass Little manchmal die Berührung der Lippen zu verspüren meinte. Leise flüsterte sie in einer ihm unverständlichen Sprache, harmonisch, sanft und zugleich energisch. Die Worte glitten durch Littles Bewusstsein, rieselten an ihm vorbei wie klares Wasser, aber dann veränderte sich der Klang, das R ragte rau und kantig wie Wolfsknurren aus dem Geplätscher der Stimme heraus, die Vokale wurden in die Länge gezogen, die O und U stolzierten förmlich im Festtagskleid, die Stimme wurde lauter und schneller, die Stimme wurde härter und verlor alle mädchenhafte Sanftheit, dann seigerte sie sich immer mehr und geriet in Raserei und dann schrie sie hasserfüllt und atemlos die letzten Formeln und brach endlich mit einem höhnischen Schrei ab.

Auf Littles Gesicht spiegelte sich für einen Moment ein Entsetzen, das vor vielen Jahrhunderten ein Mann empfunden haben musste, als seine sanfte Liebste, dieses duftende Geschöpf mit dem warmen weichen Leib ihn bezauberte, ja bezauberte, aber nicht mit dem Reiz ihrer Nacktheit, sondern mit ihrer bösen Hexerei. Und seine Glieder wurden wie weiches Wachs, aber nicht mehr aus Liebe oder Begierde, sondern durch Furcht und Zauberei.

Schattenhaft musste Little die Szene miterleben. Er wollte sich abwenden, aber wohin er auch schaute, war diese Szene schon, dieser Raum mit dem breiten Bett unter einem kunstvollen Baldachin. Zerwühlte Laken, darauf ein unbekleideter Mann, der sich vergeblich mühte, den Oberkörper auf die Arme zu stützen. Im Vordergrund der Rücken einer Frau, ja, das musste die Schöne sein, deren Stimme er gehört hatte. Sie wich mit geschmeidigen Bewegungen vom Lager zurück, als würde sie tanzen, den perfekten Rücken, über den ihr honigblondes Haar floss, etwas gebeugt, die schlanken Arme erhoben.

 

Aus dem Dunkeln zweier Nischen schälten sich zwei andere Gestalten. Der Mann auf dem Bett keuchte angstvoll und versuchte zu schreien, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst wie seine Gliedmaßen, und so kam nur ein lachhaftes Gewinsel aus seinem Mund. Die beiden Gestalten näherten sich. Zwei Frauen, beide ohne einen Fetzen Kleidung auf dem Leib. Die eine trug ihr Haar sorgfältig zu einem Zopf gebunden und um den Kopf geschlungen.

Graue Strähne zogen sich durch das Nussbraun ihres Haares, ihre Brüste waren schwer und hatten nicht mehr die Straffheit der Jugendjahre, ihre Hüften schienen zu füllig, ihre Schenkel zu prall, und ihr Bauch zeigte die Wölbung des Leibes, der schon neues Leben getragen hat.

Sie hatte nicht mehr den Liebreiz eines Mädchens und besaß dennoch die unbestreitbare Anziehungskraft und Schönheit der Reife, als sie stolz, mit erhobenem Nacken, zu dem Lager trat. Dann hörte Little schlurfende Geräusche, und die dritte Gestalt wurde sichtbar. Der Anblick der nackten Greisin erregte Abscheu in ihm. Dünnes, schmutzig-weißes Haar hing von ihrem halb kahlen, schorfigen Schädel über den Rücken hinunter. Die Haut war fahl, die Glieder dürr und knotig wie Winterzweige, die Brüste hingen wie ausgeleierte Ledersäcke bis zum Nabel. Schlurfend und zitternd durchquerte sie den Raum. Nun standen die drei Frauen an den drei freien Seiten des Bettes. Die Jüngste, die am Ende stand, beugte sich über das Fußbrett und riss die Decke fort, die die Blöße des Mannes bisher noch bedeckt hatte. Der Mann lag auf dem Rücken, aus seinem aufgerissenen Mund drang Wimmern. Seine Augen quollen ihm aus dem Schädel, seine Adern schwollen an, aber er war gelähmt und ein leichtes Hin- und Her des Kopfes war alles, was seine männliche Kraft erreichen konnte.

Das Mädchen am Fußende lächelte ihn an, aber ihre Augen zeigten keine Regung des Mitleids. Eben noch hatte sie sich diesem Mann hingegeben und er hatte in ihren Armen gelegen, aber nun zählte das nicht mehr als ein Kinderspiel. Die Alte streckte ihre knochigen Finger aus und betastete die Brust des Mannes. Auf ihrem verfallenen Gesicht, dessen linkes Auge durch ein herabhängendes Lid völlig verdeckt war, schien ein Hauch von Befriedigung auf. Sie ließ sich Zeit, ließ ihre kalten Finger durch die schwarzen Locken seines Brusthaares gleiten, prüfte die Muskeln und Sehnen seiner festen Muskulatur und legte dann die Hand auf die Haut, unter der ein angstvolles Herz mit verzweifelter Kraft zuckte. Die Greisin nickte und hob langsam die rechte Hand. Das Mädchen huschte zu einer Truhe und hob einige zusammengefaltete Tuchbahnen zur Seite. Ihre Bewegungen hatten die Eleganz einer Tänzerin und die vollkommene natürliche Unschuld eines springenden Rehes.

Sie war wunderschön, und dieses Bild des Mädchens, das sich über die Truhe beugte, während ihr langes Haar vom Rücken herabglitt und ihre Arme verbarg, erweckte in Little eine plötzliche Wehmut, als hätte er einen Blick in ein verlorenes Paradies erhaschen dürfen.

Das Mädchen richtete sich auf. In ihren Händen war eine flache Schale. Sie brachte die Schale zu der Frau mit dem nussbraunen Haar, griff, als diese die Schale fest in den Händen hielt, hinein und brachte einen Dolch zum Vorschein. Die Klinge schimmerte, als der matte Kerzenschein darauf fiel. Das Mädchen legte den Dolch in die wartend geöffnete Hand der Greisin und nahm wieder ihren Platz ein. Langsam fuhr die Messerspitze über die Haut des Mannes. Zwischen den Fingern der linken Hand, die noch immer über dem Herzen lag, kam sie zum Halt. Die Alte drehte den Griff leicht. Nun stand die Klinge parallel zum Verlauf der Rippen. Ein dünner Blutfaden lief zwischen den verschwitzen Haaren des Mannes heraus und suchte sich einen Weg abwärts, floss den Bauch entlang, sammelte sich im Nabel und machte ihn zu einem roten Schmuckstein auf dem bebenden Bauch.

Die Greisin fasste den Dolchgriff mit der Rechten. Die Linke hob sich, ballte sich zur Faust, berührte probeweise den Griff und wurde nach oben geführt. Die beiden anderen Frauen begannen mit klaren, reinen Stimmen ein Lied anzustimmen. Das Lied klang nach Sommer, reifen Feldern und prächtigen Vögeln. Einige Herzschläge lang schwebte die Hand in der Luft, zitterte und bebte, dann spannten sich die Sehnen unter der faltigen Haut des Armes und die Hand wurde nach unten geschmettert, knallte auf den Dolchgriff … knallte … knallte … knallte.

 

»Monsieur, warum ohrfeigen Sie diesen Herrn«, rief Monsieur Reinard verwirrt und griff nach Dorkas’ Hand. Aber Dorkas, der aufmerksam Littles Blick beobachtet hatte, senkte die schon erhobene Hand und ließ seine Hand von Littles Schulter gleiten.

»Nichts, nichts«, versicherte er leichthin. »Mein Begleiter hat zuweilen gewisse Absencen, die ihm Probleme bereiten. Diese Methode ist die einfachste, um ihn wieder in die Fänge der Realität zu holen.«

Gemeinsam mit Reinard schleifte Dorkas den noch immer halb betäubten Little vor die Tür des Museums. Reinard organisierte einen Stuhl und sie platzierten Little neben den Eingang in die Sonne.

»Soll ich wirklich keinen Arzt holen, Monsieur?«

»Bitte keine Umstände. Mein Begleiter ist ein sehr sensibler Mensch. Die Exponate Ihres Museums werden seine kreative Vorstellungskraft über Gebühr angeregt haben.« Nun senkte Dorkas die Stimme und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Künstler. Sie verstehen?«

Das Ankommen eines Kleinbusses, aus dem eine Gruppe schwarz gekleideter Jugendlicher stieg, lenkte die Aufmerksamkeit des Monsieurs Reinard ab, was Dorkas durchaus zupasskam. Trotzdem betrachtete er die trotz der Wärme vollständig bekleideten neuen Besucher mit einer gewissen Skepsis. Die Mädchen hatten blutrot geschminkte Lippen, lange dunkelrote Fingernägel und schwarz umrandete Augen. Und auch bei den Jungen glaubte Dorkas, Spuren von schwarzer Schminke um die Augen zu erkennen. Ein schwerer Hauch von Patschuli lag über der Gruppe.

»Hübsch, nicht wahr«, knurrte Dorkas in Richtung von Little. »Wie aus einem Dostojewski-Roman plus ein bisschen Bela-Lugosi-Vampirfilm.«

»Was sind das für Leute?« Littles Stimme klang schwach.

»Offensichtlich eine Art von Nachwuchshexen.«

»Ernst zu nehmen?«

»Was ist heutzutage noch Ernst zu nehmen? Nein, meiner Ansicht nach sind das Kandidaten für die Klapsmühle.«

»Aha.«

»Da wir gerade bei Klapsmühle sind, Herr Little … Was haben Sie eben gesehen? War es wieder diese Dame?«

»Nein, es waren … Echos.«

»Muss ich das jetzt verstehen?«

»Bei Ihrer Intelligenz sollten Sie. Sie wissen, worüber ich rede.«

»Natürlich, ich weiß. Nennen wir es metaphysische Impulse, die von Gegenständen ausgehen. Aber was genau war es?«

Little beugte sich nach vorne und rieb sich die Stirne. »Eine Hexenverbrennung«, sagte er dann zögernd.

»Kein Wunder«, stimmte Dorkas trocken zu, »es gibt ja genügend Zeichnungen dieser Hinrichtungen im Museum. Aber das kann nicht alles gewesen sein.«

»Ich kann mich nicht genau erinnern …« Little hatte plötzlich das Bedürfnis, diese Szene für sich zu behalten. Es schien, als sei er der intime zugelassene Zeuge und würde diese Vertrautheit zerstören, wenn er sie einem Inquisitor wie Dorkas offenbarte. Der Impuls war so stark, dass Little den Kopf hob und Dorkas mit verkniffenem Mund anschaute. Der staunte und schaute mit besorgtem Gesicht zurück.

»Weibergeschichten!«, zischelte Dorkas dann.

»Wie kommen Sie darauf.«

»Weil Ihr Gesicht zwischenzeitlich eine derartige – Verzeihung für den Ausdruck – Geilheit hatte, dass es sich nur um eine Weibergeschichte gehandelt haben kann.«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Sie lügen vielleicht?«

»Ich kann mich wirklich nicht erinnern.« Wie schön sie war, wie sanft, wie biegsam die Glieder, wie glatt die Schenkel, wie köstlich der Bauch, wie vollkommen die Brüste, wie weich die Haut, wie duftig ihr Haar, wie kindlich ihr Lächeln. Er durfte sie nicht an diesen fetten Mann verraten.

»Los, raus damit.« Dorkas hatte in Ton und Lautstärke einen Drill Sergeant imitiert und Littles Verstocktheit eingetreten wie eine Bretterwand.

»Unglaublich«, murmelte er, als Little seine Erzählung beendet hatte. »Einfach unglaublich.«

»Was waren es für Frauen?«

»Welche Individuen es waren? Wir würden es sogar herausfinden, wenn wir uns Mühe gäben. Es gibt Gerichtsakten, die Einrichtung des Raumes gibt Hinweise auf die Periode et cetera. Aber für solche Spielereien bleibt keine Zeit. Und als Typen? Sagen wir als psychologische Archetypen? Ist doch offensichtlich – das Mädchen, die Frau, die Greisin. Die drei Aspekte der Großen Göttin. Geburt. Leben und Tod. Kommen, Bleiben, Gehen.«

Erregt lief Dorkas hin- und her. »Wenn wir es auf den Punkt bringen – eigentlich ist in allen entsprechenden Mythen das Mädchen auch zugleich die Jungfrau. Aber das ist kein Widerspruch, weil allem Anschein nach die junge Dame ja Jungfer war, als diese Veranstaltung begann. Ich meine, als sie mit dem Mann zusammentraf.«

Little nickte. Er wühlte in seiner Erinnerung und bestätigte dann, dass es Anzeichen dafür gab, dass ein geschlechtliches Zusammensein stattgefunden hatte. Die Formulierung klang so bürokratisch und blöde, dass sie für Little geradezu therapeutische Wirkung entfaltete.

Unvermittelt blieb Dorkas vor Little stehen und legte den Finger auf die Nase. »Wenn wir«, dozierte Dorkas, »davon ausgehen, dass die junge Dame den Schatz ihrer Jungfernschaft nicht ohne Sinn und Zweck aufgab und dass dieses finale Ritual auch ohne vorherigen Geschlechtsakt durchgeführt werden könnte – sie braucht den Herrn ja nicht richtig ranzulassen, bevor sie ihn auf irgendeine Weise lähmt, stimmt’s? – dann haben wir es hier wohl mit einer ganz geplanten Zeugung von Nachkommenschaft zu tun. Das Mädel hat sich schwängern lassen und dann musste der Erzeuger sein Leben lassen, um dem entstehenden Leben Kraft zu vermitteln.«

»Hat das für uns jetzt irgendeine Bedeutung?«, fragte Little matt.

»Kommt drauf an. Es zeigt uns, dass wir nicht mit jedem, wie sagt man, Schnucki zwischen die Laken schlüpfen sollten. Na ja, was mich angeht, schätze ich den praktischen Wert dieser Einsicht eher gering ein. Also, um ehrlich zu sein, es ist im Moment nicht als ein hübsches Gedankenspiel. Wissenschaftliches Muskeltraining. Man könnte sich natürlich zusätzlich überlegen, woher diese Frauen kamen. Ich meine, welche Tradition sie verkörpern. So was lutschen sich ja nicht mal die Weiber so mir nichts dir aus dem hübschen Däumchen. Nein, da gibt es eine Tradition. Könnte bis in die Steinzeit zurückreichen. Vielleicht ein Aufstand der Anhängerinnen der großen Göttin gegen die Priester des männlichen Himmelsgottes. Meine Güte, man müsste mehr Zeit haben, das wäre doch mal ein Thema, an dem ich mich festbeißen könnte.«

Dorkas kratzte sich am Kopf und blickte in eine Ferne, in der er wohl seinen wissenschaftlichen Ruhm und seine geistigen Erkenntnisse schwinden sah. »Wo war ich? Ja, und es natürlich die ebenso interessante Frage, was aus dem Kind geworden ist. Hat diese Ex-Jungfer wirklich empfangen? Es gibt Frauen, die behaupten, sie könnten den Moment des Eisprungs spüren. Mithin wären die also sehr wohl in der Lage mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eine Zeugung herbeizuführen, falls der Kerl nicht versagt. Ich nehme einmal an, so was wird vorher abgecheckt. Also, sie wird schwanger, bekommt das Kind. Ich nehme mal an, es ist ein Mädchen. Was wird aus ihr? Tochter einer Hexe, Enkel einer Hexe – aber welche Fähigkeiten hat sie, was kann sie, was will sie? Ich könnte schreien, wenn ich daran denke, wie viele Dinge man wissen müsste und nicht herausfinden wird.«

»Es wäre doch naheliegend, dass dieses Kind einmal in den Akten der Hexenprozesse Furore gemacht hat und dann verbrannt wurde.«

Dorkas beugte sich zu Little herunter. »Sie denken zu einfach und zu gradlinig«, sagte er. »Vielleicht sollten wir zwischen Hexen und Hexen unterscheiden. Zwischen den simplen Kräuterweiblein oder den unbefriedigten Hausfrauen der damaligen Zeit, die im Hexentum einen Ausweg aus ihrer Misere zu finden glaubten – schließlich gab es damals noch keine Fernseh-Talkshows und keine Volkshochschule-Kurse für kreatives Schreiben, um sich abzureagieren – und den richtigen Hexen. Denen, die sich nicht fangen ließen. Denen, die nie verbrannt wurden, sondern die vielleicht selbst verbrannten. Die im Hintergrund agierten.«

»Sind Sie schon wieder bei Ihrem Hobby? Die Herrscher im Hintergrund?«

»Bin ich«, bestätigte Dorkas, deutlich pikiert. »Haben Sie sich mal gefragt, wie die Weltgeschichte gelaufen wäre, wenn nicht irgendwelche hübschen Lippen den vermeintlichen Herren der Schöpfung ständig irgendetwas eingeflüstert hätten? Anstacheln, provozieren, ihn in die gewollte Richtung lenken – Männer sind im Grunde doch ziemlich blöde, ich sag’s ja nicht gerne, aber die Tatsachen sprechen dafür.«

»Sie haben gerade die Weltverschwörung der Freimaurerinnen erfunden.«

»Es ist ein Laster der heutigen Zeit, Spottlust mit Einsicht zu verwechseln. Dumm grienen über Dinge, die man nicht versteht, ist nur Schuljungen-Niveau, auch wenn es heute zu den herausragenden Eigenheiten der Medienfritzen gehört. Was soll’s? Es war ja auch nur ein Nebengedanke.«

»Ich fürchtete schon, Sie hätten den Hauptgedanken vergessen.«

»Bisher hat mich nichts, was mit der holden Weiblichkeit zu tun hat, von meinen Gedanken ablenken können. Der Grand Albert steht immer noch auf der Liste.«

»Und Sie sind immer noch der Meinung, dieser Monsieur Reinard könnte uns helfen, Dorkas?«

»Ja, das bin ich!«

»Auf mich wirkt er nicht wie jemand, der sich auf dem Gebiet der Hexerei herumtreibt.«

»Haben Sie seine Finger gesehen, Herr Little?«

»Nein, was ist mit denen?«

»Deutliche Verfärbungen an den Fingerspitzen.«

»Er raucht dieses Kraut, das hier zur Folklore gehört. Wie heißt es? Gauloises.«

»Unfug. Haben Sie in der letzten Zeit gesehen, dass sich unser neuer Bekannter eine Zigarette angezündet hätte?«

»Nein.«

»Na, also!«

»Das sagt nichts«, beharrte Little. »Vielleicht raucht er nicht so viel am Tag.«

»Wer dieses Franzosenkraut raucht, ist hochgradig nikotinsüchtig. Außerdem: Haben Sie irgendwas an Monsieur Reinard bemerkt, was wie Zigarettenqualm gerochen hätte? Haben Sie? – Natürlich nicht. Nicht nur denken, mein werter Herr Little, wahre Klugheit nutzt auch die Sinne. Monsieur Reinard ist Nichtraucher.«

»Nachdem Sie mir dieses schlüssig bewiesen haben, werden Sie mir sicherlich auch eine einleuchtende Erklärung für die Verfärbungen an Reinards Fingern liefern können.«

»Nun, ich habe zumindest eine Vermutung.«

»Kein Tabak, also was ist es?«

»Schwefel zum Beispiel. Oder Metalle.«

Little blickte sich Hilfe suchend um. »Das ist mir wieder zu hoch.«

»Wenn ich mich nicht getäuscht habe, dann können diese Verfärbungen nur eines bedeuten. Monsieur Reinard ist ein Adept der schwierigen Kunst der Alchimie.«

»Bringt uns das irgendwie weiter?«

»In gewisser Hinsicht schon. Sehen Sie, die Alchimie ist ein uralter Weg zum Verständnis der Natur. Ich führe das nicht weiter aus, sonst würde es zu lange dauern …«

»Danke.«

»Sie sind wenig hilfreich, Herr Little. Um es ganz kurz zu machen – ich halte die Alchimie für eine direkte Konkurrenz des Systems, das wir als Hexerei bezeichnen.«

»Dann ist Reinard hier wohl ziemlich fehl am Platze?«

Dorkas setzte ein spitzbübisches Grinsen auf, das sein Gesicht von einem Ohr zum anderen teilte.

»Monsieur Reinard ist keineswegs fehl am Platze«, konstatierte er. »Er ist ganz bewusst hier. Er ist nämlich so eine Art Aufpasser. Verstehen Sie? Er hat die Konkurrenz im Blick.«

»Falls Ihre Voraussetzung nicht doch falsch sein sollte.«

»Falls … Aber das werden wir gleich wissen.«

 

Die Besuchergruppe hatte sich inzwischen von der Kasse entfernt. Reinard schob die Füße von sich und machte es sich auf seinem Stuhl bequem. Er blickte lächelnd auf, als Dorkas angeschlendert kam und mit dem Kopf in Richtung auf die Jugendlichen deutete.

»Seltsames Völkchen«, sagte Dorkas leichthin.«

»Oh, sie sind harmlos, Monsieur. Sie tun niemandem etwas zuleide und freuen sich höchstens, wenn man sie exotisch findet.«

»Sind Sie sicher, Monsieur Reinard, dass diese Leute niemandem Schaden zufügen?«

»Wenn Sie nicht betrunken Auto fahren …«

»Sie wissen, was ich meine?«

»Ich weiß, ich weiß. Diese Hexerei. Nein, ich bleibe dabei, ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Jugendlichen Schaden anrichten könnten. Vielleicht wollen Sie es …«

»Vielleicht schaffen Sie es.«

»Monsieur!« Reinard warf theatralisch die Arme in die Höhe, »Die Concorde fliegt in vier Stunden nach New York. Jeden Tag steht etwas Neues über die Gentechnik in der Zeitung, und da sollen Alraunwurzeln oder andere solche Dinge noch eine Bedeutung haben? Für die Psychiater, die diese Leute behandeln müssen, vielleicht.«

»Nun, nicht jeder ist so optimistisch wie Sie, Monsieur Reinard.«

»Optimistisch?«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich bleibe dabei, nicht jeder denkt wie Sie.«

»Was sollen das schon für Leute sein, die am Aberglauben hängen?«

»Kluge Leute. Reiche Leute. Mächtige Leute.«

»Wirklich so kluge Leute?«

»Klüger als die meisten.«

»Und diese klügeren Leute fürchten sich noch vor der Hexerei?«

»Fürchten ist vielleicht das falsche Wort. Sie beziehen die Hexerei in ihre Überlegungen ein.«

»In welche Überlegungen?«

»Oh, allgemeine Überlegungen«, Dorkas wedelte etwas unbestimmt mit den Händen.

»Jedenfalls Überlegungen, die diese Leute für wichtig halten.«

»Und das, was unser Museum bietet, spielt dabei eine Rolle?«

»Zum Teil, zum Teil spielt eine Rolle, was Ihr Museum nicht bieten kann oder will.«

»Und was wäre das, Monsieur?«

Dorkas bewegte die Lippen, als müsste er zu einem Taubstummen sprechen: »Der Grand Albert

»Der Grand Albert?« Monsieur Reinard verharrte eine Sekunde lang stumm, dann brach er in lautes Lachen aus.

»Das meinen Sie doch nicht ernst«, gluckste er nach einer Weile und rieb sich einige Tränen aus den Augenwinkeln.

»Doch, ich meine es absolut ernst«, bestätigte Dorkas ungerührt.

»Monsieur, der Grand Albert ist ein Märchen, eine Geschichte.«

»Warum hat man sich die Mühe gemacht, ein Märchen zu verbieten?«

»Weil der größte Teil dieses ganzen Hexenpalavers aus Fantasie und Erzählungen besteht!«

»Haben sich Menschen für ihre Fantasien verbrennen lassen?«

»Mag sein, dass es früher tatsächlich so ein Buch gab, wie den Grand Albert. Es ist heute verschollen. Sonst wäre es in diesem Museum.«

»Ihr Museum in allen Ehren. Aber ich habe gehört, dass es immer noch Exemplare des Grand Albert gibt, die im Familienbesitz sind.«

»Ach, ich bitte Sie, das ist doch genauso wie der Neffe, der ein unehelicher Sohn des Duc de Was-weiß-ich war. So was kennt jede Familie.«

»Stimmt. Und mancher Neffe ist wirklich ein unehelicher Sohn eines Duc.«

»Nun ja, ich jedenfalls weiß nichts über ein Exemplar des Grand Albert

»Sehen Sie«, strahlte Dorkas », und genau das mag ich Ihnen nicht glauben.«

»Monsieur, warum wollen Sie mich in Verlegenheit bringen, indem Sie insistieren?«

»Es täte mir Leid, würde ich Sie in irgendwelche Verlegenheit bringen. Allerdings gehe ich dieses Risiko ein, weil es die Sache wert ist.«

»Die Sache? Sie meinen den Grand Albert? Was würden Sie damit anfangen, wenn es ihn denn gäbe und Sie ihn in die Finger bekämen?«

»Was ich damit anfange würde? Sagen wir, es wäre eine Schutzmaßnahme.«

»Dafür soll er nicht geeignet sein.«

»Doch, auf jeden Fall. Denn er wäre erstens nicht in falschen Händen und zweitens finde ich darin eine Möglichkeit, mich und andere – sagen wir: vor Einflüssen zu bewahren.«

»Vor welchen Einflüssen, was meinen Sie?«

 

Statt einer Antwort deutete Dorkas auf die stillen Ausstellungsräume, in denen ab und zu die Gestalt eines umhergehenden Besuchers sichtbar wurde. Inzwischen hatte sich auch Little erhoben und sich zu den beiden zugesellt. Er blieb, die Arme verschränkt, in der Haltung des stillen Beobachters.

»Falls, ich sage falls, es eine Möglichkeit geben sollte, Sie mit einem Besitzer des Grand Albert in Kontakt zu bringen, wäre das ein sehr schwieriger Weg.«

Dorkas senkte den Blick, rieb sich die Nase und überlegte. »Wäre es der lange, nasse Weg oder der kurze, trockene Weg?«, antwortet er dann langsam.

Reinards Kopf ruckte, als würde er seinen Gesprächspartner erst jetzt bemerken.

»Beide Wege führen zum Ziel. Hauptsache sie dienen der Lösung …«

»… und der Bindung. Solve et …«

»… et coagula. Monsieur, vielleicht kann ich doch etwas für Sie tun. Dieses Museum schließt um 19 Uhr, seien Sie bitte pünktlich zur Stelle.« Damit wandte sich Monsieur Reinard brüsk einer weiteren Besuchergruppe zu.

 

»Was sollte dieses Gefasel eigentlich«, fragte Little. Um die Zeit zu überbrücken, hatten sie in einem kleinen Gasthof gespeist und kämpften und mithilfe eines Spaziergangs gegen die Verdauungsmüdigkeit an.

»Es war nichts als ein wenig alchimistische Terminologie«, erklärte Dorkas. »Der lange, nasse und der kurze, trockene Weg sind die beiden Methoden des alchimistischen Weges hin zum Stein der Weisen. Und dieses solve et coagula, dieses Lösen und Binden ist ein Grundprinzip der Alchimie.«

»Sie haben sich also mit Reinard ein wenig auf die gleiche Wellenlänge gebracht, wie?«

»So in etwa. Jedenfalls weiß er, dass ich nicht unbedingt zu der Fraktion gehöre, die mitternachts nackig im Wald stehen und hexerisches Gesprüch zum Besten geben.«

»Dann wollen wir hoffen, dass Ihr Beitrag zur Gesunderhaltung des nächtlichen Waldes entsprechend gewürdigt wird. Mal so ganz nebenbei. Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie ernsthaft so etwas wie Alchimie betreiben?«

»Nein, so etwas würde ich nie behaupten. Aber ich kann mich immerhin rühmen, einem Schüler von Archibald Cockren über die Schulter geschaut zu haben.«

Bei der Nennung des Namens hatte Dorkas erwartungsvoll zu Little geblickt. Als dieser nur verständnislos zurückblickte, seufzte Dorkas und fuhr fort: »Cockren wurde zu Anfang des 2. Weltkrieges bei einem Bombenangriff getötet. Kurz vorher hatte er ein Buch über Alchimie veröffentlicht. Er war Arzt, sein Interesse galt vor allem der Herstellung von Heilmitteln. Um Sie nicht zu überfordern – er wollte die Quintessenz aus Metallen oder Pflanzen filtern, eine Art von Lebensenergie.«

»Das klingt ziemlich weit hergeholt.«

»Weit hergeholt bedeutet ja noch lange nicht schlecht oder falsch. Jedenfalls kannte ich noch alte Leute in London, die ein Elixier von Cockren einnahmen.«

»Und dieser Cockren hatte Schüler?«

»Einen oder zwei. Zumindest habe ich einen Arzt kennengelernt, ein ziemlicher Platzhirsch in der Medizinforschung, der sich als Schüler Cockrens bezeichnete. Er hatte ein regelrechtes Laboratorium für seine Versuche. Wie hieß er noch? Ist eine ganze Weile her und wir haben uns völlig aus den Augen verloren. Hanks, Shanks, Grands, Franks, Langs, Banks, ich glaube, er hieß Langs.«

»Es ist mir immer wieder ein Vergnügen festzustellen, in welchen erlauchten Kreisen Sie sich bewegen, Dorkas!«

Daraufhin versenkte Dorkas die Hände in den Taschen und war nicht mehr dazu zu bewegen, weitere Einzelheiten über seine Begegnungen mit der Alchimie zum Besten zu geben.

 

Monsieur Reinard verfrachtete die beiden Männer in seinen R4 und fuhr mit ihnen nach Sancerre, einem nahegelegenen Weinort. Am Ortsausgang hielt er neben einem kleinen, aus Felssteinen erbauten Haus. Zwischen Haus und Straße war ein schmaler Gemüsegarten, in dem eine gebückte, alte Frau mit einer Hacke arbeitete. Die Frau erinnerte Little von Weitem sehr unangenehm an die unheimliche Greisin, die er in seiner Vision gesehen hatte. (Little sprach selbst stets von unkontrollierter Offenheit.) Als sich die Frau jedoch aufrichtete und, auf den Stiel der Hacke gestützt, dem Besuch entgegenschaute, erkannte er ein freundliches Gesicht mit einer dicken Kartoffelnase, auf welcher der gute Wein dieser Gegend seine Färbung hinterlassen hatte, und zwei helle, von Lachfalten umgebene Äuglein.

Reinard stellte die Besucher vor, man erzählte eine Weile, jammerte über das Wetter, schimpfte über die Politik. Dann holte Reinard tief Luft.

»Teure Solange, ich weiß, dass du etwas ganz Bestimmtes in deinem Besitz hast. Und dieser Herr hier hat Interesse, es in Besitz zu nehmen. Solltest du dich erinnern, um was es geht, lass es dir nur gut bezahlen.« Und zu Dorkas gewandt, sagt er: »So, Monsieur, mehr kann ich für Sie nicht tun. Ich halte mich ab jetzt völlig aus der Sache raus.«

Die Frau lachte. »Ein gutes Gedächtnis hat er, unser kleiner Adolphe. Als ich ihm davon erzählte, waren wir beide gute sechzig Jahre jünger, stimmt’s?«

»Ich hoffe, wir reden über dieselbe Sache, den Grand Albert«, radebrechte Dorkas.

»Ach ja, dieses Buch. Meine Mutter hat es mir vererbt und sie hatte es von ihrer Mutter und so fort. Ich legte es zur Seite. Ich wollte damit nichts zu tun haben.«

»Nun, ich gebe Ihnen Gelegenheit, es zu einem guten Preis abzugeben.«

»Ja, ja, das Geld. Aber ich habe keine Kinder mehr, denen ich das Buch vererben könnte. Meine einzige Tochter starb vor Jahren bei einem Unfall. So ist das.« Die Frau schwieg eine Weile. Dann hob sie wieder den Kopf. »Aber Sie kommen zu spät.«

»Was?«

»Ja, ich habe es schon weggegeben.«

 

Dorkas schlich den Gartenweg bis zum Zaun an der Straße entlang, schaute eine Zeit lang nach links und nach rechts, und als er sich wieder gefasst hatte, kam er zurück.

Inzwischen hatte sich Reinard trotz seiner gegenteiligen Ankündigung doch wieder in die Sache eingemischt und überhäufte Solange mit Vorwürfen, als hätte sie eine Atomwaffe weitergegeben.

Die Szene machte deutlich, dass auch Franzosen sowohl zu Lautstärke als auch zu Temperament fähig waren.

»Wie konntest du nur so was machen«, brüllte Reinard und ließ alle Nettigkeit vermissen, die ihn sonst wie milder Weihrauchduft umgab.

»Du hast mir gar keine Vorwürfe zu machen. Wenn ich erst unter der Erde bin, dann wäre es sowieso in fremde Hände gekommen. Und du hättest es sowieso nie bekommen, Du und dein Museum. Meine Mutter hat mich davor gewarnt, dir überhaupt was davon zu erzählen.«

»Deine Mutter war eine alte Hexe!«

»Sprich nicht so von meiner Mutter.«

»Wer hat denn unsere Verlobung hintertrieben? Sie doch, diese hinterhältige Hexe.«

»Unfug, du warst ein Feigling, das warst du, jawohl. Hast diese Ziege von Maniche geheiratet, bloß weil deren Alter den Gasthof hatte.«

»Stimmt nicht, stimmt nicht. Aber sie hatte jedenfalls nicht so eine Mutter, die morgens einen blauen Fleck am Hintern hatte, wenn man nachts einer schwarzen Katze einen Tritt verpasste.«

»Was weißt du schon vom Hintern meiner Mutter? Häh, was weißt du davon?«

»Genug, um den blauen Flecken gesehen zu haben, und er hatte sogar meine Stiefelgröße. Darum hat mich deine Mutter gehasst.«

»Weil du Katzen nicht mochtest, weil das auf deinen miesen Charakter schließen ließ, aber bestimmt nicht, weil sie deinen Stiefelabdruck am Arsch hatte.«

»Und genau deshalb.«

»Alter Lügner!«

»Darf ich mich vielleicht noch einmal kurz in ihre Diskussion einschalten?«, fragte Dorkas. Er war nervös und hatte Schwierigkeiten, seine Gedanken verständlich in der fremden Sprache zu formulieren.

»Wann haben Sie den Grand Albert verkauft, Madame Solange?«

»Vor einigen Tagen. Lassen Sie mich nachdenken, es war vor drei Tagen.«

»Könnten Sie mir auch sagen, an wen Sie das Buch verkauft haben?«

»Sie fragen, als ob Sie von der Steuerbehörde wären. Nun, es war ein Landsmann von Ihnen. Sie sind doch Amerikaner?«

»Ich bin Brite, Engländer«, beeilte sich Dorkas sofort zu versichern.

»Nun, dieser Mann war ein Amerikaner. Aber er sprach unsere Sprache völlig ohne Akzent. Ich hätte es nicht gemerkt, dass er eigentlich Ausländer ist, wenn er es mir nicht erzählt hätte. Er sagte, er sei mit den Invasionstruppen in der Normandie gelandet und wäre dann hiergeblieben.«

»Normandie, das war vor einem halben Jahrhundert. Er war also ein alter Mann?«

»Jetzt, wo Sie es sagen, kommt es mir selbst seltsam vor. Nun ja, er wird ein sehr junger Soldat gewesen sein und er hat sich gut gehalten. Dann kommt es hin.«

»Was kommt hin, Madame?«

»Er wirkte jünger. Eine stattliche Erscheinung – olala.«

»Wären Sie so freundlich, mir diesen Mann näher zu beschreiben?« Dorkas knetete nervös die eigenen Finger und hatte einen drängenden Unterton in der Stimme.

»Beschreiben?« Die alte Frau richtete den Blick in die Ferne und überlegte. »Groß war er, nein, eigentlich nicht mal, aber schlank und deshalb wirkte er groß. Er trug einen langen schwarzen Mantel, aus Leder, glaube ich. Teures Stück. Er wollte ihn auch nicht ablegen. Er war hager, schmales Gesicht, volles Haar hatte er, aber er trug einen Hut, darum kann ich nicht mal sagen, ob er wirklich noch alle Haare hatte. Kurzer Bart, die Augen waren blau. Er hatte einen Blick … nun ja, das hatte was. Und die Stimme, sie war sehr tief, sie dröhnte förmlich.«

»Woher wusste er, dass Sie den Grand Albert besitzen?«

»Keine Ahnung. Er kam einfach in einem großen Auto, mit einem Fahrer und einem Sekretär, beides junge Leute und auch in Schwarz gekleidet und sagte mir auf den Kopf zu, dass ich den Grand Albert hätte und dass er ihn kaufen würde. Der Preis, den er anbot, war sensationell. Ich bin zwar zu alt, um das Geld noch gebrauchen zu können, aber es beruhigt.«

»Nannte der Mann seinen Namen?«

»Der Name, nein, kein Name ist je gefallen.«

»Noch eine Frage, Madame. Ist Ihnen bei dem Mann etwas aufgefallen?«

»Aufgefallen? Was soll mir aufgefallen sein?«

»Hinkte er vielleicht?«

»Ja, tatsächlich, jetzt fällt es mir wieder ein. Er hatte tatsächlich ein leichtes Hinken.«

»Trug er Handschuhe?«

»Ja, schwarze Lederhandschuhe. Er muss fürchterlich geschwitzt haben.«

»Und? Fiel Ihnen etwas auf? Hat er die Handschuhe ausgezogen?«

»Worauf wollen Sie hinaus?« Die alte Frau begann die Lust an dem Verhör zu verlieren, während Dorkas mit jeder Sekunde nervöser und fahriger wurde.

»Seine Hände, Madame. Haben Sie seine Hände gesehen?«

»Ach ja. Sie haben recht. Er hatte an jeder Hand nur vier Finger. Die kleinen Finger fehlten.«

»Ich habe es geahnt«, flüsterte Dorkas heiser. »Le Domaine de Brantly.«

Fortsetzung folgt …