Der Detektiv – Band 30 – Die Matsoa-Spinne – Kapitel 1
Walter Kabel
Der Detektiv
Band 30
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Matsoa-Spine
1. Kapitel
Das gelbe Auto
»Und nun, bester Jobster, erzählen Sie uns nochmals ganz genau alles, was mit dem an Admiral Stevenpole verübten Mord zusammenhängt«, sagte Harst zu dem bartlosen, untersetzten Detektivinspektor.
Wir drei saßen auf dem Balkon unseres Zimmers im Raffles-Hotel und genossen die frische Seebrise, die von Osten her über die Reede von Singapur strich. Nach diesem glutheißen, erschlagenden Tag genossen wir ein köstliches, eisgekühltes Getränk und ein paar vorzügliche Zigarren.
Am Morgen waren wir in Singapur eingetroffen, hatten uns von Fred Jobster und seiner Gattin verabschiedet und uns mit ihm für 18 Uhr verabredet, denn Harst war bereits mit dem Stern von Siam unterwegs gewesen und hatte sich sehr für diesen Mord mit all seinen geheimnisvollen Begleitumständen interessiert.
Der Detektivinspektor und Leiter der Detektivpolizei der bekannten hinterindischen Hafenstadt lehnte sich in seinem Korbsessel bequemer zurück und begann: Dass Admiral Percy Stevenpole Hafenkommandant von Singapur war, wissen Sie bereits, Master Harst. Er war Junggeselle und trotz seiner 55 Jahre dem Aussehen und Auftreten nach kaum ein Vierziger. Er genoss sein Leben! Er gehörte nicht zu den Duckmäusern! Im Gegenteil, er kannte die Vergnügungsstätten des Chinesenviertels, die feinen Opiumhöhlen, die teuren Singspielhallen und dergleichen besser als wir von der Polizei. Neben seiner Wohnung im Gouverneurspalast besaß er noch einen kleinen, reizenden Bungalow mit fünf gemütlichen Räumen und einem Garten an der Westseite des Sophia-Hügels. Diesen Bungalow beaufsichtigte ein alter Maat der Kriegsflotte, der früher einmal beim Admiral gewesen war. Sie werden diesen Tom Barbaley noch kennenlernen. Er ist ein Original – mit nur einem Bein. Aber trotz seines Stelzfußes ist er so schnell wie ein Wiesel und dabei treuer als ein Pudel. Tom Barbaley spielte also in dem Bungalow den Hausmeister. Außerdem gab es drei chinesische Diener, die seit dem Tod Stevenpoles auf meinen Befehl hin unverändert geblieben sind. Nun kennen Sie also den Schauplatz, und jetzt komme ich zu interessanteren Einzelheiten. Am 30. Oktober des Vorjahres betrat Tom Barbaley morgens gegen 7 Uhr das Billardzimmer des Bungalows bei seinem morgendlichen Rundgang durch das Haus. Der Admiral hatte sich dort seit zwei Tagen nicht sehen lassen. Er war ein leidenschaftlicher Verehrer des sogenannten amerikanischen Billards, bei dem man die Kugeln in Löcher hineindirigieren muss.
Tom sah bei seinem Eintritt sofort seinen Herrn quer über dem unteren Teil des Billards liegen, mit herabhängendem Kopf, während Arme und Beine wie im Krampf angezogen waren.
Doch damit nicht genug: Gleichzeitig bemerkte er noch etwas anderes – eine Spinne aus der Familie der Kreuzspinnen, die die Einheimischen hier Matsoa nennen, was etwa Hausgeist bedeutet. Die Matsoa wird bis zu 2,5 cm lang und hält sich mit großer Vorliebe in bewohnten Häusern auf. Ihr Biss ist giftig, aber merkwürdigerweise hat sie noch niemals einen Menschen mit ihren Beißkiefern angegriffen. Im Gegenteil, sie hält die Wohnungen frei von anderem Ungeziefer. Kein Eingeborener wird daher eine Matsoa töten. Es soll zwei Arten davon geben. Die Kreuzspinne, die Barbaley bemerkte, hing an einem langen Spinnwebfaden von der Decke herab, sodass sie regungslos etwa eine Handbreit über Stevenpoles Kehle schwebte. Tom hat mir dies wiederholt genau beschrieben und als Zeuge dieselben Angaben gemacht.
Kaum hatte der Hausmeister durch einen schnellen Blick in das starre Antlitz und die weit aufgerissenen Augen seines Herrn festgestellt, dass dieser tot war, eilte er hinaus, nahm das Telefon und benachrichtigte mich. Er bekam auch bald Anschluss, und eine halbe Stunde nach der Auffindung des Toten durch Tom kam ich in dem Bungalow an. Inzwischen war Barbaley nicht wieder im Billardzimmer gewesen.«
»Eine Frage«, warf Harst hier ein, »ahnte Tom denn, dass ein Mord geschehen war?«
»Ja, denn er hatte am Hals seines Herrn eine kleine blutige Wunde gesehen. Außerdem hatte das Gesicht Stevenpoles auch im Tod einen Ausdruck wilden Entsetzens beibehalten, sodass Barbaley kaum an eine natürliche Todesursache denken konnte. Nun beginnt das Merkwürdige. Tom, mein Untergebener Galling und ich betraten das Billardzimmer. Tom hatte mir schon von der Matsoa erzählt. Aber wir fanden sie nicht mehr. Nicht einmal unter der Decke war sie aufzustöbern. Wir nahmen Leitern und suchten mit aller Sorgfalt, doch die Spinne war und blieb verschwunden.«
»Hat Tom schon früher einmal eine Matsoa im Billardzimmer gesehen?«, fragte Harst erneut.
»Nein, nie! Er hat dies mit aller Bestimmtheit versichert. Bald nach mir traf unser Polizeiarzt Dartmoore ein. Er untersuchte die Wunde. Es handelte sich um eine etwa drei Zentimeter lange Hautwunde mit zackigen Rändern, die sich quer über die Luftröhre unterhalb des Kehlkopfes hinzog. Doktor Dartmoore erklärte, die Wunde sei etwa fünf Stunden alt, der Tod sei jedoch gerade erst eingetreten.«
Jobster machte eine kurze Pause.
»Nun das Sonderbarste«, fuhr er fort. »Bei der Obduktion der Leiche wurde festgestellt, dass Stevenpole durch ein tierisches Gift umgekommen war, dessen Wirkung der einer besonders starken Dosis des Gifts der Matsoa-Spinne entsprach. Dartmoore hat Versuche mit Tieren angestellt, um herauszufinden, ob ein Füllen, das so viel wiegt wie ein erwachsener Mensch, durch Matsoa-Gift getötet werden könnte. Er hat drei Füllen die Haut der Kehle in derselben Weise eingeritzt, wie wir dies bei Stevenpole fanden. Anschließend trug er das Spinnengift in drei verschieden starken Dosierungen auf die frische Wunde auf. Zwei Füllen verendeten, eines davon nach zwei Tagen, das andere nach sechs Stunden unter Lähmungserscheinungen. Dieses hatte die größte Giftdosis erhalten. Damit war nachgewiesen, dass eine tödliche Vergiftung durch Matsoa-Gift bei einem Menschen nur möglich ist, wenn das Gift von etwa zehn ausgewachsenen Spinnen in das Blut eingeführt wird. Dies wäre die Todesursache. Dass Stevenpole sich nicht selbst auf diese Weise entleibt hatte, war uns sofort klar. Es war also Mord, und zwar ein so seltsamer Mord, wie ich ihn in meiner Praxis noch nicht erlebt hatte. Wir waren nun sehr vorsichtig und ließen die Öffentlichkeit völlig im Unklaren über die Todesursache. Wir verbreiteten das Gerücht, Stevenpole sei mit einem vergifteten Dolch getötet worden. Auch Barbaley schwieg, sodass niemand etwas von der Mafia ahnt. Ich kann mich mit den übrigen Einzelheiten kürzer fassen. Wir ermittelten Folgendes: Stevenpole war damals bis Mitternacht im Cricket-Klubhaus gewesen und hatte es allein verlassen. Weiter konnten wir nichts – gar nichts – herausfinden. Ich behaupte, dass der Admiral in jener Nacht noch im Chinesenviertel war und dann wahrscheinlich in Begleitung zum Bungalow ging. Diese Person hat ihn ermordet. Sie wissen ja, Master Harst, zunächst hatte ich Verdacht gegen den Dampfersteward Pegrier geschöpft. Aber Pegrier konnte heute ein einwandfreies Alibi für jene Nacht nachweisen. Ich möchte außerdem anmerken, dass wir in den Zimmern des Bungalows nichts gefunden haben, das für die Ermittlungen von Wert gewesen wäre. Stevenpole trug alles bei sich: Ringe, Uhr und eine Brieftasche mit 480 Pfund in Banknoten. Es war also kein Raubmord. Mehr vermag ich nicht anzugeben.«
Harst warf seine halb aufgerauchte Zigarre in den Aschenbecher und langte nach seinem Zigarettenetui.
Ich kannte das: Nur beim süßlichen Rauch seiner Spezialmarke Mirakulum ging er im Geiste den Spuren eines Verbrechens nach.
Eine ganze Weile herrschte nun Schweigen. Fred Jobster schaute Harst fragend an. Doch Harst blickte mit halb zugekniffenen Augen an ihm vorbei auf das Meer, das beim Sonnenuntergang nun zartrosa schimmerte.
Dann sagte er plötzlich: »Der Mord liegt drei Monate zurück. Das ist eine sehr lange Zeit. Viele feine Spuren, die der Täter ja fraglos am Tatort zurückgelassen hatte, sind nun gänzlich verwischt.«
»Gestatten Sie«, fiel Jobster ihm ins Wort. »Es waren keine feinen Spuren da! Es war nichts von Spuren vorhanden!«
Harst schien den Einwurf nicht zu bemerken.
»Es ist schwer, nach einem Vierteljahr noch Licht in das Dunkel eines Mordes wie diesem zu bringen«, fügte er hinzu. »Immerhin will ich es versuchen.« Morgen früh werden wir uns um 7 Uhr im Bungalow Stevenpoles einfinden. Bitte erwarten Sie uns dort, Jobster. Und besorgen Sie für morgen früh auch drei Matsoa-Spinnen. Ich möchte ein kleines Experiment anstellen.«
Der Inspektor beugte sich interessiert vor.
»Experiment? Welcher Art?«
Bevor Harst noch etwas erwidern konnte, erschien ein farbiger Kellner in der Balkontür und meldete den Detektiv Galling in sehr dringender Angelegenheit.
Jobster sprang auf und meinte: »Galling wusste, dass ich hier bin. Was mag nur passiert sein?«
Da trat Galling auch schon ein. Er war klein und mager und sah aus wie ein Jockey. Er verbeugte sich kurz.
»Master«, wandte er sich dann erregt an Jobster. »Eugenie Malcapier ist vor einer halben Stunde aus dem Gerichtsgefängnis entkommen.«
Diese Nachricht wirkte auf Harst und mich wie eine Bombe.
Dem Leser dürfte Eugenie Malcapier noch aus den letzten Bänden dieser Sammlung bekannt sein. Wir hatten ihr auf dem Dampfer Stern von Siam die in Bangkok geraubten Edelsteine abgenommen und glaubten, sie hier in Singapur nun in sicherem Gewahrsam zu haben. Sie hatte Harst und mir Rache geschworen. Wenn sie sich nun wieder in Freiheit befand, bedeutete dies eine ständige Bedrohung für uns.
Galling berichtete über die Flucht der rotblonden, anziehenden, schlauen und tatkräftigen Verbrecherin Folgendes:
Der Untersuchungsrichter Divingstone hatte sich Malcapier durch einen Aufseher zum Verhör vorführen lassen. Der Aufseher musste draußen im Vorraum des Verhörzimmers warten. Es war ein Inder, ein früherer Unteroffizier der Kolonialarmee. Als Richter Divingstone den Aufseher hereinrief, damit dieser die Malcapier in die Zelle zurückführe, trat statt des ersten Aufsehers ein anderer ein und meldete, er habe den Kollegen ablösen sollen. Dieser zweite Aufseher war ein Verbündeter der Malcapier, was sich sehr bald herausstellte. Er hatte der Frau zur Flucht verholfen und war mit ihr in einem dunkelgelben Auto verschwunden, das schon seit etwa einer Stunde vor dem Gebäude gewartet hatte und von einem chinesischen Chauffeur gelenkt wurde.
Hier warf Harst die Frage ein: »Es war also wohl überhaupt kein Gefangenenaufseher, dieser zweite Mann, sondern jemand, der die Dienstabzeichen dieser Beamten trug, nicht wahr?«
Galling bejahte. »So ist es, Master Harst. Den anderen Aufseher fand man dann bewusstlos in einem großen Aktenschrank im Vorraum. Der Mann hatte eine furchtbare Wunde am Hinterkopf und war wohl hinterrücks niedergeschlagen worden!«
»Ah, welche Frechheit!«, rief Jobster. »Man denke – im Vorraum des Verhörzimmers!«
»Wer hat das Auto gesehen?«, wollte Harst wissen. »War es ein geschlossener Wagen?«
»Das Auto wurde von vielen bemerkt, auch von zwei Kollegen von mir. Aber niemand kümmerte sich darum. Die Kinder des Pförtners des Polizeigebäudes sprachen sogar mit dem Chauffeur und drückten spielend die Hupe.«
»Weshalb erwähnen Sie gerade diese Kinder?«, fragte Harst. »Kinder sind doch als Zeugen kaum brauchbar. Man sollte sie nie in einem ernsthaften Verfahren als Zeugen vernehmen. Ihre Beobachtungsgabe und ihr Gedächtnis sind ungeschult und unzuverlässig.«
Der Detektiv Galling lächelte ein wenig. »Oh, Master Harst, die Kleinen hatten sich nur die Hände und mit diesen wieder die Gesichter durch den noch nicht ganz trockenen Anstrich des Autos beschmutzt. Mit den gelben Flecken auf den Backen sahen sie recht komisch aus.«
Harst warf mir unauffällig einen Blick zu. Dann fragte er Galling: »Es muss wohl ein Wagen mit Leinenverdeck gewesen sein, nicht wahr? Denn geschlossene Autos findet man hier im Orient kaum.«
»Ganz recht – mit Leinenverdeck, anschnallbar. Der falsche Aufseher hat die Malcapier sehr rasch an der Pförtnerloge vorbeigeführt. Beide stiegen ein, und im selben Augenblick raste das Auto auch schon davon. Die Kinder haben das mit angesehen.«
»Das ist vor einer halben Stunde geschehen?«, meinte der Detektivinspektor.
»Ja, man hat den echten Aufseher nämlich erst vor etwa zehn Minuten in dem Aktenschrank gefunden. Da wurde die Flucht der Malcapier offenbar. Ich bin dann sofort hierher geeilt, nachdem ich die nötigen Befehle an sämtliche Polizeireviere und auch nach außerhalb gegeben hatte.«
»Recht so!«, lobte Jobster. »Wir werden das Auto schon fassen. Die gelbe Farbe ist ja so selten und fällt sicher auf. Entschuldigen Sie schon, Master Harst. Ich muss mich jetzt verabschieden. Ich hoffe, dass wir das Weib in ein paar Stunden haben. Unsere Polizei hier ist gut organisiert. Das erfordert schon der riesige Hafenbetrieb.«
Die beiden Detektive verließen uns.
Harst hatte sie bis in den Hotelflur begleitet, kam nun auf den Balkon zurück, setzte sich und sagte: »Ich beneide Jobster um seine Hoffnungsfreudigkeit. Was er sich wohl so von der Malcapier und deren Verbündeten denkt?« Er lachte leise auf. »Eine Frau wie diese, eine großzügige Verbrecherin, lässt sich so leicht nicht in einer Stadt wie Singapur aufspüren. Ich kenne Singapur von früher. Das Chinesenviertel hat Straßen, in die sich die Polizei nachts nur mit großem Aufgebot hineintraut. Hier gibt es Schlupfwinkel, die kein Polizeiauge entdeckt. Hier verschwinden Dutzende Menschen auf Nimmerwiedersehen. Hier gibt sich die Elite aller farbigen und weißen Schurken des Ostens ein Stelldichein. Als ich das erste Mal zehn Tage hier weilte – das liegt nun sechs Jahre zurück – wurden gerade fünfzehn Chinesen und Malaien zum Tode verurteilt und aufgeknüpft. Sie hatten hier im Hafen eines Nachts einen Dampfer mit unheimlicher Geräuschlosigkeit ausgeplündert, nachdem sie die Besatzung im Schlaf ermordet hatten. Das ist so eines der Nachtstücke aus Singapur.«
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