Zehn Geschichten aus Meister Hämmerlings Leben und Denkwürdigkeiten – Teil 3
Zehn Geschichten aus Meister Hämmerlings Leben und Denkwürdigkeiten
Memoiren eines Scharfrichters aus den Zeiten des Mittelalters
Herausgegeben von Wilhelm von Chézy
Vom Rosental
Wenn ich es vor allem liebte, fernab der Menschen in der schauerlichen Obhut der Femstatt zu weilen und den Reden Arnulphs zu lauschen oder die Einsamkeit der Wälder und Fluren aufzusuchen, so geschah dies, wie ich oben schon sagte, vorzüglich deshalb, weil ich unter den Leuten statt Liebe und Anteilnahme nur Hass und abstoßende Verachtung fand. Doch auch das sollte sich in späterer Zeit ändern und die Stadt sollte mir ein lockendes Ziel der Wanderung werden, trotz des Hohns und aller Schmach, die mir den Weg immerdar verbitterten, sobald wir einem Menschen begegneten.
Der selige Vater ging regelmäßig jeden Samstagabend nach dem Aveläuten zur Stadt. Er wandte sich vom Marktplatz gegen das enge Gässlein, welches Zum Rosental genannt wird, krumm und düster hinter Sankt Kümmernis gegen die Frohnveste steil hinabführt. Er tat drei dröhnende Schläge in abgemessenen Zwischenräumen hintereinander an das Tor eines großen, dunklen Hauses mit dem Zeichen des Elefanten. Darauf öffnete ihm ein altes Weib, führte ihn in eine weite, gewölbte Unterstube und stellte eine Schleifkanne mit Wein und einen Laib Brot vor ihn auf den Tisch. Während er davon trank und aß, füllte sich das Gemach mit jungen Frauen, von denen jede, nacheinander, zu ihm trat, ihm eine Silbermünze reichte und ein Wort mit ihm wechselte, bevor sie sich still entfernte.
Die Frauen hatten fast alle ein unheimliches Aussehen: stiere Augen mit erloschenem Glanz, starre Züge, blasse Wangen. Ihre Gewänder hingen ihnen lose und schlotterig um den Leib. Sie sahen den Vater scheu an und mich gewöhnlich mit einem verlangenden Blick, als hätten sie mich gern geherzt und geküsst. Doch das war ihnen strikt untersagt, denn als eine junge Magd mich einst streicheln wollte, gab ihr der Vater mit der umgekehrten Hand eine gewaltige Maulschelle und schrie dabei: »Weg von dem Kind, du Schlampe!« Daraufhin wich die Dirne, aus Mund und Nase blutend und von den anderen verlacht, aus der Stube.
Was der Vater sonst mit der Alten und den Jungen sprach, war wenig, und ich verstand es nicht. Zuweilen ließ er mich auch allein, um, wie er sagte, im Haus und in den Kammern nach dem Rechten zu sehen und zu prüfen, ob sich jemand in der verbotenen Zeit darin versteckt hatte. Manchmal hörte ich dann auf dem Flur Lärm und Geschrei. Als ich eines Abends im oberen Stockwerk lauter als sonst Gezänk und Gekreisch vernahm und mir dabei in der einsamen Stube Angst wurde, schlüpfte ich hinaus und kam durch die Hintertür in den Hof. Dieser war von hohen Mauern umgeben und mit mehreren Ahornbäumen bepflanzt. An der entferntesten Seite endete er in einem Grasplatz, auf dem zum Bleichen aufgespannt ein paar Stücke Tuch lagen. An den von Baum zu Baum gespannten Leinen befand sich allerlei halb zerrissene und schlecht gewaschene weiße Wäsche. trocknete. Dort saß, gleichwie unter einem Zeltdach, auf dem Gras beim Brunnen ein niedliches Kind, welches mit einer langen Gerte Gänse, Hühner, Eulen und das grunzende Schwein vom Bleichplatz abhielt. Als es mich erblickte, lächelte es mir liebreich zu. Ich trat hinzu, reichte dem Mädchen die Hand und fragte es nach seinem Namen.
»Ich heiße Elsbeth. Und du?«
»Sie rufen mich Benz«, entgegnete ich. Obwohl Arnulph mir stets eingeschärft hatte, dass ich ungefragt niemals sagen sollte, wessen ich sei, setzte ich dennoch unbedacht hinzu: »Und ich bin des Scharfrichters Bube.«
Ich erschrak über diese Worte, als sie heraus waren, und dachte, Elsbeth würde sich mit Abscheu von mir abwenden. Stattdessen sagte sie ganz freundlich: »Setz dich zu mir, Benz, und hilf mir, das Leinen zu hüten.«
Ich war wie im Himmel, denn seit mein liebes Mütterlein von dannen gegangen war, hatte ich nie wieder erfahren, wie wohltuend das Lächeln eines engelschönen Antlitzes ist. Wir zwei Kinder wurden alsbald die besten und vertrautesten Freunde, saßen Hand in Hand beieinander, lachten und plauderten ununterbrochen und vergaßen um uns herum die ganze Welt.
Ich fragte die kleine Elsbeth, wer ihre Eltern seien. Sie sah mich mit ihren großen schwarzen Augen verwundert an. Sie wusste nicht, was ich meinte. Meine Erklärung verwirrte sie nur noch mehr. Schließlich hörte ich meinen Vater pfeifen. Ich gab meiner neuen Freundin einen Kuss und sprang ins Haus. Unterwegs erzählte ich dem Vater von der Begegnung und er sagte mir, das Mädchen sei eine Waise, deren Mutter im Haus gestorben sei und die nun von der alten Sarah aufgezogen worden sei. Einen Vater habe sie seines Wissens nie gehabt.
Von diesem Tag an ging ich nirgends lieber hin als zur Stadt. Was kümmerte mich nunmehr die Scheu der Begegnenden, der Hohn der spielenden Knaben, die uns mit Spottreden nachliefen! War meinen Schritten doch ein Ziel gesteckt, an dem ein liebreicher Gruß, ein Händedruck und ein zärtlicher Kuss auf mich warteten. Die kleine Elsbeth wurde mir bald so lieb wie Mütterlein selig, sodass in meinen Träumen die beiden Bilder schließlich ineinander verschmolzen und ich, einer gedenkend, eigentlich beide zugleich im Sinn hatte. Doch das änderte sich später, als die himmlische Reinheit, in deren vollem Glanz Mütterlein hinübergegangen war, von Elsbeth gewichen war.
So wurde ich etwa zwölf Jahre alt, ein großer und starker Junge, geschickt in allerlei Handgriffen. Ich führte das Schwert schon so sicher, dass ich mit einem waagrechten Streich zwischen übereinandergestellten Hähnen hindurchhieb, ohne einen davon zu beschädigen. Mit gewandter Hand knüpfte ich Knoten und Schlingen so kunstfertig, dass ich, wie Arnulph voller Stolz zu sagen pflegte, jederzeit Freiknecht hätte werden können. Eines Tages befahl mir der Vater, der vom Zipperlein geplagt war, allein in die Stadt zu gehen und den Frauenzins aus dem mir so wohlbekannten und teuren Haus zum Elefanten zu holen. Dabei band er mir auf die Seele, mich von den fahrenden Weibern nicht herzen, drücken und küssen zu lassen und keinen der blanken Pfennige zu verlieren, die sie mir geben würden. Ich brachte ihm die richtige Zahl heim, doch erfuhr er nicht, was mir unterwegs begegnet war.
Als die Buben nämlich wahrnahmen, dass ich allein war, wagten sie sich viel näher an mich heran als sonst. Unter ihnen bemerkte ich wieder vor allem jenen flachshaarigen Gesellen, der mir stets als der ärgste unter ihnen erschienen war und den seine Genossen teils Engolf, teils Raufhähnlein riefen. Er war der Sohn des Patriziers Hahn zum Baumgarten und um wenige Jahre älter als ich. Diesmal verfolgte er mich bis zur Schwelle des Frauenhauses. Da die Pforte gerade geöffnet wurde, trat er ganz nah heran und schlug nach mir. Ich wich dem Schlag behänd aus und stieß ihm dabei die geballte Faust unter die Nase, sodass er rücklings niederstürzte. Ich wischte hinein und ließ die Tür ins Schloss fallen.
Nun war ich fürs Erste in Sicherheit, aber draußen harrte das Raufhähnlein mit seinen Genossen auf mich, sodass ich mich auf eine tüchtige Tracht Prügel gefasst machen musste. Ich bat Elsbeth, mir einen handfesten Knittel zu besorgen. Sie gab mir einen Bohnenstecken, ersparte mir jedoch die Mühe, mich dessen zu bedienen, indem sie mir einen geheimen Durchschlupf verriet, der von Gesträuch und wucherndem Efeu versteckt durch die Mauer auf den Zimmerplatz führte und jenseits durch allerlei Schutt und einen dichten Holunderbusch verborgen war. So ging ich in der Dämmerung hinter der Frohnveste hinab durch das Schiffertörlein und durch die Auen nach Hause, während die Gegner bis in die sinkende Nacht vergeblich im Rosental dem auflauerten, an dem sie ihr Mütchen zu kühlen so begierig waren.
Da ich mein Geschäft auf diese Weise treu und zuverlässig ausführte, übertrug mir der Vater fortan das Abholen des Zinses gänzlich. Ich nahm dabei wohlweislich jedes Mal den Weg durch das Schiffertörlein, um nicht etwa dem Engolf und seinen Gesellen unter die Fäuste zu geraten. Diese heimlichen Gänge hatten für mich dadurch nur einen umso höheren Reiz, besonders, als Elsbeth mich darauf aufmerksam machte, dass ich den Durchschlupf ja auch ohne Auftrag des Vaters finden könnte und die Woche noch sechs Tage außer dem Samstag habe.
Ich war vergnügt und glücklich, bis es mit meinem Schleichen und Schlupfen wie mit Kratzen und Borge im Sprichwort ging; es tat nur eine Weile gut. Die bösen Buben in der Stadt wussten genauso gut wie jeder andere, welche Geschäfte der Freimann allwöchentlich im Rosenthal hatte. Da sie so lange Zeit hindurch weder ihn selbst noch einen seiner Leute über den Marktplatz kommen sahen, dachten sie wohl, dass wir einen anderen Weg als bisher gefunden hätten.
Sicher ist jedenfalls, dass ich verraten worden war und die Raufhähnlein mir auflauerten, um sich für den empfangenen harten Faustschlag zu rächen.
Und eines Nachmittags, als ich bei der Frohnveste zum Zimmerplatz einbog, hörte ich hinter mir rufen: »Aufgeschaut! Da ist er!« Ich sah ein paar Knaben mit Stecken in den Händen, die mit dem Geschrei »Hussah, Henkersbub!« auf mich zuliefen. Ich hielt es für das Beste, ihnen auszuweichen, da ich dachte, dass noch mehr von ihnen in der Nähe sein könnten. Also ergriff ich das Hasenpanier, rannte über Stock und Stein gegen den mir bekannten Hullerbusch, warf einige von ihnen nieder, die plötzlich wie aus dem Boden gewachsen waren und mich aufhalten wollten. Dabei erhielt ich manchen Stoß und Schlag. Beinahe wäre ich in Sicherheit gewesen, als ich plötzlich Engolf Stirn an Stirn gegenüberstand. Er hatte einen kurzen, dicken Knotenstock. Ich schwebte in Gefahr, von ihm geschlagen zu werden, und konnte dem nur entgehen, indem ich den Gegner unterlief, der jedoch zu fest auf seinen Füßen stand, als dass ich ihn hätte werfen können. So rangen wir denn Faust gegen Faust, empfingen und erteilten manchen Streich, und der Ausgang des Streits wäre sehr zweifelhaft gewesen, wenn nicht die anderen Buben mit wildem Geschrei herangekommen wären. Ihre Drohungen klangen furchtbar in meinen Ohren. Schon legte der Vorderste Hand an mich, und nur einen Augenblick noch bedurfte es, so war ich wehrlos ihren Misshandlungen preisgegeben. Da riss ich mich mit aller Kraft der Verzweiflung los, sodass die Stärke meines Wamses und meines Hemdes in der haltenden Faust des Raufhähnleins blieben. Ich schlug den eben Hinzugekommenen nieder und spürte in demselben nächsten Augenblick spürte ich den Streich des Knotenstocks über meinem linken Ohr. Dennoch fand ich, obschon ich taumelte und nichts mehr sah, wie von des Schutzengels Hand geleitet, den Weg in den Elefantenhof. Dort sank ich blutend und bewusstlos nieder, während meine Verfolger nicht wussten, wohin ich verschwunden war. Sie suchten mich eifrig im Gebüsch und unter dem Schutt, hinter dessen Zweigen, Balken und Steinen mein Schlupfwinkel so gut verborgen war, dass die Uneingeweihten, die dicht daneben standen, entweder keine Ahnung von seiner Existenz hatten oder sich mindestens nicht trauten, durch das Gemäuer zu dringen.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, fand ich mich mit verbundenem Kopf in einem mir unbekannten Gemach auf einem Lager wieder. Zu meinem Troste sah ich aber zugleich die vertrauten Züge meiner kleinen Freundin neben mir und fühlte mich alsobald heimisch. Ich fragte nicht, wo ich sei, sondern nur, ob ich lange geschlafen hätte. Da lächelte Elsbeth durch Tränen, ergriff meine Hand und zu des Bettes Füßen tauchte das Antlitz jener jungen Dirne auf, die der Vater meinetwegen geschlagen hatte. Ich hörte sie sagen: »Gott sei Dank, er lebt wieder.«
»War ich denn tot?«, fragte ich dagegen.
»So gut wie tot«, versetzte Amelein. »Der Meister Balduinus hätte gestern noch keinen Blaffert auf dein Leben gewettet, mein Kleiner, denn du bist übel gefallen.«
Elsbeth und ich sahen uns bei dieser Rede bedeutsam an, als wüssten wir es besser. Dennoch konnte ich mir nicht zusammenreimen, wie sie den eigentlichen Hergang hätte erfahren sollen, bis sie mir später selbst offenbarte, dass sie mich an der Hand durch die Mauer gezogen hatte. Sie hatte an jenem Abend, meiner harrend, den Lärm der Verfolgung und des Streits vernommen. Sie hatte sich in den Schlupf gedrängt und war just zu rechter Zeit gekommen, um mich den Fäusten und Stöcken der Dränger zu entreißen. So war es wirklich die Fügung meines Schutzengels gewesen, die mir Elsbeths Hand reichte, um den Betäubten und Taumelnden zu leiten.
Ich wollte mich aufrichten, doch Amelein hielt mich nieder. Ich erfuhr aus ihrem Munde, dass ich nicht nur eine schwere Kopfverletzung, sondern auch einen gebrochenen Fuß davongetragen hatte. Letzterer lag in Binden und Schindeln. Der Meisterarzt hatte verordnet, dass ich mich einige Zeit lang nicht vom Lager rühren sollte. Ich beschwichtigte meine Ungeduld, da ich bei diesem Anlass das Glück hatte, den lieben langen Tag in Elsbeths Nähe zu verbringen. Ich wünschte mir sogar, dass meine Heilung sich recht lange hinziehen möge. Was hätte ich auch daheim zu versäumen? Mein Vater wurde immer mürrischer und wenn ihn nicht gerade das Zipperlein an seinen Sorgenstuhl fesselte, dann wich er der keifenden Grethe aus. Je mehr ihr eigenes Büblein heranwuchs, desto scheeler sah sie mich an. Schließlich machte sie keinen Hehl mehr daraus, dass sie mich hasste und aus dem Weg wünschte, damit Kunz dereinst das väterliche Eigen und Lehen erben konnte, das mir als Erstgeborenem zustand, während der andere nichts zu erwarten hatte als einen kargen Zehrpfennig und ein neues Gewand für die Reise in die weite Welt. So wurde ich daheim vernachlässigt und misshandelt, im Elefanten dagegen mit Liebe und Aufmerksamkeit gepflegt. Ich fühlte mich selig in der Nähe meiner Freundin und hätte Jahre hindurch mit Freuden auf dem reinlichen Strohlager ausgeharrt. Dessen hatte ich mich nie erfreut, seit lieb Mütterleins sorgsame Hand nicht mehr in der Wasenmeisterei schaltete und waltete.
Doch auch diese Freude sollte mir genommen werden, bevor sie ihren natürlichen Verlauf nehmen und ihr Ziel erreichen konnte.
Zu jener Zeit nämlich begann ein Doktor Neander, der vorher Neumann geheißen hatte, mit donnernder Beredsamkeit gegen alles zu eifern, was in göttlichen und menschlichen Dingen für heilig und unantastbar erachtet wird. Deshalb lief ihm das Volk scharenweise zu, und schließlich wurden auch die guten Leute, die Ratsherren, die Patrizier, die Lehrer der Schule mit ihren Studenten und die Zunftmeister mitgerissen, die sich zum großen Teil dem Willen der Frauen fügten. Es ist kaum zu sagen, welche Gewalt der böse Feind diesem seinen geliebten Sohn über die Herzen der Frauen und Jungfrauen zugeteilt hatte. Und wie er nach Anweisung seines Herrn und Meisters den Armen die christliche Gemeinschaft auslegte und aus der Schrift bewies, dass die Reichen jedes Ärgernis seien, die Spieler Gesellen, die Säufer Brüder, die Gotteslästerer Freunde, Knechte aller Üppigkeit, weshalb niemand reich sein sollte als die Armen, so lockte er die Reichen, indem er ihnen Hass und Unruhe gegen Fürsten und Herren, Kaiser und Reich predigte und ihnen die christliche Freiheit verhieß. Und er vergaß schließlich nicht, gegen Kartenspiel, Kegelbahn und alles, was sonst noch nach altem Brauch und den Satzungen des Kaisers dem Freimann zinsbar ist, zu eifern.
Das gefiel den Frauen über alle Maßen. Mit gelbem Neid hatten sie schon lange gesehen, wie ihre Männer, Freier oder Söhne beim Kugeln, Kegeln, Würfeln und Kartenspielen blanke Pfennige und weiße Götzlein wagten und wetteten. Noch ärgerer war ihnen der Scharfrichter mit seinen Töchtern im Rosental. Gestützt auf die wütenden Kanzelreden des Predigers erhoben sie ein so heilloses Geschrei, dass ein Edler Rat, um der lieben Ruhe willen, unsere verbrieften Rechte mit Füßen tretend, schließlich nachgab, alle Spiele verbot und an einem schönen Morgen seine Schergen schickte, um die fahrenden Frauen zu greifen und aus der Stadt zu führen.
Das geschah just zu der Zeit, da ich im Elefanten auf dem Stroh lag. Es war herzzerreißend, zu hören, wie die armen Dirnen heulten und schrien. Die alte Sarah riss sich das graue Haar aus und nahm den Himmel und alle Heiligen zu Zeugen, dass sie mit tyrannischer Gewalt in ihren ererbten Privilegien als freie Bürgerin gekränkt würde. Dazwischen tobte mein Vater, der nach meinen Wunden und meinem Fuß gesehen hatte, weil Balduins Mittel nicht schnell genug wirkten. Er rief laut des Kaisers Recht an und drohte mit dem Reichsgericht.
Elsbeth schmiegte sich voller bitterer Angst an mich. Sie wollte nicht wanken oder weichen, und ich wollte nicht von ihr lassen, als meines Vaters Knechte kamen, um mich auf einer Bahre heimzutragen. Ich meinte, die Kleine müsse mit den anderen Mädchen aus der Stadt ziehen. Ich klammerte mich fest an sie und war nicht eher zu bewegen, sie loszulassen, als bis ein eintreffender Ratsherr vorschlug, Elsbeth solle bleiben und einer frommen Frau zur Erziehung überantwortet werden.
»Lieber Knabe«, sagte der Herr ganz freundlich, »es wird für das kleine Schwesterlein wohl um vieles besser sein, in christlicher Obhut zu gedeihen, als in diesem Sündenpfuhl aufzuschießen.«
Nun verstand ich damals nicht, was diese Rede bedeutete, denn in argloser Unschuld ahnte ich nichts von der Verworfenheit dieses Ortes. Aber die Freundlichkeit des Herrn beschwichtigte mich. Ich nahm Abschied und ließ mich geduldig von Elsbeth trennen, die weinend zurückblieb.
Als die Träger mit mir heimkamen, schrie uns die Stiefmutter unter der Tür entgegen:
»Schmeißt den liederlichen Strolch in den Stall zu den Schweinen, wo er hingehört.«
Arnulph wollte sich an diese Rede nicht kehren, doch die Grethe wehrte ihm mit zornrotem Antlitz und geballten Fäusten den Eingang. Als er sie wegdrängen wollte, schlug sie ihn auf die Wangen, kratzte ihn mit scharfen Nägeln und zwang ihn somit, sich ihrem Trotz zu fügen. Da bettete mich der gute Gesell denn, wenn auch nicht zu den Säuen, wie das arge Weib begehrt hatte, doch zu anderem Getier in den Zwinger, nämlich zu des Grafen Hatzhunden. Er wusste wohl, dass sie mir nichts anhaben würden. Er versprach auch, so fleißig nach mir zu schauen, wie es seine Zeit gestatten würde. An seiner Stelle kam der Vater, um sich um meine Wunden zu kümmern. Ich sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, mich so schlecht versorgt zu wissen. Er traute sich jedoch nicht, ein Wort darüber zu verlieren, denn die Stiefmutter hielt ihn unter strenger Zucht. Auf Arnulph wartete ich vergeblich und erfuhr erst später, dass er sein Bündel schnüren und von dannen ziehen musste.
So verlebte ich traurige Tage auf dem einsamen Schmerzenslager. Ich litt quälenden Durst und stillte den Hunger die meiste Zeit mit den Resten der Morgensuppe für die jungen Rüden. Oft beneidete ich die Alten um die ekle Kost, mit der sich Fasan, Waldfrau, Zottel und Bärmann mästeten. Mehr aber als Einsamkeit, Hunger und Durst quälte mich der Gedanke an Elsbeth, der Zweifel, ob der freundliche Ratsherr sein Wort gehalten hatte und ob ich sie jemals wiedersehen würde.
Nach und nach kam ich so weit, dass ich mich in den Hof schleppen konnte, um wieder einmal die Sonne und den blauen Himmel zu sehen. In der frischen Luft durfte ich nach Herzenslust am Brunnen trinken und mich am Trog waschen. Mit der Genesung ging es wundersam schnell, sodass ich endlich wieder auf meinen Füßen stehen, laufen und springen konnte. So war ich um vieles besser dran, obwohl es mir dennoch sehr schlecht ging. Der alte Benz war schwach genug, um des Hausfriedens willen seinem argen Weib den Willen zu lassen und sich nicht weiter um mich zu kümmern. Ich durfte nicht mehr in die Stube und nicht einmal in die Küche. Ich wurde schlechter behandelt als ein räudiger Hund und hatte seit Arnulphs Entfernung keinen Freund mehr als meine zottigen Schlafgenossen. Die Grethe und ihr Bube schlugen und traten mich, wo sie mich fanden, das Gesinde verhöhnte mich und gab mir wegen meines Abenteuers beim Elefanten einen schimpflichen Beinamen. Meine Suche nach Elsbeths Aufenthalt war ebenso vergeblich wie beschwerlich, da ich mich bei Tag nicht in der Stadt sehen lassen wollte und niemanden kannte, den ich deshalb hätte befragen können. Am schlimmsten war jedoch, dass ich von einem sehnsüchtigen Gedanken und Trachten gefangen war. Ich achtete meine übrige Pein gering, duldete jegliche Schmach, schickte mich in alle Entbehrungen und ergab mich ihnen, ohne sie wirklich zu bemerken.
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