Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 8 – 8. Kapitel
Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 8
Die Geliebte des Staatsanwalts
8. Kapitel
Die Maske
Es musste etwas Absonderliches sein, was den Unbekannten heimlich in das verlassene Haus des Lords Dempson trieb – etwas, was jedenfalls das Licht des Tages zu scheuen hatte, vielleicht ein neues Verbrechen!
Behutsam und unter Vermeidung jedes Geräusches, das ihn dem Fremden verraten konnte, huschte Holmes in das ehemalige Schlafgemach des Lords, wo sich die Mündung des geheimen Ganges befand. Eine Ahnung sagte ihm, dass dieses Zimmer das Ziel des Unbekannten sein müsse.
Und tatsächlich! Es dauerte nicht lange, so schlüpfte der Fremde über die Schwelle und spähte prüfend, eine Taschenlaterne vor sich haltend, durch das Gemach. Den Detektiv, der hinter einer Portiere stand, bemerkte er nicht.
Seine Knie schlotterten und die Zähne schlugen ihm aufeinander, als er für einen Augenblick die schwere Bürde zur Erde gleiten ließ, um dann mit der Rechten nach dem Mechanismus zu tasten, der die Tür zum geheimen Gang öffnete. Als der Fremde die Kette bemerkte, entfernte er sie, und erst nach einiger Mühe gelang es ihm, die Tür zu öffnen.
Nun nahm er das schwere Bündel auf den Rücken und schlüpfte damit in den Gang.
Holmes hörte ihn die Treppe hinuntergehen. Er zögerte noch eine Minute, dann öffnete er leise die Geheimtür und schritt dem Vorangegangenen nach.
Langsam ging er vorwärts. Er musste wissen, was der Unbekannte in seinem Bündel, was er hier zu tun hatte, ob er in die Villa Likeness wollte, und schließlich, wer er war.
Plötzlich blieb der vor Holmes Schreitende stehen. Holmes drückte sich an eine der Wände und hielt den Atem an. Aber der Fremde schien so sorglos, dass er den Detektiv ebenso wenig hinter sich vermutete, wie bemerkte. Er ließ die Bürde zur schlüpfrigen Erde gleiten und ergriff einen Spaten, der zwischen Decke und Seitenwand in einer schmalen, von Holmes beim Durchschreiten des Ganges übersehenen Nische steckte. Dann begann der Fremde emsig, die Erde des Fußbodens aufzuschaufeln.
Holmes schlich sich näher heran, sodass er höchstens zehn Schritte von jenem entfernt stand. Fast hätte sich der Detektiv verraten, als er nun auf das Bündel sah, dessen Zipfel sich beim Gleiten auf den Erdboden gelöst hatten. Er erkannte nämlich den Leichnam des Staatsanwalts, Charles Whitely, der, in sich zusammengedrückt, in dem dunkelgrünen Tuch lag.
Holmes musste an sich halten, um nicht einen Laut der Überraschung auszustoßen; er wollte den eifrig Arbeitenden nicht vor der Zeit stören.
Er hörte deutlich, wie der Schaufelnde vor Anstrengung keuchte. Sein Gesicht konnte er indessen nicht sehen, denn es war mit einer schwarzen Maske verdeckt.
Nach einer Viertelstunde war das Grab vollendet.
»Tief genug!«, hörte Holmes ihn sagen. Er lehnte die Schaufel gegen die Wand und schleppte nun den Leichnam herbei. Eine abermalige schaurige Viertelstunde verging. Dann hatte der Maskierte seine fürchterliche Arbeit beendet. Er trat die Erde über dem Leichnam fest und musterte noch einmal prüfenden Blickes, ob auch alles gut verborgen sei. Darauf legte er den Spaten wieder in die Nische über sich, murmelte ein »Vollendet?« mit bebender Stimme und wollte leise den Gang wieder
zurück nach dem Hause des Lords, woher er gekommen.
»Halt!«, donnerte ihm in diesem Augenblick die Stimme des Detektivs entgegen, und die Mündung seines Revolvers richtete sich auf die Brust des Maskierten.
Ein fluchartiger Laut, fast ein Schrei, entrang sich den Lippen des Gestellten, und ein paar geistesabwesende Augen starrten den Detektiv an. Aber nur einige Sekunden. In einem der nächsten Augenblicke fiel die Taschenlaterne des Maskierten klirrend zu Boden und zersprang in ein Dutzend Stücke. Völlige Dunkelheit umgab die beiden Männer.
Wenn sie nun aneinander gerieten, war es fraglich, wer die Oberhand gewann. Ob der kaltblütige Detektiv oder der verzweifelte Mörder.
Blitzschnell fuhr Holmes mit der Linken in die Tasche, um seine Laterne hervorzuziehen; mit der Rechten hielt er die Waffe vor sich, zog den Hahn und drückte ab. Ein donnerähnlicher Knall hallte von den Wänden zurück.
Noch war dessen Echo nicht verklungen, als Holmes seine elektrische Taschenlaterne hervorgezogen und geöffnet hatte. Ein blendender Strahl fiel den Gang hinunter. Doch der Gang, die Stelle war leer, auf der vorhin der maskierte Fremde gestanden hatte. Eilende, jedoch kaum hörbare Schritte in der Ferne verrieten dem Detektiv, dass der Fremde sofort nach Verlöschen seiner Laterne in die Richtung, in der die Villa Likeness lag, geflohen war, und dass Holmes’ Schuss verfehlt hatte.
Von der Absicht, ihn zu verfolgen, sah der Detektiv ab, da er den Fliehenden nicht mehr erreichen konnte und weil er auf seine eigene Sicherheit bedacht sein musste. Denn leicht konnte sich in jener Villa ebenso wie im Haus des Lords eine Leitung befinden, die den Gang unter Wasser zu setzen vermochte.
Hastig kehrte er den Weg wieder zurück und erreichte glücklich das Schlafgemach Lord Dempsous.
Eiligen Schrittes begab er sich zu der Unfallstation, in die er Lady Likeness und Staatsanwalt Whitely hatte schaffen lassen, um sich nach dem Befinden der beiden Verunglückten zu erkundigen.
Hier erfuhr er, dass die Lady sich nach langer ärztlicher Bemühung erholt und die Station bereits verlassen habe. Der Staatsanwalt dagegen war leider der Vergiftung erlegen; sein Leichnam aber auf unerklärliche Weise spurlos verschwunden.