Nick Carter – Band 16 – Haken-Max – Kapitel 3
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Haken-Max
Ein Detektivroman
Ein Mord auf offener Straße
Betroffen hatte der große Detektiv den beiden Gaunern nachgeschaut, und er hatte die unangenehme Empfindung, dass jene nun in allen Ecken und Enden von Chicago bekanntgeben würden, er sei in der Stadt, und darum sei Vorsicht vonnöten. Doch es leuchtete ihm ein, dass eine Verfolgung der Kerle ebenso aussichts- wie zwecklos war. Diesen Joe hatte er gewiss noch nie zuvor im Leben sehen – den anderen allerdings – es war genau derselbe Mann wie etwa Haken-Max, und er hatte ähnlich freche Straßenüberfälle auch schon in New York am helllichten Tage verübt. Dabei war er ein zäher, mutiger Bursche, der sich aufs Boxen mindestens ebenso gut verstand wie Nick Carter selbst. Aber die Nase fehlte – die Nase –, und es war kein Gedanke daran, dass es der seit verflossenem März wieder auf die Menschheit losgelassene und seitdem wie vom Erdboden verschwundene gefährliche Verbrecher sein konnte, der sich in einen Kampf mit dem Meisterdetektiv eingelassen und verzagt vor diesem geflohen war, kaum dass er einen Blick in dessen Züge hatte tun können.
»Nun«, wendete der Detektiv sich an die noch unter der Laterne stehende und leise vor sich hin weinende Frau, »ich hoffe, der Bursche hat Sie nicht verletzt?«
Der Gefragte schüttelte den Kopf. »Das wäre das wenigste!«, sagte sie dann leise. »Es gibt Schlimmeres auf Erden, als einen Faustschlag einstecken zu müssen – es war der erste nicht.«
»So kennen Sie den rohen Patron?«, fragte der Detektiv.
»Er ist mein Mann!«, schluchzte die Unglückliche auf.
»Sie Ärmste!«, versetzte Nick, unwillkürlich gerührt – und vergessend, in welch schäbiger Kleidung er sich befand, griff er in die Tasche und bot der Weinenden einen Fünfer an. »Nehmen Sie bitte – ich hörte Ihre Worte vorhin …«
Doch wie vor etwas Unreinem wich die verblüht und verhärmt, dennoch aber nicht unschön aussehende und peinlich sauber gekleidete Frau vor der Banknote zurück.
»Nein, nein – Sie mögen es gut meinen, Mister«, sagte sie scheu. »Aber so weit bin ich noch nicht … nein, ich bin keine Bettlerin, und müsste ich betteln, wendete ich mich an … an Leute, die … Sie müssen nicht denken, dass Sie eine … eine Gesunkene vor sich haben!«, unterbrach sie sich, ihre Tränen abwischend. »Joe ist erst seit einem Vierteljahr so, seit ihn sein früherer Freund wieder besucht hat …– ich dachte es mir gleich, dass es mein Unglück sein würde, als ich ihn das erste Mal sah, mit seiner gräulichen Hakennase … aber Joe ist wie vernarrt in ihn … er wurde liederlich, vernachlässigte mich … ich lag krank und konnte nichts verdienen … so kam es eben«, setzte sie wie entschuldigend hinzu. »Ich habe auch meinen Stolz und wäre meinem Mann sicherlich nicht nachgelaufen. Aber was will man machen, wenn man seit drei Tagen nichts ordentliches mehr gegessen hat – Hunger tut weh!«
Der Detektiv hatte sie gelassen aussprechen lassen, obwohl ihre Worte auf ihn wirkten, als sei der Blitz vor ihm eingeschlagen; indessen, er ließ sich nichts von dem ungeheuren Erstaunen anmerken, das ihre Mitteilung in ihm wachgerufen hatte, ihr Mann sei durch einen Kerl mit einer gräulichen Hakennase auf die schiefe Bahn gelockt worden. Kurz entschlossen fasste er nun die Frau beim Arm.
»Sie brauchen sich vor mir nicht zu fürchten«, sagte er gutmütig. »Ich bin zwar ein armer Teufel, doch an meinen paar Dollar klebt nichts Unrechtes – nein, Miss – und so viel, um einem armen Mitmenschen – noch dazu einer Lady ein bisschen Essen anbieten zu können, reicht es noch immer – und Sie haben es nötig. Sie reden ja schon irre, sprechen von einem Kerl mit einer gräulichen Hakennase, während der Patron, mit dem ich es vorhin zu tun bekam, die schönste gerade Nase trägt, die man sich nur denken kann!«
Zögernd hatte die Frau begonnen, neben ihm einherzuschreiten.
»Der Strolch!«, rief sie nun verächtlich. »Schade, dass Sie ihn nicht bei Tage gesehen haben – er muss sich ja die Nase schminken, weil sie mit Schnittwunden bedeckt ist!«
»Schnittwunden?«, fragte Nick Carter in ehrlichem Erstaunen.
»Nun ja, von der Operation her – hier in der Madison Street wohnt doch so ein großes Tier von einem Arzt, der krumme Nasen gerade macht.«
»Ach – und da meinen Sie, der Mann habe sich einer Operation unterzogen und seine Nase verkürzen lassen?«, fragte der Detektiv, dem es nicht anders war, als zöge man ihm langsam den Boden unter den Füßen fort. »So was kostet doch Geld.«
»Der hat es!«, stieß die Frau scharf hervor. »Aber fragen Sie ihn nur nicht, woher. Darum bin ich auch so unglücklich, weil mein Mann sich mit ihm abgibt. Gut war Joe nie, aber auch kein wirklich schlechter Mensch, und er hat mich nie hungern lassen.«
Sie waren inzwischen in eines jener Tag und Nacht geöffneten billigen Speisehäuser getreten, wo man jederzeit eine Mahlzeit vorgesetzt erhalten kann. Nick hatte eine Bestellung gemacht, und es jammerte ihn förmlich, mit ansehen zu müssen, wie die arme Frau das schauerliche Gebräu, welches man ihnen als Kaffee vorzusetzen wagte und das er kaum mit den Lippen berühren mochte, gierig hinunterschlürfte; ebenso die buttergestrichenen Brötchen und die wenig appetitlich aussehenden Rühreier.
Doch bald musste er einsehen, dass sie ihm für seine Menschenfreundlichkeit zwar von Herzen dankte, doch auf ihrer Hut zu sein schien und nicht zum Beantworten irgendeiner ihr verfänglich erscheinenden Frage zu bewegen war.
»Sie müssen mich nichts fragen – Joe ist mein Mann!«, sagte sie mit flehend auf ihn gerichteten Augen. »Selbst wenn ich Schlechtes von ihm wüsste, sagte ich es nicht – und was kann Sie es kümmern. Ich danke Ihnen herzlich, das Essen hat mir gut getan – doch nun will ich nach Hause gehen!«
»Ich will Sie nicht daran hindern«, entgegnete der Detektiv, der sich natürlich nicht anmerken ließ, wie viele wertvolle Informationen er ihr bereits in Wirklichkeit verdankte, »doch ich denke, es ist besser, ich begleite Sie zu Ihrem Haus. Ihr Mann könnte Ihnen begegnen und …«
»Mein Mann?«, rief sie bitter. »Nein, der behelligt mich nicht – nein, nein, lassen Sie mich allein gehen, ich finde schon den Weg. Gott lohne Ihnen Ihre gute Tat, und möchten Sie nie derartigen Hunger empfinden, wie ich ihn leiden musste!«
Damit ließ sie ihn stehen und ging schleunigst ihres Weges.
»Arme Frau, du brauchst mehr Hilfe denn je«, schoss es dem Detektiv mitleidig durch den Sinn, während er sich anschickte, ihr unbemerkt zu folgen. Das fiel ihm leicht genug, denn die flüchtigen Fußes Dahinschreitende wendete nicht ein einziges Mal den Kopf. Zuletzt huschte sie in eines jener schmutzigen Tenementhäuser, in welchen die Armut wohnt.
Nick Carter trat vorsichtig in den noch offen stehenden Hausgang. In diesem war alles dunkel und leer; nur von den oberen Treppenstufen her klang noch flüchtig der leichte Schritt der unglücklichen Frau. Dann hörte der Detektiv ganz oben im Haus eine Tür gehen, ein Riegel wurde vorgeschoben – und hierauf herrschte vollständige Stille.
Schnell machte sich Nick in der Dunkelheit eine neue Verkleidung zurecht, denn natürlich wollte er von Haken-Max nicht erkannt werden, sollte es ihm gelingen, diesen in derselben Nacht nochmals aufzutreiben.
Eine halbe Stunde später befand sich der Meisterdetektiv wieder im allerdunkelsten Chicago, wo das Verbrechen sich mit unverhülltem Gesicht dreist auf die offene Straße wagt und wo es selbst am hellen Tag für einen anständigen Menschen gefährlich ist, sich ohne Begleitung sehen zu lassen. In den niedrigsten Kneipen spürte Nick Carter dem Mann nach, von dem er nun mit großer Bestimmtheit annahm, dass er an dem Bankraub beteiligt gewesen war.
Nick Carter konnte nicht anders, so gefährlich dieser Haken-Max auch sein mochte und so begierig der große Detektiv auch war, ihn unschädlich zu machen, so vermochte er dessen Verschlagenheit, dessen großer Energie doch nur Bewunderung zu zollen. Dieser Verbrecher besaß einen Charakter, so rücksichtslos und mutig wie selten einer. Er kannte keine Hindernisse, galt es, einen seiner Anschläge auszuführen. So hatte er auch nun sich einer schmerzhaften Operation unterworfen, nur um seine auffällige Nase zu beseitigen.
Es war inzwischen sehr früh geworden. Die meisten der anrüchigen Kneipen hatten schon ihre Pforten geschlossen, und nur in den verhältnismäßig wenigen Lokalen, welche unausgesetzt oder ununterbrochen geöffnet waren, herrschte noch Leben.
Als Nick Carter in eine Straße nahe der Wasserfront einbog, wo sich fast in jedem Haus eine Verbrecherkneipe befand, gewahrte er einen Mann, welcher verstohlen im Bereich einer erleuchteten Fensterscheibe auftauchte und dann wieder in der Dunkelheit verschwand. Auf den ersten Blick hatte der Detektiv in ihm seinen Gehilfen Chick erkannt, welcher eine seiner Lieblingsverkleidungen angelegt hatte, eine Maske, in welcher ihn die New Yorker schweren Jungen für ihresgleichen hielten.
»Well, da kam ich in Chicks Jagdgründe – es kommt mir ganz so vor, als sei er auf einer guten Fährte!«, brummte der Detektiv vor sich hin.
Er war gerade im Begriff, einige Treppenstufen, die nach einer verschlossenen Souterraintür hinunterführten, hinabzueilen, um außer Sichtweite zu gelangen, als er einen schnell wieder verstummenden Lärm, wie von einer Schlägerei herrührend, laut werden hörte. Dann klang es, als ob ein wuchtiger Streich geführt würde. Der Detektiv begriff alsbald, um was es sich handelte – ein Sandsack oder ein in langem Strumpf steckendes schweres Eisenstück war mit voller Wucht gegen einen Menschenschädel geschleudert worden.
Im nächsten Moment taumelte ein Mann aus dem tiefen Schatten, in welchem in der Sekunde vorher Chick verschwunden war, und brach hart am Rinnstein lautlos zusammen.
Ein fürchterliches Entsetzen erfüllte den Meisterdetektiv, denn in dem Niedergebrochenen hatte er augenblicklich Chick in seiner Verkleidung erkannt.
»Die Schurken!«, stöhnte er auf. »Haben sie ihn getötet?«
So rasch er konnte, eilte er voran. Er vernahm flüchtige Fußtritte, doch konnte er nichts Genaues erkennen, ehe er den regungslos ausgestreckt liegenden Körper erreicht hatte. Dann gewahrte er zwei Männer, die sich im Dunkel eines Torwegs zu verbergen versuchten, doch wer sie waren und ob sie mit der Untat etwas zu schaffen hatten, vermochte der Detektiv nicht zu unterscheiden.
Das Opfer lag mit dem Gesicht nach unten, und mit umflortem Blick nahm der Meisterdetektiv wahr, dass der Schädel des Unglücklichen zerschmettert worden war.
Chick war tot!
Wie im Traum bemerkte Nick Carter, wie von allen Seiten plötzlich Menschengestalten auftauchten und sich voller Neugierde um ihn und den Toten zu sammeln begannen. Doch der Detektiv blickte nicht auf, sondern starrte nach wie vor auf das regungslose Angesicht, welches mit einer dicken Schmutz- und Blutkruste überzogen und vollständig unkenntlich war.
Wie aus weiter Ferne hörte er alsdann das dumpfe Gemurmel der immer zahlreicher Herankommenden, und rein mechanisch unterschied er Worte und Sätze.
»Wer ist es?«, hörte er einen fragen.
»Pst!«, entgegnete ein anderer. »Es ist Nick Carter!«
»Was, der berühmte Detektiv – so hat ihn schließlich doch sein Schicksal ereilt!«
»Ja, er hat mehr gewagt als irgendein anderer Mensch auf der Welt – doch nun haben sie ihn wie eine Katze totgeschlagen!«
»Großartig, dann brauchen wir uns nicht länger vor ihm zu fürchten!«
»Nein, diesmal ist er besorgt und aufgehoben!«
»Wer ist der andere Kerl, der neben ihm kniet?«
»Pst! Still! Es ist Nick Carters Mörder!«