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Adventskalender 2024 – 13. Türchen

Die weiße Zwiebel

Ein reicher Vater, Herr vieler Güter, war am Sterben. In der letzten Stunde rief er seinen einzigen Sohn, den er über alles geliebt hatte, und sprach mit fester Stimme: »Mein teurer Sohn, mit mir geht es zu Ende. Alles, was ich besessen habe, gehört jetzt dir. Genieße es in Frieden. Ich warne dich: Hüte dich vor der weißen Zwiebel.«

So starb er.

Der Jüngling hatte viele Freunde und wanderte oft mit ihnen durch die Straßen. Auf diesem Gang erblickte er eines Tages einen Bauern, der einen mit Zwiebeln beladenen Esel vor sich hertrieb. Kaum hatte er die Zwiebeln gesehen, dachte er an die Warnung seines Vaters und rannte ohne zu zögern davon. Die Freunde blieben verwundert zurück und wussten nicht, wie sie sich die Sache deuten sollten. Das Gleiche passierte noch einmal mit anderen Gefährten. Auch sie wussten nicht, was das zu bedeuten hatte, und gingen zu dem Jüngling, um ihn zu fragen, weil sie sich von ihm beleidigt fühlten. Er entschuldigte sich und erklärte ihnen, dass er sich vor der weißen Zwiebel hüten müsse, wie sein Vater es ihm geraten habe.

»So ist es besser«, sagte er bestimmt, »ich laufe davon, wenn ich weiße Zwiebeln sehe.«

Die Freunde konnten sich vor Lachen kaum halten und sagten: »Du bist ein Narr!« Denn eins kann ich euch sagen: Diese weiße Zwiebel ist nicht die des Gärtners, sondern eine schöne Frau. Sie lockt die Männer, die um sie werben, zum Spiel aus und setzt sich selbst als Preis des Spiels aus. Die Toren aber, die darauf eingehen, werden nur ausgenommen und dann ins Pfefferland geschickt, denn gewonnen hat noch keiner. Sie aber ist so reich geworden, dass sie nicht weiß, wohin mit allem Reichtum.«

So erzählten die Freunde, und fortan dachte der arme Knabe an nichts mehr als an die weiße Zwiebel, und er würde sie aufzusuchen.

Er hatte einen Plan, den er sich zurechtgelegt hatte, und eines Tages setzte er ihn in die Tat um. Wie er vor ihr stand, sagte er: »Schöne Frau, da bin ich endlich! Aus Liebe zu Euch habe ich nicht mehr geschlafen, und ich wäre verrückt geworden, wenn ich es nicht getan hätte.«

Sie lud ihn mit höfischen Manieren zu sich ein und sagte: »Kommt nur, esst und trinkt zuvor. Wenn Ihr mich dann im Spiel besiegt, bin ich Eure Braut. Wenn nicht, dann nicht.«

»Nun, wir werden sehen.«

Sie aßen, tranken und traten dann an den Tisch, um zu spielen. Doch wer immer verlor, war der törichte Knabe. Er verlor, bis alles dahin war. Als seine Taschen leer waren, sagte die Schöne mit fester Stimme: »So, Freund, jetzt könnt Ihr gehen.«

Er stand da und blickte ihr in die Augen. Er sah die zierliche Gestalt an, aber gehen musste er. Er eilte nach Hause, füllte sich die Tasche neu und war wieder da. Er würde sie zur Frau gewinnen, das stand fest. Wieder empfing sie ihn mit höfischen Manieren und bald saßen sie beim Spiel. Aber egal, wie viel Geld er auch herauszog, sie gewann immer, bis er ohne einen Heller dasaß. Da sagte sie zu ihm: »Nun haltet nimmermehr um meine Hand an, denn ihr habt verloren. Geht nur immer nach Hause.«

Verzweifelt ging er fort und lief aufs freie Feld hinaus. Er jammerte: »Alles ist dahin, ich soll sie nicht haben, und doch muss sie mein werden. Welch trauriges Geschick! Ach, Seele meiner Mutter, hilf mir! Jetzt verkaufe ich das letzte Gut. Wenn ich sie damit nicht gewinne, mag ich nicht mehr leben.«

Während er so bekümmert dahinschritt, hörte er eine Stimme: »Joseph, Joseph, was hast du? Hör auf zu heulen!«

Er wandte sich um und erblickte einen Mann, der ihm zurief: »Verzweifle nicht, ich kann dir helfen. Erzähl mir deine Geschichte!«

Er erzählte, und jener antwortete: »Verkaufe also das Gut und gehe aufs Neue zu der Schönen. Du wirst gewinnen. Ich sage dir, was du tun musst. Diese Frau hat einen Ring, den sie beim Spiel abzieht und unter den Tisch legt. Du musst den Ring an deinen Finger bringen. Das ist ganz einfach. Du heuchelst Schmerzen im Fuß und bückst dich. Dabei steckst du ihn an deinen Finger. Fahre dann ohne Sorge fort zu spielen, denn mit dem Ring hältst du auch das Glück. Du wirst gewinnen und gewinnen, bis die weiße Zwiebel nichts mehr besitzt.«

Der Jüngling verkaufte das Gut und ging mit dem Geld zu der Schönen. Sie war überaus holdselig zu ihm und er erfreute sich an ihren großzügigen Höflichkeiten. Nachdem sie gespeist hatten, forderte sie den Jüngling zum Spiel auf. Er verfolgte sie mit Blicken und bemerkte, wie sie in einem Moment den Ring abstreifte und unter den Tisch warf. Das Spiel begann.

Joseph ließ sie einige Male gewinnen, dann stieß er plötzlich einen Schrei aus, als ob er einen heftigen Schmerz am Fuß empfände. Er bückte sich, griff nach dem Ring und steckte ihn sich unbemerkt an den Finger. Doch dann wendete sich das Blatt: Solange sie auch spielte, sie konnte nicht mehr gewinnen. Und zuletzt hatte sie all ihre Habe verloren. Da erhob sie sich und sagte: »Ihr seid mein Mann! Niemand konnte es mit mir aufnehmen, aber ihr habt es geschafft und jetzt seid ihr mein!«

So wurden Joseph und die weiße Zwiebel ein Paar und lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende.