Der Detektiv – Band 29 – Die Menam-Brüder – Kapitel 1
Walter Kabel
Der Detektiv
Band 29
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Menam-Brüder
Eine Kampfansage
Lehmgelb und träge umgurgelten die Wasser des Menam-Flusses die Bordwände des schwimmenden Fremdenheims der Madame Sarah Pordepierre, bei der Harst und ich in Bangkok, der Hauptstadt des Königreichs Siam, Wohnung genommen hatten. Ringsum lagen andere Wohnschiffe verankert, dazu noch große Bambusflöße, auf denen sich lustige Häuschen erhoben, Kramläden und Werkstätten der einheimischen und chinesischen Kaufleute und Handwerker. Ein seltsames Bild bietet der große Strom, auf dessen beiden Ufern Bangkok sich endlos weit hinzieht mit seinen schmucken Gärten, seinen das Häuser- und Baummeer überragenden 700 buddhistischen Klöstern und Tempeln, darunter einigen Riesenpagoden von ebenso fantastischer wie gefälliger Bauart.
Die Sonne war bereits im Untergehen, näherte sich, von einem gelbroten Hof umgeben, dem Horizont. Gelbroter, feiner Dunst lagerte auch über dem breiten Strom und ließ die Szenerie der tausende und abertausende von Schiffen, Booten, Flößen und plumpen Lastfahrzeugen, teils vor Anker liegend, teils an Pfählen befestigt oder in Bewegung, so unwirklich wie ein traumhaftes Spukbild erscheinen.
Wir saßen auf dem Deck des schwimmenden Pensionats inmitten eines geschickt angelegten Gärtchens an unserem gewöhnlichen Tisch an der Backbordreling. Harst war nach den Ereignissen des Vormittags still und in sich gekehrt. Ich hatte mehrmals versucht, ein Gespräch anzuknüpfen, musste aber bald einsehen, dass Harald wohl trüben Betrachtungen über unser verspätetes Eingreifen bei dem gegen den goldenen Turm des P’hrabat-Klosters geplanten Anschlag nachhing und störte ihn daher nicht weiter.
Er hatte seinen Korbsessel so gedreht, dass er das nahe Westufer des Menam und die Riesenpagode Wat Tscheng vor sich hatte. Er rauchte langsam, mit Bewegungen wie ein Automat, seine Zigarette und starrte scheinbar interesselos geradeaus in die vielfachen Reihen anderer verankerter Fahrzeuge hinein.
Ich blätterte im Bangkok-Rekorder, der in englischer und siamesischer Sprache erscheinenden Zeitung. Es war die heutige Abendausgabe, und natürlich stand ein spaltenlanger Artikel darin über den Raub der acht Edelsteine aus dem Baldachin der Buddha-Statue des P’hrabat. Ebenso natürlich waren auch wir beide erwähnt. Zum Trost hatte ich da soeben gelesen:
Fraglos wäre man über die Diebe noch jetzt völlig im Unklaren, wenn nicht der berühmte Liebhaberdetektiv Harald Harst und sein Freund und Privatsekretär Schraut diesen Anschlag auf Grund sehr scharfsinniger Kombinationen schon im Voraus geahnt hätten. Sie haben wenigstens zwei der Diebe noch unschädlich machen können. Dass diese etwas rätselhafte, als blendend schön bekannte Miss Eugenie Malcapier entkommen ist, darf man Harald Harst nicht irgendwie verargen. Er soll ja auch unserem Polizeichef Walker gegenüber erklärt haben, er würde versuchen, der Verbrecherin die acht Edelsteine wieder abzujagen. Wenn ein Mann von der überragenden Intelligenz eines Harst derartiges verspricht, dürfte Eugenie Malcapier sehr bald die Zelle irgendeines Gefängnisses näher kennen lernen …
So stand unter anderem im Bangkok-Rekorder zu lesen. Auch Harst hatte den Artikel überflogen und dazu nur geäußert: »Der Zeitungsschreiber unterschätzt die Malcapier. Frauen, die die Verbrecherlaufbahn betreten, sind weit gefährlichere Gegner als ein Dutzend Männer. Gewiss – ich werde nicht eher ruhen, bis die Edelsteine wieder den Baldachin des P’hrabat zieren. Aber leicht wird dieses Stück Arbeit nicht sein.«
Harst murmelte nun plötzlich einige Worte vor sich hin. Ich ließ die Zeitung sinken.
»Wünschtest du etwas?«, fragte ich.
»Nein. Ich habe nur soeben beobachtet, wie ein neues Wohnboot verankert wurde. Es gab dabei Zank mit den Nachbarn, die sich durch den Neuling wohl beengt fühlten. Übrigens legte auch vorhin ein Nachen an unserer Schiffstreppe an. Es war einer der hiesigen schwimmenden Dienstmänner, wenn man so sagen will. Auf der Ruderbank vor ihm lag ein Brief, mit einem Stein beschwert. Ah, da kommt Madame Pordepierre! Sie trägt einen Brief in der Hand. Es dürfte der sein, den der Dienstmann brachte.«
Die kleine lebhafte Französin, die Harst etwa so behandelte, als ob er der König von Siam in eigener Person wäre, flötete schon von Weitem: »Ein Schreiben für Sie, Herr Harst, … unter Eilt sehr! Da … bitte. Wann wünschen Sie zu Abend zu speisen? Ich habe da einen Reispudding für Sie hergestellt, dessen Rezept ich niemandem verrate – niemandem!«
Ihr Wortschwall ebbte erst ab, als Harst den Briefbogen aus dem Umschlag zog und zu lesen begann. Sie flüsterte mir noch zu: »Ich kann mich gar nicht darüber beruhigen, dass mein Landsmann Trimal mit zu den Dieben gehörte!« Und eilte davon.
Harsts Augenbrauen hatten sich einander genähert. Auf seiner Stirn bildeten sich die bekannten drei Falten. »Frechheit!«, sagte er nun halblaut und reichte mir den Brief. »Da – lies! Von Eugenie Malcapier – eine Kampfansage, mehr noch, ein Befehl, dass wir Siam schleunigst verlassen sollen.«
Der Brief, feinstes chinesische Büttenpapier mit gelben Flocken und eingepresstem Muster aus farbigen Seidenfäden, duftete scharf nach Patschuli. Ein seltsamer Geschmack, gerade dieses süßlich-widerliche Parfüm zu benutzen! Die Handschrift war groß, steil und schmucklos. Die Grundstriche liefen dick aus. Schon diese Schrift verriet Energie und Rücksichtslosigkeit. Der Umschlag trug die Adresse: Harald Harst, Pensionat Pordepierre, Westufer 18. Die Ufer des Menam sind nämlich zur Erleichterung der Postbestellung in Abschnitte von je 100 Meter Länge eingeteilt.
Der Inhalt lautete:
Bangkok, 5. Februar 19…
Harald Harst!
Einen Gegner mit Herr anzureden, ist eine Heuchelei. Ich lasse daher diese Anrede fort. Sie haben heute Vormittag meinen Onkel Major Trimal erschossen, haben meinen Bruder Charles der Polizei übergeben und versprochen, mir den Raub, die acht Edelsteine, wieder abzujagen. Sie werden also wohl zunächst sich die Mühe machen, Einzelheiten über meine Person und meine Vergangenheit zu ermitteln. Ich will Ihnen dies erleichtern. Charles und ich wohnten hier in Bangkok als angebliche Ehepaar Trouville möbliert in der Bahnhofstraße Nr. 16. Sie werden in unseren Zimmern jedoch nichts Wichtiges mehr finden, da wir ja entschlossen waren, heute gleich nach dem Diebstahl dies Land für immer zu verlassen. Jetzt freilich liegen die Dinge anders. Doch davon später. Charles und ich sind die einzigen Kinder des in Khorat (Stadt im inneren Siams) verstorbenen Kaufmann Malcapier. Mein Vater war früher Kapitän und Besitzer einer Brigg, die hauptsächlich Schmuggel im Großen trieb. Ich habe eine abenteuerliche Jugend auf dieser Brigg verlebt, habe wohl auch das unruhige Blut meines Vaters geerbt, dessen Lebensziel es war, unermesslich reich zu werden. Ich will dasselbe! Gold und Klugheit, im Besitz einer rücksichtslosen, energischen und leidlich hübschen Frau, eröffnen köstliche Aussichten auf die Befriedigung ehrgeiziger Wünsche. Diesen Wünschen sind Sie nun ein gefährliches Hindernis. Ich weiß, dass Sie schon einmal einen intelligenten Verbrecher nach langer Verfolgung zur Strecke gebracht haben, jenen James Palperlon. Heute, Harald Harst, stehen Sie einer anderen Gegnerin gegenüber! Unterschätzen Sie mich nicht! Ich fliehe nicht vor Ihnen; ich werde Sie vielmehr suchen, finden und – mich dann rächen! Ich hänge sehr an Charles, der jetzt im Gefängnis schmachtet. Ich werde Sie bestrafen, weil Sie unsere Pläne halb durchkreuzt haben. Wären Sie nicht dazwischen getreten, würden Onkel Trimal, Charles und ich jetzt auf einer malaiischen Prau im Golf von Siam in voller Sicherheit schwimmen. Ich verfüge hier über Hilfskräfte, von denen auch Charles nichts ahnt, der stets nur mein blindes Werkzeug war – stets! Denn dieser Streich gegen das P’hrabat-Kloster ist nur einer von vielen – vielen tadellos gelungenen! Schonung haben Sie von mir nicht zu erwarten. Immerhin würde ich bereit sein, Sie und Ihren Freund unbehelligt zu lassen, wenn Sie morgen Mittag Siam verlassen und sich verpflichten, vor Jahresfrist hierher nicht zurückzukehren. Sie sollen mir auf folgende Weise schriftlich Antwort geben: Tun Sie Ihre Antwort in eine große, verkorkte Flasche und werfen Sie diese heute genau um Mitternacht mitten in den Strom, und zwar in einer Linie mit dem Pordepierre’schen Wohnschiff. Bleibt eine Antwort aus, so nehme ich an, dass Sie es auf einen Kampf zwischen uns ankommen lassen wollen. Dann werden Sie zwei Warnungen erhalten. Genau 24 Stunden nach Empfang der zweiten stehen Sie dann mir als Gefangener gegenüber. Den Menam-Krokodilen wird der deutsche Detektiv hoffentlich schmecken!
Eugenie Malcapier.
Ich legte den Brief auf den Tisch.
»Na?«, meinte Harst. »Was hältst du nun von dieser Eugenie?«
»In der Tat – eine Frechheit, diese Zumutung, dass wir Siam verlassen sollen!«, sagte ich etwas bedrückt. Denn ich ahnte schon, welch unangenehm-aufregende Tage nun beginnen würden.
»Frechheit – allerdings! Aber der Brief ist überaus charakteristisch für diese Eugenie. Sie stammt aus einer Abenteurerfamilie. Mithin liegt ihr die Hinneigung zum Verbrechen im Blute. Sie verfolgt irgendwelche hochfliegenden Pläne. Sie ist wie die meisten Frauen etwas theatralisch, überschätzt sich, besitzt Fantasie und liebt fantastische Schachzüge. Wozu zum Beispiel diese Flaschen-Antwort?! Wozu weiter diese beiden Warnungen?! Der ganze Brief soll eigenartig sein, soll mir imponieren. Na – Eugenie Malcapier irrt sich. Mir imponieren nur Taten.«
»Und wirst du ihr antworten, Harald?«, fragte ich gespannt.
»Natürlich. Aber anders, als sie hofft. Denn sie hofft fraglos, mich eingeschüchtert zu haben! Wie wenig kennt sie mich! Ich werde ihr schreiben, dass ich meinerseits bereit bin, sie nicht weiter zu verfolgen, wenn sie die acht Edelsteine sofort ausliefert. Übrigens, mein lieber Alter, wir werden jetzt sofort zur Bahnhofstraße Nr. 16 aufbrechen. Ich möchte mir doch die Räume mal ansehen, die die Geschwister bewohnt haben. Machen wir uns fertig.«
Gleich darauf ruderte Harst eins der kleinen Boote, die an der Schiffstreppe für die Gäste stets bereitlagen, nach der Anlegebrücke des Westufers. Zwei Rikschas brachten uns dann in flottem Trab nach dem neuen Hause in der Nähe des Bahnhofs, wo Charles und Eugenie Malcapier bei der Witwe eines englischen Schiffskapitäns zwei Zimmer innegehabt hatten.
Frau Stanton empfing uns sehr liebenswürdig, schloss uns die beiden Räume in der zweiten Etage auf und kehrte dann wieder in den ersten Stock zurück. Sie unterhielt ein Privathotel zusammen mit ihren beiden Töchtern.
Die Zimmer waren recht hübsch möbliert. Alles war peinlich sauber. Frau Stanton hatte uns noch mitgeteilt, dass das angebliche Ehepaar Trouville seine Koffer schon gestern Abend weggeschickt und die Rechnung beglichen habe.
»Sie werden hier nichts mehr finden, was diesen Verbrechern gehörte!«, hatte sie hinzugefügt.
Harst schloss die Tür des Wohnsalons, die nach dem Flur führte, nun ab, nachdem wir uns in beiden Räumen zunächst flüchtig umgeschaut hatten.
»So, nun sind wir ungestört,« meinte er. »Frau Stanton hat hier bereits aufgeräumt. Trotzdem entdeckt man vielleicht etwas, wenn man nur zu suchen versteht. Und wir verstehen es ja, mein Alter.«
Er trat an den Diplomatenschreibtisch vor dem rechten Fenster. Da stand auch ein Abreißkalender auf einem Marmorsockel. Harst ließ die Blätter, deren oberste Schicht er mit dem Daumen angehoben hatte, langsam zurückgleiten.
Ich hatte mich neben ihn gestellt. Plötzlich schnellte sein Kopf nach der zweiten Tür herum, die ins Schlafzimmer führte. Auch ich wandte mich um. Wir hatten die elektrische Deckenbeleuchtung eingeschaltet, sodass es im Zimmer blendend hell war. Ich konnte nichts Verdächtiges wahrnehmen und fragte daher: »Was gibt es denn, Harald?«
»Siehst du nichts?«, meinte er ganz leise.
»Nein – nichts!«
»Und doch ist etwas verändert worden, als wir mit dem Rücken nach jener Tür hin standen«, flüsterte er, um sofort in gewöhnlichem Tone hinzuzufügen:
»Ich glaube, wir hätten uns den Gang hierher sparen können.«
Er hatte sich wieder umgedreht, hielt jetzt den Abreißkalender dicht an den Leib und löste den eigentlichen Kalenderblock von dem Sockel, schob ihn in die Tasche und stellte den Sockel wieder hin.
»Suchen wir weiter,« sagte er. »Du kannst hier die Schubladen des Schreibtisches vornehmen. Die Schlüssel stecken ja.«
Ich tat es. Er aber trat rechts an die Wand, wo ein Zeitungshalter aus Draht hing mit Fächern für jeden Wochentag. Im untersten Fach steckte ein dickes Bündel Zeitungen. Harst nahm es heraus und legte es auf die Schreibtischplatte, begann darin zu blättern, faltete einige Nummern – es waren sämtlich Exemplare des Bangkok-Rekorder auseinander und packte nachher das Bündel wieder zusammen.
Ich fand nichts in dem Schreibtisch, nicht mal einen Fetzen Papier. Genauso ergebnislos blieb das Suchen in den anderen Möbelstücken.
»Na – dann ins Schlafzimmer!«, meinte ich etwas missmutig, denn der Hunger meldete sich immer stärker bei mir.
Harst nickte. »Ja – ins Schlafzimmer!« Das sagte er ganz laut. Aber wie ein Hauch kam der Nachsatz: »Ich werde das Licht hier jetzt ausschalten. Nimm die Pistole zur Hand!«
Ich schaute ihn überrascht an. Da erlosch die Beleuchtung jedoch schon, und ich sah Harst in dem nun herrschenden Halbdunkel der Schlafzimmertür zuhuschen.
Er öffnete sie mit einem Ruck, langte sofort rechts nach dem Lichtschalter. In der Mitte der Decke flammte die mattgelbe Ampel auf.
Ich trat dicht hinter Harst ein. Er hielt nun in der Linken seine Taschenlampe, in der Rechten den Mehrlader, spähte misstrauisch umher, ließ den Lichtkegel der Taschenlampe hierhin und dorthin gleiten, ging schnell zu der zweiten Tür, die an den Flur mündete, drückte den Griff herab, rüttelte daran, murmelte etwas vor sich hin und bückte sich tief, um unter die Betten zu leuchten.
Ich war ihm gefolgt, nachdem ich die Verbindungstür angelehnt hatte.
Harst stand mit gerunzelter Stirn da und schaute wieder hierhin und dorthin.
»Weshalb dieses Misstrauen, Harald?«, meinte ich. »Wir sind hier doch …«
»… sicher … nicht wahr?«, beendete er flüsternd meinen Satz. »Du irrst! Als wir am Schreibtisch den Kalender besichtigten, wurde die Verbindungstür lautlos ins Schloss gedrückt – so vorsichtig, dass selbst ich zunächst nicht wusste, welcher Art das schwache Geräusch gewesen war, das ich gehört hatte. Dann besann ich mich, dass die Tür eine Handbreit offen stand, als wir zuerst die Räume durchschritten hatten. Es hat also jemand diese Tür absichtlich zugemacht. Jemand – wer wohl?!«
»Ja – wer?!«, wiederholte ich mechanisch und schaute in jeden Winkel.
Harst trat an den großen Kleiderschrank heran. Nur in diesem konnte sich ein Mensch verbergen.
Aber der Schrank war verschlossen. Der Schlüssel steckte. Und das Innere war leer.
Die Falten auf Harsts Stirn waren noch tiefer geworden.
»Hier ist eine Teufelei im Gange«, flüsterte er hastig. »Vielleicht will uns Eugenie Malcapier schon jetzt eine Warnung zukommen lassen.«
Dann schritt er auf eine altertümliche, geschweifte Kommode zu, die links neben den Betten an der Wand gegenüber der Verbindungstür stand.
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