Nick Carter – Band 15 – Ein verbrecherischer Arzt – Kapitel 3
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein verbrecherischer Arzt
Ein Detektivroman
Auf der Fährte
Vier volle Tage wendeten Nick Carter und seine Gehilfen daran, um alles ihnen interessant Erscheinende über den jungen Collins und dessen gesamte Umgebung zu ermitteln. Um dem Detektiv Gelegenheit zu geben, mit dem Bekanntenkreis, in dem sein Sohn fast ausschließlich verkehrte, vertrauter zu werden, hatte Collins sen. beschlossen, eine kleine Abendgesellschaft zu veranstalten, zu welcher natürlich auch Nick Carter herangezogen wurde. Diese fand am Abend des vierten Tages in dem Haus des Millionärs statt, das nicht weniger geschmackvoll und luxuriös als die Ramsay’sche Residenz eingerichtet war.
Schon zuvor hatte der Detektiv eine Zusammenkunft mit dem jüngeren Collins gehabt und bei dieser Gelegenheit mit dem besten Willen bei dem scharf von ihm beobachteten Mann auch nicht das Geringste entdecken können, was ihn von anderen normalen Menschen unterschieden hätte. Er schien vielmehr körperlich und geistig nicht nur völlig intakt, sondern ein vielseitig gebildeter Mann und zugleich ein scharfer Denker zu sein.
An dem der Abendgesellschaft vorhergehenden Nachmittag traf Nick Carter – anscheinend zufällig, wie wenigstens der jüngere Collins vermuten musste – diesen an der 4th Avenue, unweit der 22nd Street. Collins begrüßte ihn mit freundschaftlichem Händedruck, und unter angeregtem Geplauder schritten beide Männer nebeneinander dahin. Interessiert folgte der Detektiv seinem Begleiter, als dieser in die 22nd Street einbog, um schließlich inmitten des Blockes vor einem stattlichen Braunsteinhaus stehenzubleiben, zu dessen Parlorfloor die übliche Freitreppe hinaufführte. Ein Blick auf ein neben der Haustür angebrachtes Schild belehrte den Detektiv darüber, dass im Haus ein Arzt wohnte, der sich J. Fred Staples, M.D. (Medical Doctor) nannte.
»Wie mir scheint, wollen Sie einen Arzt aufsuchen«, meinte Nick Carter leichthin, als er wahrnahm, wie der junge Collins unschlüssig den einen Fuß auf die unterste Treppenstufe setzte. »Sie sehen aber wirklich nicht wie ein Kranker aus.«
»Mein Freund Staples meint, dass ich kränker bin, als ich mir selbst träumen lasse«, entgegnete Collins junior, während ein Schatten sein bis dahin heiteres Gesicht umdüsterte. »Man sieht es mir nicht an, doch ich bin leider mit einer so seltsamen wie traurigen Krankheit behaftet. Von Zeit zu Zeit befällt mich ein mir selbst unerklärlicher Zustand, in welchem ich einer wandelnden Leiche gleiche, denn Bewusstsein, Erinnerungsvermögen, kurz alles, was dem denkenden Menschen eigen ist, verlischt, und ich bin wie ein unbeschriebenes Blatt. In solchen Zeiten habe ich keine Ahnung davon, was ich tue, und ebenso wenig kann ich mich, ist der Anfall vorüber, an diesen und seine Begleitumstände zurückerinnern. Allem Anschein nach vollbringe ich in solchem Zustand nichts. Nach meinem Dafürhalten gehen die Anfälle auch schnell wieder vorüber, ohne irgendwelchen bleibenden Nachteil zurückzulassen. Es sind nur wiederholte Lücken in meinem Leben, über welche ich mir keine Rechenschaft zu geben weiß!«
»Das ist allerdings ein höchst merkwürdiger Fall«, räumte der Detektiv ein. »Haben Sie Vertrauen zu Ihrem Arzt?«
»Das Äußerste!«, versicherte Collins. »Dr. Staples ist ein sehr geschickter Mann und ein hervorragender Spezialist für Gehirn- und Nervenkrankheiten.«
»Machen Sie denn unter seiner Behandlung Fortschritte?«, erkundigte Nick sich interessiert weiter.
»Nein, das ist ja gerade das Traurige dabei, die Anfälle wiederholen sich im Gegenteil häufiger und scheinen immer länger anzudauern. Den letzten Anfall hatte ich während eines Privatballes im Haus meines Schwiegervaters, Mr. Ramsay. Ich muss Ihnen offen gestehen, der ganze Abend ist aus meinem Erinnerungsvermögen gestrichen. Wüsste ich nicht, dass ich dort gewesen sein muss, so möchte ich es beinahe bestreiten, denn von den Vorgängen in jenem Haus habe ich keinerlei Ahnung. Wie mir meine Frau sagte, soll ich eifrig getanzt haben, doch man könnte mich totschlagen, und ich wüsste nicht anzugeben, mit wem ich getanzt oder mich auch nur unterhalten haben soll!«, gestand der Kranke unter einem gepressten Seufzer.
»Das ist allerdings sehr beunruhigend, Mr. Collins«, warf der Detektiv voll herzlicher Anteilnahme ein. »An Ihrer Stelle würde ich doch noch einen anderen berühmten Spezialisten befragen.«
»Gewiss, daran habe ich auch schon häufig gedacht«, fuhr Collins fort, vertraulich die Hand auf den Arm des Detektivs legend, »doch ein solcher Schritt würde meinen Freund Staples schwer und unverdient kränken. Er würde es als offen in seine Fähigkeiten gesetztes Misstrauen ansehen – nein, nein, er ist meinem Herzen viel zu teuer, als dass ich ihn kränken möchte!«
Als Nick Carters Blick zufällig das Haus streifte, vor welchem sie standen, nahm er hinter einem Parlorfenster eine männliche Gestalt wahr, deren Gesichtsausdruck ein missbilligender war, als nähme der Betreffende Anstoß an der von dem Detektiv mit Mr. Collins gepflogenen Unterhaltung. In diesem Moment schaute auch der Letztere nach dem Fenster, und der Detektiv glaubte zu bemerken, wie der Mann dahinter seinem Begleiter in seltsamer Weise zunickte, als fordere er diesen dadurch auf, unverzüglich zu ihm ins Haus zu kommen.
Wirklich ließ Collins jun. den Detektiv plötzlich stehen – ja, er verabsäumte sogar, sich von diesem zu verabschieden, und war gleich darauf im Haus verschwunden.
Nachdenklich ging der Detektiv seiner Wege, und nach kurzem Besinnen beschloss er, einen mit ihm befreundeten Arzt aufzusuchen, welcher als die erste Autorität auf dem Gebiet der Nervenkunde und Geisteskrankheiten in den Vereinigten Staaten galt.
Er fand den Arzt zu Hause, und ohne den Namen des Patienten zu nennen, unterbreitete er ihm den ganzen Krankheitsfall, welchem Collins jun. zum Opfer gefallen war.
»Hm, in unserer nervösen Zeit sind derartige Fälle durchaus nicht selten«, versetzte Dr. Anthony, der aufmerksam zugehört hatte, schließlich. Doch auch er schaute betroffen drein, als ihm Nick nun weiter eröffnete, dass der Patient während seiner Anfälle zum unfreiwilligen Verbrecher wurde und in raffiniertester Weise Diebstähle beging – im schreienden Widerspruch zu seiner eigentlichen hochsinnigen und geraden Charakterveranlagung.
»Das ist allerdings ein mir in der Praxis noch nicht untergekommener Fall, und ich möchte behaupten, dass ein solcher überhaupt nicht existieren kann«, bemerkte der berühmte Fachgelehrte kopfschüttelnd. »Natürlich kann man sich ein abschließendes Urteil nur erlauben, nachdem man den Patienten gesehen, untersucht und beobachtet hat. Für jetzt möchte ich nur sagen, dass solche Gehirnkrankheiten meiner Erfahrung nach niemals in Begleitung von derart perversen Erscheinungen wie verbrecherischen Neigungen und sonstigen Manien auftreten.«
Noch betroffener als zuvor verabschiedete sich der Detektiv von dem berühmten Arzt.
Gerade als er das Haus verlassen wollte, erblickte er auf der anderen Straßenseite einen Mann, dessen Gesicht ihm merkwürdig bekannt vorkam. Doch da durchzuckte ihn auch schon die Erkenntnis, dass es das nämliche Gesicht war, welches er vor Kurzem erst hinter einer der Fensterscheiben im Staples’schen Haus hatte auftauchen sehen.
Anscheinend nahm er von dem auf der Straße Harrenden keinerlei Notiz, sondern strebte schnell voran; in Wirklichkeit aber überzeugte er sich, zu seiner innerlichen Befriedigung, schon nach wenigen Schritten davon, dass der andere ihn zu verfolgen versuchte. Diese Erkenntnis genügte dem Detektiv, um sofort den Spieß umzudrehen.
Kaum hatte er die nächste Straßenecke erreicht, so bog er auch schon im beschleunigten Schritt um diese und verschwand in der Sekunde darauf in einem Hausflur. Dort machte er sich in aller Eile etwas zurecht, legte einen falschen Bart an und setzte sich eine Perücke auf, formte durch etwas Nasenwachs seine gerade Nase zu einem großartigen Zinken, fuhr sich mit einer Schminkquaste hurtig einige Male über das Gesicht, vertauschte seinen schwarzen, weichen Hut mit einem braunen, und als er in der Minute darauf wieder in ganz anderer Haltung und Gangart aus dem Dunkel des Hauseinganges auf die Straße trat, da sah er einem polnischen Juden so schreiend ähnlich, dass jeder Straßenpassant bei seinem Anblick unwillkürlich lächeln musste.
Inzwischen hatte sein bisheriger Verfolger längst die Fährte verloren und wurde nunmehr zum gehetzten Wild des großen Detektivs.
In der 2nd Avenue bestieg der Unbekannte eine nach der unteren Stadt fahrende Straßencar, und der angebliche Mauschel aus dem Polenreich setzte sich unverfroren neben den rotbärtigen, fein gekleideten Mann, der naserümpfend zunächst etwas abrückte und sich dann unwillkürlich gleichfalls kratzte – eine Lieblingsbeschäftigung des vermeintlichen Hebräers, welcher dieser sich mit großem Eifer widmete.
An der Ecke von Grand Street stieg der Mann im Zylinder wieder aus, und der Sohn Israels tat dies ebenfalls. Unmerklich folgte er dem Rotbart noch durch verschiedene Straßen, bis derselbe endlich in einem kleinen Apotheke verschwand und sich dort häuslich einzurichten schien, wie der polnische Jude zu seinem Leidwesen wahrnehmen musste.
Doch nach einer halben Stunde verließ der Beobachtete den Apotheke wieder und fuhr direkt zum Wohnhaus des Dr. Staples in der 23rd Street.
Der Detektiv begab sich nunmehr nach Hause, um sich für die Abendgesellschaft im Collins’schen Hause umzukleiden. Es war schon dunkel, als er sich dem altmodischen Wohngebäude des Millionärs an der 24rd Street, zwischen Madison und 4th Avenue, näherte. Beim Ersteigen der steinernen Freitreppe erblickte er auf der anderen Straßenseite einen Mann, der sich schon zuvor, als er die Madison Street gekreuzt hatte, an seine Sohlen geheftet hatte. Wohl war es auf der anderen Seite dunkel, doch Nick Carter hatte die Empfindung, als handle es sich um denselben Mann, der ihm schon am Nachmittag zu folgen versucht hatte.
Die Handlungsweise desselben erschien ihm seltsam, und wäre er nicht zum Souper geladen gewesen, so würde er unter allen Umständen die Identität des Unbekannten festzustellen versucht haben. So aber blieb ihm nichts übrig, als die Klingel zu ziehen und einzutreten, als ihm in der Sekunde darauf geöffnet wurde.
Die Geladenen hatten sich bereits sämtlich eingefunden, und man hatte nur noch auf Nicks Erscheinen gewartet, um sich zur Tafel zu begeben. Er wurde allseitig herzlich begrüßt, und manch bewundernder Blick aus schönen Augen traf ihn, zumal der Hausherr ihn seinen Gästen in der liebenswürdigsten Weise als den weltberühmten Detektiv vorstellte.
Zu seiner Überraschung fand Nick heraus, dass er zum Tischnachbar jener blonden Schönheit gemacht worden war, welche sich auch unter den Gästen im Ramsay’schen Haus befunden und Patsy jenen merkwürdigen Wink gegeben hatte. Er wusste, dass die sich sehr liebenswürdig gebende junge Dame Netta Thorne hieß und die Tochter eines sehr begüterten Großkaufmanns war.
Kaum hatte man den ersten Gang beendet, als Miss Thorne sich auch schon ihrem Nachbarn zuwendete und ihm hastig zuflüsterte: »Mr. Collins jun. hat wieder eine seiner unheimlichen Anwandlungen.«
Betroffen wandte sich der Detektiv ihr zu und nahm wahr, dass sie ihn mit einem merkwürdig spöttischen Ausdruck ansah.
»Ist Mr. Collins jun. denn launenhaften Anwandlungen unterworfen?«, fragte er kalt zurück.
»Als ob Sie das nicht wüssten, Mr. Carter – als ob Sie ferner nicht wüssten, dass diese Gesellschaft hier nur zu dem Behuf veranstaltet wurde, um Ihnen Gelegenheit zu geben, unmerklich Mr. Collins jun. beobachten zu können!«, sagte Netta Thorne spöttisch.
»Ihre Worte erstaunen mich«, erwiderte der Detektiv, welcher eben mit kundiger Hand eine köstliche Forelle, die sich vorschriftsmäßig in den eigenen Schwanz biss, zerlegte und mit heißer Kräuterbutter beträufelte. »Der Fisch ist ausgezeichnet, er zergeht auf der Zunge – ich kann Ihnen einen Versuch bestens anempfehlen, Miss Thorne.«
»Danke, ich nehme auch einen Fisch, denn wenn man sich von einem solch berühmten Detektiv beschützt weiß, so fühlt man sich sicher vor einer gewissen Sorte von Dieben und kann seinem Appetit ruhig die Zügel schießen lassen«, bemerkte die junge Dame anzüglich. »Ich habe schon aus Vorsicht nicht meinen besten Schmuck angelegt – dennoch konnte ich meine Perlenkette heute Abend kurz vor Ihrer Ankunft kaum retten – sie war durch den bewussten ehrlichen Finder stark gefährdet!«
Dem Detektiv wurde ohne Weiteres klar, dass seine boshafte Tischgefährtin mehr von dem düsteren Geheimnis in der Collins’schen Familie wusste, als diese ahnte und ihr lieb sein konnte.
Sein Erstaunen wuchs noch, als die junge Dame nun ihr mit Moselwein gefülltes Glas gegen ihn hob und hinzusetzte: »Trinken wir darauf, Mr. Carter, dass Ihre Anwesenheit heute Abend eine weitere Entgleisung verhindert!«
Nick Carter gab keine Antwort, sondern tat ihr nur höflich Bescheid. Dann aber, als er ihr die Schüssel, mit brasilianischem Reis garniert, sowie delikat auf dem Rost gebratene Hammelrippchen anbot, meinte er leichthin: »Sie wissen vermutlich bereits, Miss Thorne, dass die Brillantbrosche, welche auf dem Ramsay’schen Fest verloren wurde, sich bereits wieder im Besitz der Eigentümerin befindet?«
»Das erste Wort, das ich höre«, gestand die junge Dame überrascht und spießte sich zerstreut noch ein zweites Kotelett auf die Gabel. »Kam die Brosche so geheimnisvoll zurück, wie sie verschwand?«
»Aber durchaus nicht«, entgegnete der Detektiv, der mit Kennermiene den ihm vorgesetzten Bernkasteler Doktor schlürfte. »Die Sache ging ganz nüchtern und geschäftsmäßig zu. Der ehrliche Finder stellte durch meine Vermittlung das Schmuckstück seiner Besitzerin wieder zu.«
»Ich verstehe«, sagte Netta Thorne mit boshaftem Lächeln, »da war wieder eine der Meisterleistungen im Spiel, durch welche der berühmte Nick Carter seinen Weltruf begründet hat. Da es sich um keinen gewöhnlichen Dieb handelte, so taufte man diesen diskret in einen ehrlichen Finder um – hahaha! Ausgezeichnet gemacht, Mr. Carter!«
Das Abräumen der Teller enthob den Detektiv einer Antwort. Der folgende Gang, ein köstlicher Schinken in Burgunder, garniert mit allen möglichen seltenen Gemüsen, interessierte den Feinschmecker in Nick bedeutend mehr als das Geplauder seiner schönen Nachbarin. So kam es, dass er sich dieser erst wieder zuwendete, als mit einer getrüffelten Poularde die erste Hälfte des Soupers ihren Abschluss fand, denn von Eis à la Fürst Pückler war der Detektiv kein Freund.
»Nun, dann werden wir ja den Namen dieses Juwelenmarders bald erfahren«, bemerkte Miss Thorne plötzlich wieder, »denn wie ich das Gerechtigkeitsgefühl der Bestohlenen kenne, wird sie Strafantrag stellen.«
»Dieser Chateau Lafitte ist wirklich wunderbar – finden Sie nicht?«, fragte Nick Carter ausweichend, sein Glas gegen das Licht hebend und dann mit Wohlbehagen den Duft des Buketts einsaugend. »Solch Weinchen ließe man sich alle Tage gefallen, doch in der Großmutter Kochbuch steht, ›so man hat‹ – und mit diesem Trost dürfte sich auch die Bestohlene zufriedengeben. Sie hätte vielleicht gerne Strafanzeige erstattet, wüsste sie nur, gegen wen eigentlich – doch der Name …«
»Ach was«, unterbrach ihn Miss Thorne, augenscheinlich bitter enttäuscht, »den Namen rufen sich bereits die Spatzen von den Dächern zu!«
»Dann wollen wir mit Ihrer gütigen Erlaubnis diskreter als die Spatzen sein!«, sagte der Detektiv mit nicht misszuverstehender Betonung, indem er ihr lächelnd wieder zutrank.
Als später der glasierte Rehrücken mit gedämpften Champignons in saurer Sahnesauce sowie frischer Gurkensalat herumgereicht wurde, sagte die junge Dame spitz: »Ja, warum ist denn dann heute Abend diese Gesellschaft – wenn Diskretion Ehrensache ist, warum beauftragte man alsdann den berühmtesten Detektiv des Landes mit diesem Fall?«
»Vielleicht nur aus dem Grund, weil ich, wenn auch nicht der berühmteste, so doch sicherlich der diskreteste Detektiv bin«, gab Nick Carter lächelnd zur Antwort. »Lassen Sie sich sagen, Miss Thorne, dass es sich um eine Angelegenheit handelt, welche wie ein Rosenstrauß Dornen im Übermaß für unberufene Neugierige hat – man kann sich daran nicht nur spitze Zünglein, sondern auch zarte, weiche Hände verwunden – und das wäre doch schade um ein solch reizendes Händchen!«, setzte er mit einem Blick auf die schneeige Rechte des Mädchens hinzu, welche eben verärgert den Champagnerkelch zu den Lippen führte.
Die junge Dame sandte ihm einen zürnenden Blick und wendete sich dann geflissentlich ihrem anderen Tischnachbar zu.
Bald darauf verließen die Damen nach amerikanischer Sitte die Tafel, und es entging dem Detektiv nicht, dass Collins jun. seiner Tischnachbarin galant beim Aufstehen half und sie zur Tür geleitete. Auch die Herren blieben nicht lange mehr bei Likör und Importen zurück, sondern folgten den Damen in den anstoßenden Parlor nach.
Augenblicklich fiel es dem Detektiv auf, dass im Kreis der Ladies lebhafte Erregung herrschte, und es stellte sich alsbald heraus, dass eine von ihnen ein reich mit Brillanten besetztes Armband von hohem Wert vermisste.
»Sehr einfach«, nahm Nick Carter, auf den sich unwillkürlich alle Blicke wendeten, unbefangen das Wort, »man hat offenbar nicht genügend nachgesucht, die Lady muss das Schmuckstück unterwegs verloren haben – Mr. Collins«, wendete er sich an den jungen Mann, »bitte helfen Sie mir suchen. Ich bin gewiss, wir werden für unsere Mühe belohnt werden!«
Als er mit Collins jun. zum Ecksaal zurückkehrte, wollte Miss Thorne sich ihm anschließen; aber es gelang dem Detektiv, in eleganter und dabei durchaus zufällig erscheinender Weise der allzu neugierigen jungen Dame die Tür vor der Nase zuzumachen – ein allgemein unbemerkt bleibender Zwischenfall, welcher dem Meisterdetektiv einen wütenden Blick der blonden Schönheit eintrug. Doch Nick Carter ging mit äußerster Gelassenheit darüber hinweg und wandte sich nach seinem Begleiter um, mit dem er sich nun allein im Speisezimmer befand.
»Ja, wo sollen wir denn das Armband suchen?«, erkundigte sich Collins jun. unbefangen, den prüfenden Blick des Detektiv aushaltend. »Ich muss gestehen, ich bin bei solchen Gelegenheiten ziemlich ungeschickt.«
»Well, die Dame saß neben Ihnen auf jenem Stuhl dort – bitte, schauen Sie unter dem Stuhl nach, vielleicht liegt das Armband dort!«, forderte der Detektiv den Herrn eindringlich auf – es war ihm nicht entgangen, dass die Pupillen des jungen Mannes seltsam verändert waren und unheimlich starr und leer blickten.
Gehorsam wie ein Kind beugte sich Collins jun. abwärts. Unbemerkt von ihm griff Nick Carter im selben Moment in die Hintertasche des Frackes, welchen der sich bückende Mann trug, und in der Sekunde darauf hatte er das vermisste Schmuckstück schon in der Hand. Sofort ließ er es auch schon fallen und rief zugleich: »Ah! Dort liegt das Armband ja!«
Collins jun. blickte nach der angedeuteten Richtung, und ein freudiges Lächeln spielte um seine Lippen.
»Wirklich, hier ist es – sehen Sie, wie ungeschickt ich bin, Mr. Carter, ich hätte es wirklich nicht wahrgenommen!«
Damit hatte er auch schon mit gleichgültiger Miene das Armband vom Teppich aufgerafft und schickte sich nun schnell an, mit dem Fundstück zum Nebengemach zurückzueilen. Doch der Detektiv fasste ihn bei der Hand und hielt ihn zurück.
»Zuvor noch eine Frage, Mr. Collins«, sagte er leise und eindringlich, indem er den anderen dabei durchdringend anblickte. »Fühlen Sie manchmal die Versuchung an sich herantreten, etwas zu stehlen?«
»Zu stehlen?«, entgegnete der junge Millionär, indem er ihn völlig verblüfft anschaute. »Ist Ihnen unwohl geworden, Mr. Carter – oder machen Sie nur einen unpassenden Scherz?«
Das klang so unverfälscht echt, und die Zurückweisung war dabei doch in so verbindlicher, kavaliersmäßiger Weise gehalten, dass der Detektiv aus dem Kopfschütteln nicht herauskam. Hatte er noch einen Zweifel daran gehegt, so wusste er es nun, dass dieser Mann, augenscheinlich ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle, unter einem unnatürlichen und ihn im Bann haltenden Zwang handeln musste.
Gleich darauf hatte Collins jun. der schönen Verlustträgerin mit verbindlichen Worten ihr Kleinod wieder überreicht.
Ein allgemeines erleichtertes Aufatmen ging durch die Reihen der Anwesenden, und rasch war die frühere Ungezwungenheit wieder hergestellt. Hinter ihrem Fächer her warf Mrs. Collins dem Detektiv einen dankbaren Blick zu, der Hausherr drückte ihm bei passender Gelegenheit dankerfüllt die Hand; Miss Thorne aber rauschte an Nick Carter mit der spöttischen Bemerkung vorüber: »Ich weiß nicht, was ich mehr bewundern soll, Ihre Geschicklichkeit, Mr. Carter, oder diejenige des – ehrlichen Finders!«
Eine Viertelstunde später brach das junge Collins’sche Ehepaar auf, und auch der Detektiv, dessen längere Anwesenheit keinen Zweck mehr hatte, verabschiedete sich.
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