Nick Carter – Band 14 – Ein beraubter Dieb – Kapitel 8
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein beraubter Dieb
Ein Detektivroman
Ein Dieb bestiehlt einen anderen
Chick und Nick hatten auf ihrer Suche festgestellt, dass zwei Zugänge zu den oberen Stockwerken des ihnen verdächtig erscheinenden Hauses führten, in welchem das vierblättrige Kleeblatt verschwunden war.
Die Außentreppe vom Hof aus war von den Männern benutzt worden; außerdem aber führte noch eine Innentreppe von dem Hausgang aus, dessen Tür nach der Avenue mündete, zu den oberen Stockwerken empor.
Nick hatte herausgefunden, dass diese Haustür unter Schloss und Riegel gehalten wurde. Chick dagegen, der sich in den Saloon begeben hatte, entdeckte, dass von Letzterem aus eine Hintertür in den Hausflur mündete, von welchem aus die Innentreppe nach oben führte.
Chick hatte eine sich zufällig darbietende Gelegenheit genutzt, war in den Hausgang geschlüpft und hatte ungesehen die zu der Straße führende Tür aufgeschlossen.
Nun verabredeten die beiden Detektive ein Signal, um einander jederzeit zur Hilfe kommen zu können, und dann begab sich Nick Carter zur vom Hof aus hinaufführenden Außentreppe, während Chick gleichzeitig von der Avenue aus geräuschlos das Haus betrat.
Der berühmte Detektiv fand zu seiner äußersten Überraschung heraus, dass die überdachte Außentreppe an ihrem Fuß durch eine von innen verriegelte Tür verschlossen wurde. Doch es handelte sich um eine gewöhnliche Holztür, deren Öffnung keinerlei Schwierigkeiten bereitete. Mit einem kurzen Krach gab die Tür nach, und nachdem er einige Minuten lang gelauscht hatte, ob das Geräusch irgendwelche Aufmerksamkeit erregt hatte, strebte er schnell die Treppenstufen empor, um sich, im zweiten Stockwerk angelangt, wieder einer Tür gegenüber zu befinden. Auch diese war verschlossen, doch, wie der Detektiv nach kurzer Prüfung feststellte, zum Glück nicht von innen verriegelt. Natürlich hatte er seinen von ihm selbst hergestellten Spezialdietrich bei der Hand, und es dauerte keine Minute, das Schloss zu öffnen.
Als Nick Carter die Tür geöffnet hatte, trat er in einen kleinen Vorraum ein, der so eng war, dass es kaum möglich erschien, die Tür wieder zu schließen, solange man sich in ihm befand. Zur Rechten befand sich eine weitere Tür, welche man zuvor öffnen musste, ehe man die Außentür schließen konnte.
Der Detektiv öffnete diese Tür und schaute in ein leeres Schlafzimmer. Schnell verschloss er mit einem Dietrich die Außentür wieder, dann trat er in den Raum und lauschte, denn augenblicklich war ein von mehreren Stimmen herrührendes Geräusch zu seinen Ohren gedrungen.
In dem Zimmer, wo er sich eben aufhielt, befanden sich zwei weitere Türen; eine davon mochte zu dem Vorderzimmer führen, aus welchem die Stimmen herüberklangen, die andere dagegen konnte eine Schranktür sein. Doch als der Detektiv diese öffnete, nahm er wahr, dass sie zum Innenkorridor des zweiten Stockwerks führte. Zugleich bemerkte er auch Chick, der am oberen Treppenende lauernd stand.
»Sie befinden sich im Vorderzimmer«, flüsterte Chick nun dem Meister zu, indem er sich diesem näherte. »Im oberen Stockwerk befindet sich niemand, und ich habe den Zugang verbarrikadiert, sodass sie durch den obersten Flur nicht entweichen können.«
»Schön«, entgegnete der berühmte Detektiv. »Nun nimm hier an der Schlafzimmertür Aufstellung. Ich lasse die Tür offenstehen, und hörst du mich miauen, so dringst du gewaltsam in das Vorderzimmer ein!«
Damit nahmen die beiden ihre verabredeten Stellungen ein; der Detektiv stand gerade im Begriff, das vereinbarte Signal zu geben, als er plötzlich Bart Meyers deutlich sagen hörte: »Well, wir werden die Geschichte wohl auf solche Weise deichseln müssen!«
»Ich wüsste nicht, wie es anders geschehen könnte«, entgegnete Elwell. »Der Revers ist in einer Weise ausgestellt, dass Sie sich durch die Unterschrift nur zum Empfang der 5000 Dollar bekennen. Was die Schuldverschreibung über 50.000 Dollar anbelangt, so müssen Sie morgen zu mir kommen, und dann werden wir die Geschichte vor einem Notar fertig machen lassen, ohne dass dieser auch nur eine Ahnung davon haben soll, um was es sich eigentlich handelt. Hierin müssen Sie Mr. Seaman und mir schon Vertrauen schenken – wir sind doch keine Leute von der Straße, sondern, wenn wir etwas versprechen, so halten wir es auch – und es ist vielleicht auch nicht das letzte Geschäft, das wir miteinander machen werden, Meyers, daran müssen Sie auch denken!«
»All right«, erklärte Meyers mit lauter Stimme. »Ich habe mir die Geschichte ja anders gedacht – doch besser wenig Fleisch als gar keins. Also zählen Sie jetzt die 5000 Dollar auf den Tisch.«
»Hier sind sie schon!«, erklärte Seaman.
»Geben Sie her, damit ich sie zählen kann!«, begehrte Meyers auf.
»Nein, schauen Sie mir lieber zu, wie ich die Summe zähle. In diesem Bündel sind fünfzig Einhundertdollarscheine.«
Ein kurzes Schweigen entstand, und dann sagte Meyers wieder: »All right, geben Sie mir die Plungs!«
»Nein, Mister«, hörte man Seaman lachen. »Erst heraus mit dem Zimmet, wie Sie sich ausdrückten!«
»Das braucht keine Minute!«, beschwichtigte Meyers.
Neues Schweigen entstand. Die beiden Detektive hörten, wie Schritte im Vorderzimmer erklangen, ein Schrank oder dergleichen geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen wurde.
»Hier ist der Kasten – öffnen Sie ihn und sehen Sie nach, ob der Inhalt richtig ist!«, forderte Meyers auf.
Wieder wurde es still im Vorderzimmer. Dann aber erfolgte plötzlich ein explosives Geräusch, das sich etwa anhörte, als ob vier bissige Kettenhunde einander zu fassen bekommen hätten.
»Was ist denn das für ein Bluff?«, schrie Seaman ärgerlich dazwischen.
»Wir sind bestohlen worden – beraubt worden! Hat man je schon solch eine Gemeinheit gesehen!«, jammerte Meyers mit überschnappender Stimme. »Man muss sofort die Polizei benachrichtigen – ja so, das geht ja nicht!«, schloss er, seine Stimme zu einem Flüstern herabmindernd.
Der Gedanke, dass der gefürchtete Einbrecher selbst bestohlen worden war und sich über diese Schandtat derart entrüstete, dass er rasch zur Polizei laufen wollte, machte auf die beiden Detektive, so überrascht sie auch über die unvorhergesehenen Vorgänge im Vorderzimmer sein mochten, einen so überwältigend komischen Eindruck, dass sie nur mühsam ein Lachen unterdrücken konnten.
»Ah, das ist niederträchtig! Das ist eine schmutzige Falle, die Sie uns gelegt haben!«, schrie nun Elwell wütend. »Was gilt es, Sie wollen uns wohl jetzt der 5000 Dollar berauben?«
»Nein, so wahr ich ein anständiger Kerl zu sein glaube«, vermaß sich Meyers mit einem Ernst, welcher den Detektiven neuerliche unterdrückte Lachkrämpfe verursachte, »es ist die bittere, schreckliche Wahrheit – kann es denn überhaupt so viel Schlechtigkeit auf der Welt geben – da hat man sich im Schweiße seines Angesichts geplagt und geschunden, um ein paar Tausender zu machen, und so ein verd… Kerl wie der Nick Carter bestiehlt einen.«
»Unsinn!«, entgegnete Elwell, der wieder ruhig geworden zu sein schien. »Ist Nick Carter wirklich im Spiel, so verkriechen Sie sich lieber in das nächste Mauseloch, Meyers. Denn dann brummen Sie, noch ehe es Abend wird. Nick Carter kennt keine Furcht, und er nimmt es mit sechs Männern Ihres Schlages zugleich auf – doch ich glaube nicht, dass der Detektiv den Raub vollbracht hat.«
»Aber wer soll es denn sonst sein?«
»Zuerst lassen Sie mich einmal fragen, wann überzeugten Sie sich zuletzt davon, dass sich sämtliche Papiere verschlossen in diesem Kasten befanden?«, forschte der Anwalt.
»Ehe ich mich zu Ihnen begab – da war alles noch im Kasten, und jetzt ist nur dieses nichtsnutzige Zeitungspapier darin!«
»Das entscheidet meine Frage. Wäre Nick Carter hier gewesen, so hätte er einfach den Kasten mitgenommen und sich nicht damit begnügt, die Papiere aus ihm zu stehlen und dafür Zeitungen hineinzustoßen.«
»Selbstverständlich, das leuchtet mir auch ein!«, erklärte Seaman.
»Weiter!«, fuhr der Anwalt fort. »Besinnen Sie sich, Meyers. Weiß außer uns noch jemand darüber Bescheid, dass Kasten und Inhalt sich in Ihrem Besitz befanden?«
»Nein – doch halt! – Ja! – Das heißt, es weiß keiner, doch zwei Kerle beargwöhnen mich. Sie meinen, wir hätten die Geschichte in der 35th Street gedeichselt, und nehmen nun natürlich auch an, dass wir den Kasten geklemmt haben. Doch wir ließen uns nicht in die Karten schauen, sondern die Burschen vermuten eben nur!«
»Wer sind diese Männer?«, forschte Elwell.
»Das geht Sie gar nichts an«, schäumte Meyers wieder wütend auf. »Das sind meine eigenen Familienverhältnisse – und ehe es heute in New York dunkel wird, habe ich es heraus, ob die Kerle lange Finger gemacht haben – entweder habe ich ihren Raub wieder, oder es kostet die Burschen das Leben!«
»Unsinn, Mensch«, unterbrach ihn der Anwalt verächtlich. »Sie sind hier in New York und nicht in Chicago. Hier macht man Menschen nicht so leicht kalt. Strengen Sie lieber ihr Spatzenhirn an und ersinnen Sie einen Plan, der uns die Dokumente zurückbringt!«
Inzwischen war Nick Carter zu Chick geeilt und bedeutete ihm, so schnell wie möglich wieder aus dem Haus zu verschwinden, während er ein Gleiches tun würde.
Kaum hatten die beiden Detektive sich auf der Straße wieder vereinigt, als sie auch schon Seaman und Elwell auftauchen und sich eilig fortbewegen sahen. Doch es schien ihnen nutzlos, die beiden zu verfolgen. Sie blieben deshalb ruhig in ihrem Versteck und warteten auf das Herauskommen der beiden Verbrecher.
Es dauerte auch nicht lange, so tauchten Meyers und dessen Kumpane von Hof her auf der Straße auf, nachdem der Erstere zuvor laut geflucht und geschimpft hatte, vermutlich, weil er die Entdeckung gemacht hatte, dass die den unteren Treppenzugang verschließende Tür aufgebrochen worden war.
In der Minute darauf eilten die beiden Burschen in der Richtung nach der Third Avenue davon, verfolgt von Chick, während dessen Vetter etwas zurückblieb, da er fürchtete, von den beiden Verbrechern erkannt werden zu können.
Als Nick in einiger Entfernung folgte, kam er gerade rechtzeitig an die Ecke der Third Avenue, um die beiden Strolche in eine Straßencar steigen zu sehen.
Zum Glück aber hatte Chick inzwischen schon einen leer fahrenden Zweispänner herbeigerufen, und beide stiegen sie in den Wagen, indem sie dem Kutscher reichlichen Lohn für den Fall verhießen, dass er der ihm genau bezeichneten Straßencar zu folgen vermochte.
Das gestaltete sich zu einer schwierigen Jagd; doch die Pferde waren tüchtig, und als sie in die Nähe der 34th Street kamen, gewahrten die im Wagen Sitzenden, wie Meyers und dessen Gefährte ausstiegen und die 34th Street hinuntereilten.
»Sie begeben sich zu dem Platz, von welchem uns Patsy berichtete«, bemerkte Chick.
»Scheint so«, entgegnete der Meister. »Die beiden Ehrenmänner sind entschieden hinter den Skalps von Spike und Bally Morris her.«
»Gewiss, denn ganz bestimmt beargwöhnen sie diese Burschen, den Raub ausgeführt zu haben!«
Beide Strolche hatten inzwischen den dem Leser bereits aus früheren Kapiteln bekannten Saloon betreten, verließen ihn gleich darauf jedoch wieder in offenkundiger Enttäuschung, denn sie schienen in ihm die Gesuchten nicht gefunden zu haben. Nun eilten sie in der Richtung zur Third Avenue zurück.
Wie zwei unermüdliche Spürhunde blieben die Detektive auf der Fährte der Verbrecher, fest entschlossen, ihnen nötigenfalls durch ganz New York zu folgen.