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Catherine Parr Band 1 – Kapitel 5

Luise Mühlbach
Catherine Parr
Erstes Buch
Historischer Roman, M. Simion, Berlin 1851

V.
Keine Gnade!

Aber in diesem Moment ereignete sich etwas Neues, etwas Unerhörtes! Einer der Kavaliere, welche bis dahin im Nebensaal gestanden hatte, wagte es, die Schwelle des Schlafzimmers zu überschreiten und sich dem König zu nähern. Es war dies ein junger Mann von edler und imposanter Schönheit, dessen stolze Haltung und kühner Gang wunderbar kontrastierten gegen die demütige und gebückte Stellung der übrigen Höflinge. Seine hohe und schlanke Gestalt war in einen goldschimmernden Panzer eingehüllt, seine Schul­tern bedeckte ein mit einer Fürstenkrone verzierter Samtmantel und sein von dunklen Locken umwalltes Haupt zierte ein goldgesticktes Barett, von welchem eine lange weiße Straußenfeder bis auf seine Schultern sich nieder kräuselte. Sein längliches Gesicht trug den Typus aristokratischer Schönheit; seine Wangen waren von einer reinen, durchsichtigen Blässe; um den leicht aufgeworfenen Mund spielte ein halb verächtliches, halb müdes Lächeln, die hohe gewölbte Stirn, die fein geschnittene Adlernase gaben seinem Gesicht etwas Kühnes und Gedankenvolles zugleich. Nur die Augen passten nicht zu diesem Gesicht; sie waren weder müde, wie der Mund, noch gedankenvoll wie die Stirn, das ganze Feuer und die ganze kecke und übermütige Lust der Jugend blitzte aus diesen schwarzen brennenden Augen. Mit niedergeschlagenen Augen konnte man ihn für einen vollkommen blasierten, weltverachtenden Aristokraten halten, aber wenn er die Blicke, welche immer flammten und funkelten, erhob, erkannte man den jungen Mann voll tollkühnen Mutes und ehrgeiziger Wünsche, voll leidenschaftlicher Gluth und maßlosen Stolzes.

Er näherte sich, wie gesagt, dem König, und indem er ein Knie vor ihm beugte, sagte er mit voller, wohllautender Stimme: »Gnade, Sire, Gnade!«

Der König trat erstaunt einen Schritt zurück und blickte fast entsetzt den kühnen Sprecher an.

»Thomas Seymour!«, sagte er. »Thomas! Du bist also zurückgekehrt, und deine erste Tat ist wiederum eine Unbesonnenheit und ein tollkühnes Wagnis!«

Der junge Mann lächelte. »Ich bin zurückgekehrt«, sagte er, »das will sagen, ich habe den Schotten eine gute Seeschlacht geliefert und ihnen vier Kriegsschiffe fortgenommen. Mit diesen eilte ich hierher, um sie meinem König und Herrn zur Hochzeitsgabe darzu­bringen, und just wie ich in den Vorsaal trete, höre ich Eure Stimme, welche ein Todesurteil ausspricht! War es da nicht natürlich, dass ich, welcher Euch eine Sie­gesbotschaft bringt, den Mut fand, eine Bitte um Gnade auszusprechen, zu welcher, wie es scheint, keiner dieser edlen und stolzen Kavaliere den Mut finden konnte!«

»Ah!«, sagte der König, sichtlich erleichtert aufatmend, »du wusstest also nicht einmal für wen, und um was du Gnade erflehtest?«

»Doch!«, sagte der junge Mann und sein kühner Blick flog mit einem verächtlichen Ausdruck über die ganze Versammlung hin. »Doch! Ich sah sogleich, welches die Verurteilte sein müsse, denn ich sah dieses junge Mädchen, welches allein und von allen verlassen, einer Verpesteten gleich in der Mitte dieser erhabenen und tapferen Gesellschaft stand. Und wisst Ihr wohl, mein edler und erhabener König, daran erkennt man bei Hofe die Verurteilten und in Ungnade Gefallenen, dass jeder sie meidet und niemand den Mut hat, solche Aussässige nur mit der Spitze seiner Finger zu berühren!«

König Heinrich lächelte. »Thomas Seymour, Graf von Sudley, Ihr seid heute, wie immer, unbesonnen und voreilig«, sagte er. »Ihr bittet um Gnade, ohne einmal zu wissen, ob diejenige, für welche Ihr bittet, der Gnade wert ist!«

»Aber ich sehe, dass sie ein Weib ist!«, sagte der un­erschrockene junge Graf. »Ein Weib aber ist immer der Gnade wert, und es ziemt jedem Ritter sich zu ihrem Verteidiger aufzuwerfen, sei es auch nur, um in ihr dem ganzen so schönen, so schwachen, und doch so edlen und machtvollen Geschlecht seine Huldigung darzubringen! Ich bitte also für dieses junge Mädchen um Gnade!«

Catherine hatte dem jungen Grafen mit hochklop­fendem Herzen und glühenden Wangen zugehört. Es war das erste Mal, dass sie ihn sah, und dennoch empfand sie für ihn eine glühende Teilnahme, eine fast zärtliche Angst.

»Er wird sich selbst ins Verderben stürzen«, murmelte sie, »er wird Marie nicht retten, aber sich selbst unglücklich machen! Mein Gott, mein Gott, hab doch ein wenig Mitleid und Erbarmen mit meiner Angst.«

Sie heftete nun ihre angstvollen Blicke auf den König, fest entschlossen, dem Grafen, welcher sich so edel und großmütig eines schutzlosen Weibes ange­nommen hatte, zu Hilfe zu eilen, wenn der Zorn ihres Ge­mahls auch ihn bedrohen sollte. Aber zu ihrer Überraschung waren Heinrichs Züge vollkommen heiter und zufrieden. Gleich dem wilden Raubtier, welches seinem Instinkt folgend, nur so lange nach blutiger Beute sucht, wie es hungrig ist; gleich diesem fühlte sich König Heinrich für diesen Tag gesättigt! Dort drüben leuchteten die Scheiterhaufen, auf welchen man eben vier Ketzer verbrannt, dort stand das Schafott, auf welchem man soeben die Gräfin Sommersett gerichtet hatte, und nun zu dieser Stunde hatte er schon wieder ein neues Todesopfer gefunden!

König Heinrich war nun zufrieden, er war heute nicht mehr durstig auf Blut, weshalb sollte er es also vergießen? Zudem war Thomas Seymour immer sein Liebling gewesen. Seine Tollkühnheit, seine Heiterkeit und seine Energie hatten dem König immer imponiert, und außerdem glich er so sehr seiner Schwester, der schönen Jane Seymour, Heinrichs dritter Gemahlin!

»Ich kann dir diese Gnade nicht bewilligen, Thomas!« sagte der König. »Die Gerechtigkeit darf nicht auf­gehalten werden in ihrem Lauf, und wo sie verurteilt hat, da darf die Gnade sie nicht Lügen strafen! Und die Gerechtigkeit deines Königs war es, welche in diesem Moment das Urteil sprach. Du tatest daher doppelt unrecht, denn du batest nicht nur um Gnade, sondern du beschuldigtest auch meine Kavaliere. Glaubst du wirklich, dass, wenn die Sache dieses Mädchens eine gerechte wäre, sich kein Ritter für sie gefunden hätte?«

»Ja, das glaube ich wirklich«, rief der Graf lachend. »Die Sonne Eurer Gnade hatte sich von diesem armen Mädchen gewandt, und in solchem Fall sehen deine Hofherren nicht mehr die in Dunkel gehüllte Gestalt! Doch, ich habe sie gesehen!«, sagte plötzlich eine andere Stimme, und ein zweiter Kavalier trat aus dem Vor­saal in das Zimmer. Er näherte sich dem König, und indem er ein Knie vor ihm beugte, sagte er mit lauter, fester Stimme: »Sire, auch ich bitte Euch um Gnade für Marie Askew!«

In diesem Moment vernahm man von der Seite, auf welcher die Damen sich befanden, einen leisen Schrei, und das bleiche und erschrockene Gesicht der Lady Jane Douglas hob sich einen Moment über die Köpfe der anderen Damen hervor.

Niemand achtete darauf. Aller Blicke waren auf die Gruppe in der Mitte des Zimmers gerichtet, alle sahen mit gespannter Aufmerksamkeit auf den König und diese beiden jungen Männer hin, welche es wag­ten, eine vom König Verurteilte zu beschützen!

»Henry Howard, Graf von Surrey!« rief der König, und nun überflog ein Ausdruck des Zornes sein Ant­litz. »Wie, auch Ihr wagt es, für dieses Mädchen zu bitten? Ihr wollt also Thomas Seymour nicht einmal den Vorzug gönnen, der Unbesonnenste an meinem Hof zu sein?«

»Ich will es ihm nicht vergönnen, Sire, zu denken, dass er der Mutigste sei!«, erwiderte der junge Mann, indem er einen stolzen herausfordernden Blick auf Thomas Seymour heftete, welcher ihn mit einem kalten, geringschätzenden Lächeln erwiderte. »Oh«, sagte er achselzuckend, »ich gönne es Euch gern, mein lieber Graf von Surrey, ganz bequem auf dem Pfad hinter mir herzugehen, dessen Haltbarkeit ich zuvor erst mit Ge­fahr meines Lebens sondiert habe! Ihr habt gesehen, dass ich bisher noch in diesem tollkühnen Unternehmen nicht den Kopf oder das Leben verloren habe, und das hat Euch den Mut gegeben, meinem Beispiel zu folgen! Das ist ein neuer Beweis Eurer besonnenen Tapferkeit, mein ehrenwerter Graf von Surrey, und ich muss Euch deshalb loben!«

Eine glühende Röte überflog das edle Gesicht des Grafen, seine Augen schossen Blitze, und zitternd vor Zorn legte er seine Hand an das Schwert.

»Ein Lob von Thomas Seymour ist …«

»Still!«, unterbrach ihn der König gebieterisch. »Es soll nicht gesagt werden, dass zwei der edelsten Kava­liere meines Hofes den Tag, welcher für Euch alle ein Festtag sein sollte, zu einem Tag der Zwietracht machen wollen! Ich befehle Euch daher, Euch zu versöhnen. Reicht Euch die Hände, Mylords, und lasst Eure Versöhnung aufrichtig sein! Ich, der König, befehle es Euch!«

Die jungen Männer sahen einander mit Blicken des Hasses und der verhaltenen Wut an, und ihre Augen sagten einander die beleidigenden und heraus­fordernden Worte, welche ihre Lippen nicht mehr sprechen durften. Der König hatte befohlen, und wie mächtige und große Kavaliere sie auch immer sein mochten, dem König musste gehorcht werden! Sie reich­ten sich daher die Hände und murmelten einige leise, unverständliche Worte, welche vielleicht eine gegensei­tige Entschuldigung sein sollten, die sie aber beide nicht verstanden!

»Und jetzt, Sire«, sagte alsdann der Graf von Sur­rey, »jetzt wage ich es, meine Bitte zu wiederholen. Gnade, Majestät, Gnade für Marie Askew!«

»Und Ihr, Thomas Seymour«, fragte der König, »wiederholt auch Ihr Eure Bitte.« »Nein, ich verzichte darauf! Graf Surrey beschützt sie, ich trete also zurück, denn ohne Zweifel ist sie eine Verbrecherin; Ew. Majestät sagt es, und also ist es so! Es würde einem Seymour schlecht anstehen, eine Person zu beschützen, welche gegen ihren König sündigte!«

Dieser neue indirekte Angriff gegen den Grafen Surrey schien auf alle Anwesenden einen tiefen, aber sehr verschiedenartigen Eindruck zu machen. Man sah hier Gesichter erblassen und dort sich mit einem scha­denfrohen Lächeln erhellen, hier murmelten zusammen­gepresste Lippen Worte der Drohung, dort öffnete sich ein Mund, um halblaut Beifall und Zustimmung zu äußern.

Des Königs Stirn zeigte sich umwölkt und trübe; der Pfeil, welchen Graf Sudley mit so geschickter Hand abgeschossen, hatte getroffen! Der immer argwöhnische und misstrauische König fühlte sich umso mehr beunruhigt, als er sah, dass der größere Teil seiner Kavaliere offenbar sich zu den Freunden Henry Howards zählte, und die Zahl der Anhänger Seymours nur eine geringere sei.

»Diese Howards sind gefährlich, und ich werde sie sorgsam bewachen!«, sagte der König zu sich selbst. In dieser Stunde begann er den Grafen Surrey zu hassen und ihn mit jenem finsteren Argwohn zu verfolgen, welcher endlich den edlen Henry Howard auf das Blutgerüst führte.

Aber Thomas Seymour, welcher nur gegen seinen langjährigen Feind einen Streich führen wollte, hatte zugleich das Schicksal der armen Marie Askew ent­schieden!

Nun war es fast eine Unmöglichkeit, für sie zu sprechen und für sie Gnade erflehen, hieß sich selbst an ihrem Verbrechen beteiligen! Thomas Seymour hatte sich von ihr losgesagt, weil sie als eine Hoch­verräterin gegen ihren König sich seines Schutzes unwert gemacht hatte! Wer sollte so tollkühn sein, die Hochverräterin nun noch zu beschützen?

Henry Howard tat es! Er wiederholte sein Flehen um Gnade für Marie Askew! Aber des Königs Ant­litz verfinsterte sich mehr und mehr, und mit Entsetzen sahen die Hofleute den Moment kommen, wo sein Zorn den armen Grafen Surrey zerschmettern würde! Auch in den Reihen der Damen sah man hier und da ein Gesicht erblassen, und manch schönes und strah­lendes Auge umdüsterte sich mit Tränen beim Anblick dieses tapferen und schönen Kavaliers, welcher eben sein Leben einsetzte für ein Weib!

»Er ist verloren!«, murmelte Lady Jane Douglas, und ganz zerbrochen, ganz vernichtet lehnte sie sich einen Moment gegen die Wand. Aber dann richtete sie sich empor, und ihr Auge leuchtete in kühner Ent­schlossenheit!

»Ich werde versuchen, ihn zu retten!«, sagte sie zu sich selbst. Mit festem Schritt trat sie aus den Reihen der Damen hervor und näherte sich dem König.

Ein Gemurmel des Beifalls lief durch die Gesell­schaft, alle Gesichter erhellten sich und alle Blicke richteten sich mit Befriedigung auf Lady Jane!

Man wusste, dass sie eine Freundin der Königin und eine Anhängerin der neuen Lehre sei, es war daher sehr bezeichnend und folgereich, wenn sie den Grafen Surrey in seinem großmütigen Bestreben unterstützte.

Lady Jane neigte ihr schönes und stolzes Haupt vor dem König und sagte mit ihrer klaren, silberhellen Stimme: »Sire! Im Namen aller Frauen bitte auch ich um Gnade für Marie Askew, weil sie eine Frau ist! Lord Surrey hat es getan, weil ein wahrer Kavalier sich niemals verleugnen kann und immer seiner edlen und heiligen Pflicht, der Beschützer der Hilflosen und Gefährdeten zu sein, genügen muss! Ein wahrer Gent­leman fragt nicht, ob ein Weib seinen Schutz auch verdient, er gewährt ihr denselben, eben weil sie ein Weib ist und seiner Hilfe bedarf! Und wenn ich deshalb im Namen aller Frauen, dem Grafen von Surrey für den Beistand danke, den er einer Frau leisten wollte, so vereinige ich meine Bitte mit der seinen, weil es nicht gesagt werden soll, dass wir Frauen immer feige und mutlos sind, und es nicht einmal wagen, einer Bedrängten zu Hilfe zu eilen. Ich bitte also um Gnade, Sire, um Gnade für Marie Askew!

»Und ich«, sagte die Königin, indem sie sich wieder dem König näherte, »ich füge auch meine Bitte hinzu, Sire! Es ist heute ein Fest der Liebe, mein Festtag, Sire! Lasst also heute die Liebe und die Gnade walten!«

Sie sah den König mit einem so liebreizenden Lächeln an, ihre Augen hatten einen so strahlenden und glückverheißenden Ausdruck, dass der König ihr nicht zu widerstehen vermochte!

Er war daher im Grunde seines Herzens bereit, dieses Mal die königliche Gnade walten zu lassen; aber es bedurfte dazu eines Vorwandes, einer Vermittlung! Es durfte nicht gesagt werden, dass der König, welcher feierlich gelobt, keinen Ketzer zu begnadigen, sein Wort gebrochen hätte, weil seine Königin ihn darum bat!

»Nun denn«, sagte er nach einer Pause, »ich will Eure Bitten erfüllen, ich will Marie Askew begnadigen, vorausgesetzt, dass sie alles, was sie hier gesprochen hat, widerrufen und feierlich abschwören will! Seid Ihr damit zufrieden, Catherine?«

»Ich bin es zufrieden!«, sagte sie traurig.

»Und Ihr Lady Jane Douglas und Henry Howard, Graf von Surrey?«

»Wir sind es zufrieden!«

Aller Blicke wandten sich nun wieder auf Marie Askew, welche man, obwohl man sich mit ihrer Ange­legenheit beschäftigte, dennoch ganz übersehen, ganz unbeobachtet gelassen hatte!

Auch sie hatte keinen Teil weiter an der Gesellschaft genommen, sie hatte kaum beachtet, was um sie her vorging! Sie stand an die geöffnete Balkontür gelehnt und blickte hinüber zu dem feuerflammenden Horizont! Ihre Seele war drüben bei den frommen Märtyrern, für welche sie inbrünstige Gebete zu Gott empor sandte, und welche sie, in ihrer fieberhaften Exaltation, beneidete um ihren qualvollen Tod! Ganz der Gegenwart entrückt, hatte sie weder das Flehen derer, welche sie beschützten, noch die Antwort des Königs vernommen!

Eine Hand, welche sich auf ihre Schulter legte, weckte sie aus ihrer Schwärmerei! Es war Catherine, die junge Königin, welche neben ihr stand.

»Marie Askew«, flüsterte sie hastig, »wenn dir dein Leben lieb ist, erfülle des Königs Verlangen! Es gibt kein anderes Mittel mehr, dich zu retten!«

Sie fasste die Hand des jungen Mädchens und führte sie zum König hin.

»Sire«, sagte sie laut, »verzeiht dem exaltierten und leidenschaftlichen Schmerz eines armen Mädchens, welches eben zum ersten Mal einer Hinrichtung beigewohnt hatte, und deren Gemüt davon so ergriffen wurde, dass sie sich kaum bewusst ist, welche törichten und verbrecherischen Worte sie vor Euch gesprochen hatte! Ver­zeiht ihr also, Majestät, denn sie ist freudig bereit zu widerrufen!«

Ein Schrei des Entsetzens tönte von Maries Lippen und ihre Augen flammten vor Zorn, indem sie die Hand der Königin von sich schleuderte.

»Ich widerrufen?«, rief sie mit einem verächtlichen Lächeln. »Niemals, Mylady, niemals! Nein, so wahr mir Gott möge gnädig sein in meiner Todesstunde, ich widerrufe nicht! Es ist wahr, der Schmerz und das Entsetzen waren es, welche aus mir sprachen, aber was ich gesprochen habe, war inzwischen doch die Wahrheit! Das Entsetzen hatte mich reden gemacht und mich gezwungen, meine Seele unverhüllt zu zeigen! Nein, ich widerrufe nicht! Ich sage Euch, jene, welche dort drüben hingerichtet werden, sind heilige Märtyrer, welche zu Gott emporsteigen, um bei ihm ihren könig­lichen Henker zu verklagen! Ja, sie sind Heilige, denn die ewige Wahrheit hatte ihre Seelen erleuchtet und strahlte heller um ihr Angesicht als die Flammen dieses Scheiterhaufens, auf welche die mörderische Hand eines ungerechten Richters sie geschleudert! Ach, ich soll widerrufen! Ich soll es machen, wie es Scharon getan hat, der elende und treulose Diener seines Gottes, welcher aus Furcht vor dem irdischen Tod die ewige Wahrheit verleugnete und in gotteslästernder Feigheit zum Meineidigen wurde an der heiligen Lehre! König Heinrich, ich sage dir, hüte dich vor den Heuchlern und den Wortbrüchigen, hüte dich vor deinen eigenen stolzen und hochmütigen Gedanken! Das Blut der Märtyrer schreit gegen dich zum Him­mel empor, und dereinst wird Gott erbarmungslos gegen dich sein, wie du es gegen die Edelsten deiner Untertanen gewesen bist! Du übergibst sie den mörde­rischen Flammen, weil sie es nicht glauben wollen, was ihnen Baals Priester verkünden, weil sie nicht glauben wollen an die wirkliche Verwandlung des Kelches, weil sie es leugnen, dass der natürliche Körper Christi nach der Konsekration in dem Sakrament enthalten sei, gleichviel, ob der Priester ein guter oder böser Mann gewesen war! Du übergibst sie dem Henker, weil sie der Wahrheit dienen und ihres Herrn und Gottes treue Nachfolger sind!«

»Und Ihr teilt die Ansicht dieser Leute, welche Ihr Märtyrer nennt?«, fragte der König, als Marie Askew nun einen Moment schwieg und nach Atem rang.

»Ja, ich teile sie!«

»Ihr leugnet also die Wahrheit der sechs Artikel?«

»Ich leugne sie!«

»Ihr seht in mir nicht das Oberhaupt der Kirche?«

»Gott allein ist seiner Kirche Haupt und Herr!«

Eine Pause trat ein, eine fürchterliche, entsetzens­volle Pause! Jedermann fühlte, dass für dieses arme junge Mädchen keine Hoffnung und keine Rettung mehr möglich, dass ihr Schicksal unwiderruflich entschieden sei!

Auf des Königs Antlitz stand ein Lächeln! Die Hofleute kannten dieses Lächeln und fürchteten es mehr noch als den aufbrausenden Zorn des Königs! Wenn der König so lächelte, hatte er einen Entschluss gefasst, war gar kein Schwanken und Zaudern mehr möglich, sondern das Todesurteil war beschlossen und seine blutgierige Seele freute sich des neuen Opfers!

»Mylord Erzbischof von Winchester«, sagte der Kö­nig endlich, »kommt hierher zu mir!«

Gardiner näherte sich ihm und stellte sich neben Marie Askew, welche mit zürnenden, verachtenden Blicken auf ihn hinsah.

»Im Namen des Gesetzes befehle ich Euch, diese Ketzerin zu verhaften und sie dem geistlichen Gericht zu übergeben!«, fuhr der König fort. »Sie ist verdammt und verloren, sie soll gerichtet werden, wie sie es verdient!«

Gardiner legte seine Hand auf Marie Askews Schulter. »Im Namen des Gesetzes Gottes verhafte ich dich!«, sagte er feierlich.

Kein Wort weiter wurde gesprochen. Der Lord Oberrichter war schweigend dem Wink Gardiners gefolgt, und Marie Askew mit seinem Stab berüh­rend, hatte er seinen Soldaten befohlen, sie von dan­nen zu führen.

Marie Askew reichte ihnen lächelnd ihre Hände dar und schritt stolz und hochaufgerichtet in der Mitte der Soldaten und gefolgt vom Erzbischof von Winchester und dem Lord Oberrichter aus dem Gemach.

Die Hofleute hatten sich geteilt und Marie und ihren Begleitern einen Durchgang geöffnet. Nun schlossen sich ihre Reihen wieder, wie das Meer sich schließt und ruhig weiter fließt, ob es auch eben einen Leichnam in sein Bett aufgenommen hat.

Marie Askew war für alle schon eine Leiche, eine Begrabene! Die Wogen waren über sie hingerauscht, und alles war wieder heiter und glänzend, wie zuvor.

Der König reichte seiner jungen Gemahlin die Hand, und sich an ihr Ohr neigend, flüsterte er ihr einige Worte ins Ohr, die niemand verstand, welche aber das junge Weib erbeben und erröten machten!

Der König, welcher es gewahrte, lachte und drückte einen Kuss auf ihre Stirn. Dann wandte er sich zu seinem Hof: »Und jetzt gute Nacht, Mylords und Gentlemen!«, sagte er mit einem gnädigen Kopfneigen. »Das Fest ist zu Ende und wir bedürfen der Ruhe!«

»Vergesst nicht die Prinzessin Elisabeth!«, flüsterte Erzbischof Cranmer, als er sich von Catharine beur­laubte und ihre dargereichte Hand an seine Lippen drückte.

Aber Catherine, ganz überwältigt, ganz, durch­schauert von einer ihr selbst unerklärlichen Angst, neigte ihr Haupt, und mit gefalteten Händen und tränenschweren Blicken zu dem Erzbischof empor sehend, murmelte sie leise: »Segnet mich! Segnet mich zu dem schweren Weg, welchen ich zu wandeln habe!«

»Er ist schwer, aber auch heilbringend und segens­reich, und Ihr sollt ihn wandeln zur Ehre Gottes und Eures Glaubens!«, flüsterte Cranmer, indem er seine Hände erhob und das Zeichen des Kreuzes über dem Haupt der Königin machte.