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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 1 – 8. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 1
Das Geheimnis der jungen Witwe
8. Kapitel

Dr. Gulivers Regenschirm

In einem Raum, der doppelt so groß war, wie derjenige, in welchen der Leichenhändler bisher seine Gäste aufgenommen hatte, lagerten, vom flackernden Schein einer Gasflamme beleuchtet, vierzehn Leichen, Männer und Frauen waren es, völlig entkleidet, aber mit groben Leinwandstücken zugedeckt.

Grauenhaft war es zu sehen, wie das Licht seine Reflexe auf die verzerrten Züge warf, wie die gebrochenen Augen aufwärts starrten. Nur eine sehr starknervige Natur konnte diesen Anblick ertragen.

Aber Doktor Guliver Perkins schien derselbe ganz und gar nicht zu genieren. Mit einer gewissen freudigen Überraschung schritt er zwischen den Leichen dahin und betrachtete dieselben.

»Jede dieser Leichen könnte, wenn sie noch zu sprechen vermöchte, einen interessanten Roman erzählen«, wandte er sich an Simon Rudge.

»Mich gehen die Romane meiner Toten nichts an, ich bin zufrieden, wenn sie sich noch in einer guten Verfassung befinden, sobald ich sie in die Hände bekomme. Die verfluchten Fische in der Themse, die haben mir schon viel Schaden gemacht.«

»Die Fische?«

»Gewiss, denn sie fressen die Leichen der Ertrunkenen gern an. Aber sehen Sie hier dieses Frauenzimmer – das schwarzhaarige meine ich …« Der Leichenhändler riss dabei die Decke von einem der regungslosen Körper herab. »He, ist das nicht ein Staatsweib? Gar kein Tadel ist an ihr, nicht der geringste – heute Morgen ist sie mir erst gebracht worden.«

»Ich möchte, wenn Sie gestatten«, wandte Guliver sich nun an den Leichenhändler, »die einzelnen Objekte näher untersuchen. Das wird ein wenig Zeit in Anspruch nehmen, und da wir hier nicht ganz im Trockenen sitzen können, so holt uns vielleicht unser Freund Barneby Crane einen guten Trunk, ein paar Flaschen Wein.«

»Das lässt sich hören«, rief Barneby, »ich werde hinüber zur Taverne des langen Jimmy springen – gebt nur Geld her, Doktor.«

»Hier, mein Freund«, sagte Guliver,« indem er eine halbe Guinee aus der Tasche zog und sie Barneby reichte, »hier, nehmen Sie, und kommen Sie recht bald wieder.«

Simon öffnete die eiserne Tür, und Barneby Crane entfernte sich schmunzelnd. Solch eine gute Nacht, in der er so viel freigehalten wurde, hatte er sicherlich schon lange nicht gehabt.

Simon hielt die Tür geöffnet, bis er sich überzeugt hatte, dass Barneby wieder über die Leiter zur Brücke hinaufgegangen sei, dann erst schloss er sie wieder.

»Kommen Sie her, lieber Freund«, rief der Doktor, der inzwischen die Leichen aufmerksam betrachtet hatte, »sagen Sie, was würden Sie für diese schwarzhaarige Frau von mir verlangen?«

»Die …«, antwortete der Leichenhändler, indem er an den bezeichneten Körper herankam, »die kostet vierzig Pfund Sterling.«

»Ja, wenn sie tadellos wäre«, rief der Gelehrte, »dann, lieber Freund, würde ich Ihnen die vierzig Pfund gern bezahlen, aber sehen Sie, diese Frau hat ja an Brustkrebs gelitten, das sieht man ganz deutlich. Überzeugen Sie sich selbst.«

»Das ist nicht wahr«, rief Simon Rudge, indem er sich tief zu der Leiche herniederbeugte, »ich habe sie doch, als man sie heute Morgen brachte, ganz genau betrachtet und …«

»Rühre dich nicht, Schurke«, donnerte ihm eine Stimme ins Ohr, »sonst jage ich dir eine Kugel in den Kopf!«

Mit festem Griff hatte Doktor Guliver das Genick des Leichenhändlers umfasst und presste es zusammen, dass Simon Rudge auch nicht einen Laut hervorstoßen konnte und sich nicht aufzurichten vermochte, obwohl er sich mit aller Kraft aufbäumte.

»Deine Hand her, ich will dich fesseln«, rief ihm Doktor Guliver zu, »denn wisse, Bandit, Leichenräuber, du hast es mit Sherlock Holmes zu tun!«

»Sherlock Holmes!«, krächzte nun Simon mit aller Anstrengung hervor, »he, Bob – komm – zu Hilfe!«

In diesem Augenblicke warfen zwei Männer, die unter den Leichen lagen und sich ebenso regungslos verhalten hatten wie diese, die Decken zurück und richteten ihre herkulisch gebauten Gestalten auf.

»Ha, ha, so dumm sind wir nicht«, heulte der Leichenhändler, den Sherlock Holmes im Moment des ersten Schreckens freigegeben hatte, »wir sind immer vorsichtig, wenn wir Besuch bekommen. Schlagt ihn nieder, meine Jungs; ist sonst an ihm nichts zu verdienen, so werden wir wenigstens seine Leiche verkaufen.«

Wutbrüllend warfen sich die Männer gegen Sherlock Holmes. Der Detektiv war schnell zurückgesprungen und deckte seinen Rücken, indem er sich gegen die eiserne Wand lehnte.

Messer blitzten vor ihm auf, wildverzerrte Gesichter näherten sich dem seinen, aber Sherlock Holmes hob in diesem Augenblick seinen Schirm empor. Ein Schuss krachte, und einer seiner Angreifer stürzte, in den Kopf getroffen, tot zusammen. Nun stürmte Sherlock Holmes zum Ausgang, um die Elenden von diesem abzuschneiden. Noch einmal blitzte es aus seinem Schirm auf, der nichts anderes war als eine gute Büchse, welche die Gestalt eines Regenschirmes hatte, und auch Bob brach mit einer Kugel im Leib zusammen.

»Ergib dich, Leichenräuber«, donnerte Sherlock Holmes nun Simon Rudge zu, »Hände hoch, oder ich schieße dich nieder.«

Simon Rudge ließ sein Messer fallen und hob die Hände empor. Er sah ein, dass er in der Gewalt des fürchterlichen Mannes sei.

Im nächsten Moment hatte sich Sherlock Holmes auf ihn geworfen und hatte ihm die Hände in Stahlfesseln gelegt.

»Und jetzt, mein Freund«, rief Sherlock Holmes, »wollen wir ein vernünftiges Wort miteinander reden. An wen hast du die Leiche verkauft, an welche du dich noch so genau erinnerst? Die Leiche des Mannes, welche ohne Kleider an dich gelangte und die so auffallend weiße Hände hatte?«

»Muss ich das gestehen?«, presste der Leichenhändler mit wilder, heiserer Stimme hervor.

»Du musst es nicht gerade, aber du wirst es tun, wenn ich dir sage, dass eben der Mann, dem du diese Leiche verkauft hast, dich verraten hat.«

»Hat er mich verraten«, brüllte Simon Rudge, »nun gut, so will ich ihm dies eintränken. Auch ich kenne seinen Namen, denn ich habe ihm nachschleichen lassen, als wir die Leiche zum Hyde Park auf seinen Befehl bringen mussten. Es ist – Paul Estrade, der Geldwechsler aus der Ludgate Street.«

»Bravo!«, rief Sherlock Holmes. Es war nicht recht ersichtlich, wem dieses Bravo gelten sollte, ob dem Leichenhändler oder ihm selbst, »bravo, mein Junge, zum ersten Mal in deinem Leben hast du die Wahrheit gesprochen. Das gibt ein Jahr Zuchthaus weniger für dich – ich will dir dieses Geständnis vergelten. Und jetzt lege dich nieder, hier zwischen den Leichen; ich muss noch deine Füße fesseln, denn ich habe draußen zu tun.«

Als Simon Rudge zögerte, dem Befehl sogleich nachzukommen, versetzte ihm Sherlock Holmes einen Faustschlag, der ihn sofort niederwarf.

Wenige Augenblicke später konnte der Leichenhändler auch die Füße nicht mehr bewegen.

»So, das brauche ich jetzt nicht mehr«, sagte Sherlock Holmes, indem er sich seiner Brille, seiner Perücke und des falschen Bartes entledigte und diese Gegenstände in die Taschen seines Mantels steckte, »hoffentlich haben die da oben ebenso sicher gearbeitet wie ich.«

Er öffnete die Tür, kletterte die Leiter zur Hälfte empor und gab dann mit einer kleinen silbernen Pfeife drei schrille Pfiffe ab.

Sogleich wurde das Signal beantwortet und über die Brüstung der Brücke neigte sich Harry Tacon.

»All right?«, fragte Sherlock Holmes nach oben, »habt ihr Barneby gefasst?«

»Er ist in den Händen der Polizei. Er ist Captain Morris und seinen Leuten gerade in die Arme gelaufen.«

»Gut«, antwortete Sherlock Holmes, »der Bursche soll diesmal mit dem bloßen Schrecken davonkommen. Man wird ihn laufen lassen, wenn er heute Nacht im Verhör ausgesagt hat, was er über den Verkauf der Leiche weiß. Und nun, Harry, habe die Güte und rufe Captain Morris mit einigen seiner Leute hierher ich habe einen hier unten, der transportiert werden muss.«

Wenige Minuten später drang Captain Morris an der Spitze von zehn Detektivs in die geheimnisvolle Wohnung des Leichenhändlers unter der Greenwich Bridge ein. Er konnte sich vor Erstaunen darüber gar nicht fassen, dass hier Menschen hausten, dass hier in diesem Raum ein so schwunghafter Leichenhandel betrieben worden war.

»Diese Entdeckung allein, Mr. Sherlock Holmes«, sprach er, »ist wert, dass man Euch den König aller Detektive nennt.«

»Weshalb?«, fragte Sherlock Holmes lachend die Achseln zuckend, »die Entdeckung ist nicht gar so weit her. Glauben Sie mir, Captain Morris, das Verbrechen und das Elend in London ist so groß, dass es überall, wohin wir spucken, Geheimnisse gibt. Doch nun lassen Sie diesen Freund da sogleich ins Gefängnis bringen. Er hat mir schon sehr wichtige Angaben gemacht, und wir dürften noch Weiteres von ihm hören. Sind Sie auch jetzt noch davon überzeugt, dass Charley Benson der Mörder des Bankiers Paul Estrade ist?«

»Man wird Benson morgen freilassen«, antwortete Captain Morris, »es war ein Irrtum …«

»Der sehr verzeihlich ist«, versetzte Sherlock Holmes, »aber im Übrigen haben wir vorläufig erst den Wald und noch nicht den Fuchs, der sich darin aufhält. Vorwärts, Harry, wir gehen nach Hause, denn wir haben heute Nacht noch einige Arbeit zu tun.«

Damit drückte Sherlock Holmes dem Captain die Hand, empfahl ihm noch einmal, auf den Gefangenen sorgfältig zu achten, und bestieg mit Harry einen in der Nähe der Greenwich Bridge wartenden Wagen, der sie zu ihrer Wohnung brachte.