Der Detektiv – Band 26 – Der Saal ohne Fenster – Teil 3
Walter Kabel
Der Detektiv
Band 26
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Saal ohne Fenster
Teil 3
Elf Uhr abends war es am selben Tag.
Der Pastor von Reddin, Herr Gustav Herms, saß im Dunkeln am offenen Fenster seines Studierzimmers, das nach dem Hof hinauslag.
Im Pfarrhaus war man bereits vor einer Stunde zur Ruhe gegangen. Im Schlafzimmer hatte Herms dann aber zu seiner Gattin gesagt, er sei heute doch noch nicht müde genug und wolle noch die Predigt für den Sonntag vorbereiten.
Ganz leise war er dann in sein Studio zurückgekehrt, ohne das Licht einzuschalten.
Nun saß er und wartete …
Wartete, dass die Hintertür wie gestern wieder knarren und Helga Mailing im dunklen Lodenmantel über den Hof in den Garten huschen sollte.
Wie in der verflossenen Nacht, wo sie sich ganz hinten im Pfarrgarten auf dem Holzaltan unter den drei Riesenbuchen mit dem alten Zigeunerweibe getroffen hatte.
Wenn Pfarrer Herms nun abermals an dieses seltsame Rendezvous Helgas dachte, wenn er sich abermals vergegenwärtigte, dass er von dem Zigeunerweib bei der Dunkelheit leider nur wenig gesehen hatte, immerhin aber doch Zeuge geworden war, wie Helga dieses Weib stürmisch geküsst hatte, dann … dann schüttelte er auch nun wieder den grauen Kopf und konnte sich so gar keinen Vers aus alledem machen.
Gar keinen? Dabei war der Pastor Gustav Herms doch ein Mann, der offene Augen und Menschen- und Weltkenntnis besaß, der dem Leben niemals blind gegenübergestanden hatte! Nein, niemals.
Und nun fuhr er leicht zusammen.
Die Tür hatte soeben geknarrt.
Da war Helga wieder – wie gestern!
Herms erhob sich, ließ sich Zeit.
Er wusste ja, wo er Helga finden würde.
Er trug Hausschuhe, und die gestatteten ihm einen leisen Schritt. In die Küche ging er, holte die Stalllaterne, zündete sie an und nahm sie unter den weiten Hausrock.
So folgte er dem blonden Mädel.
Wie sein eigenes Kind war sie ihm. Seine Jungen und Mädel waren ja längst flügge, waren verheiratet – hier und dort, in allen Ecken Deutschlands.
Er ließ sich Zeit.
Im Garten rauschte der Nachtwind in den Bäumen.
Auf dem Friedhof in den alten Ulmen klagte ein Käuzchen. Weiße Grabsteine schimmerten durch die Büsche.
Herms hielt sich im Schatten der Nusssträucher, bis er nach rechts abbog, wo die Reihe der hohen Linden und Buchen begann.
Immer leiser schlich er dahin.
Zu dem Holzaltan, dessen Treppe dort bereits im Dunkel zu erkennen war, führte ein schmaler Weg.
Der Pastor sah gegen den hellen Himmel auf dem Altan zwei Gestalten dicht nebeneinander.
Aber diesmal einen Mann … einen Mann neben Helga!
Da stutzte er.
Das Blut schoss ihm ins Gesicht.
Ob etwa die Zigeunerin hier Kupplerin spielte?
Ob …
Und da hatte er den Fuß der Treppe erreicht.
Prallte zurück …
Von den Stufen erhob sich ein anderer Mann, flüsterte hastig: »Mein Name ist Harst … Harald Harst, Herr Pastor, der Berliner Detektiv … Bitte kehren Sie um … Ich muss mit Ihnen sprechen …«
Wäre es nicht der Name Harald Harst gewesen, Pfarrer Herms hätte nicht darauf verzichtet, das Rendezvous zu stören.
So aber folgte er dem Mann, dessen Taten die Zeitungen so und so oft erwähnten, von dem alle Welt mit Achtung und Bewunderung sprach.
Folgte ihm durch die Seitenpforte auf den Kirchhof, wo Harald Harst dann hinter der Kirche stehen blieb.
Hier war es hell. Der Julihimmel mit seinem Sternenmeer spendete genügend Licht.
Herms schaute den berühmten Detektiv prüfend an.
Und Harst sagte leise: »Maskiert, Herr Pfarrer! Aber ich bin es wirklich …«
Und dabei löste er den dunklen Bart vom Gesicht, nahm Mütze und Perücke ab und wandte den Kopf.
»Bitte – mein scharfes Profil ist unverkennbar, Herr Pfarrer …«
»Allerdings, Herr Harst … Wer ist der Mann, der da mit meiner Helga …«
Harst unterbrach ihn. »Verzeihung … Ich habe es eilig. Gestatten Sie einige Fragen …«
So erfuhr Harst, dass Helga Marling das jüngste Kind des Oberregierungsrates Marling sei und hier bei Pastor Herms die Wirtschaft erlernen sollte.
Und erklärte darauf seinerseits: »Der Mann, dem Fräulein Marling diese Zusammenkünfte gewährt, heißt Viktor Manz und ist Hausknecht im Grünen See da unten im Dorf Dalchow. Gestern hatte er sich eben als Zigeunerin verkleidet, heute als alter graubärtiger Bauer …«
Pastor Herms stieß hervor: »Wie, Hausknecht? Also ein … ein junger Kerl?«
»Ja, und ein ganz hübscher Bursche, Herr Pfarrer.«
Als Gustav Herms einige Minuten später ins Haus zurückschlich, hatte er Harst das Versprechen gegeben, in dieser Sache nichts gegen Helga zu unternehmen. Er hatte eben eingesehen, dass das offenbare Verbrechernest dort im Grünen See nicht vorzeitig argwöhnisch gemacht werden dürfe. Harst war einverstanden gewesen, dass die Pastorin morgen mit Helga zu ihrer verheirateten Tochter nach Magdeburg führe, damit diese Rendezvous auf diese Weise ein Ende hätten.
Harald Harst aber kehrte, wie ein Schatten durch den Garten gleitend, zu dem Baumaltan zurück und kam dort noch gerade zur rechten Zeit an, um den zärtlichen Abschied der beiden beobachten zu können.
Folgte Viktor Manz dann genau so, wie er ihm von Dalchow bis hierher gefolgt war.
Auch wie ein Schatten – wie ein wahrer Künstler in dieser Art von heimlichen Gängen.
Manz ging nicht allzu schnell.
Bis Dalchow waren es etwas über zwei Kilometer, streckenweise durch Wald.
Als Manz sich dem Seedorf näherte, blieb Harst zurück.
Aus Vorsicht, denn Viktor Manz war ja noch von einer zweiten Person auf dem Hinweg nach Reddin verfolgt worden, hatte sich aber durch ein paar harmlose Kniffe für diesen lästigen Aufpasser unsichtbar gemacht.
Harst wartete in der Schonung an der Rückseite des Gemüsegartens, bis Manz das Wirtshaus betreten haben musste.
Wartete fünf Minuten und war dann glücklich wieder in seinem Krankenzimmer durch das offene Fenster angelangt.
Setzte sich im Dunkeln auf das uralte Glanzledersofa und steckte sich eine seiner Mirakulum an.
Wartete auf seinen Freund Schreiber-Schraut.
Den hatte er hier zurückgelassen, damit er den Saal ohne Fenster beobachte.
Jenen Saal, den Herr August Bröseke eigenhändig zu einem finsteren Loch umgewandelt hatte, indem er die Fenster zumauerte.
Eigenhändig – mit des feinen Hausknechts Hilfe.
Harald Harst lehnte regungslos in der Sofaecke und sann angestrengt über all diese Dinge nach … Rief sich nochmals Landjäger Rütters Brief ins Gedächtnis zurück.
Dieser Brief war abends vor vier Tagen mit der letzten Postbestellung in der Blücherstraße 10 in Berlin-Schmargendorf eingetroffen. Nr. 10 – das war das alte Harstsche Familienhaus …
Und der Brief Rütters hatte gelautet:
Dalchow bei Werder (Mark),
den 11. Juli d. J.
Sehr geehrter Herr Harst,
Sie gestatten mir als einem Landjäger, der nur den üblichen Polizeikram leidlich beherrscht, Ihnen etwas mitzuteilen, das mir schon viel Kopfzerbrechen gemacht hat und das ich doch der vorgesetzten Behörde nicht melden möchte, weil ich eben nicht recht weiß, was ich von Herrn August Bröseke halten soll. Der ist seit Kurzem hier in Dalchow Besitzer des Wirtshauses Zum Grünen See.
Ein Wirt, der alle Gäste weggrault, ist nun schon eine seltene Erscheinung, Herr Harst. Wenn aber derselbe Mann seinen Tanzsaal zumauert, das heißt die Fenster des Tanzsaales, und auf den Fußboden dort ebenfalls eigenhändig Zement aufträgt und, wie ich mit meinen Augen gesehen habe, da er mir seine Champignon-Plantage zeigen wollte, – also gesehen habe, dass er auf dem Zement Beete für Champignons angelegt hat, die nur im Dunkeln gedeihen sollen, und wenn derselbe Mann mir erklärt, das sei so eine Liebhaberei von ihm, dann ist das doch recht auffallend, obwohl es ja mancherlei verrückte, verschrobene Käuze gibt.
Bröseke macht nun aber gar nicht den Eindruck, als ob es bei ihm oben nicht ganz richtig wäre. Nein, der Mann hat in den Augen so was Verschlagenes, und außerdem ist ja im Grünen See jetzt auch noch manches andere nicht so, wie es sein soll.
Ich schreibe hier frisch von der Leber weg, Herr Harst. Und wenn es dabei etwas bunt zugeht, so müssen Sie es mir nicht verargen. Ich bin nicht sehr für lange Schreibereien. Der Bröseke hat drei Töchter, die hier wie die Prinzessinnen rumlaufen. Und dabei hat er für die Wirtschaft nur sechstausend Mark angezahlt und besitzt auch weiter nichts, wie ich von der Steuerbehörde her weiß. Er hat bisher in Pankow-Berlin gewohnt, Essener Straße Nr. 64. Das Haus gehörte ihm. Er hat es verkauft und sofort den Grünen See gekauft, eine alte geräumige Bude mit zwei Morgen Land dabei.
Also die Töchter – wie die Prinzessinnen, wie man hier auf dem Dorf sagt. Und der Hausknecht ein feiner junger Kerl, und das sehr überflüssige Stubenmädchen so eine richtige Berliner Pflanze, die mehr in die Friedrichstraße als nach Dalchow passt.
Auch eine Rundfunkempfangsanlage hat der Bröseke sich zugelegt, mit der er jedoch kaum was hört. Ich jedenfalls habe nicht mal den Ansager verstanden. Und schließlich, Herr Harst: Dreimal hat er schon im letzten Monat Besuch bekommen, zwei Damen und ein Herr, die mit einem Motorboot über den Dalchower See kamen. In dem Boot bleibt dann nur so ein verwachsener Mensch zurück, der furchtbar grob ist. Die beiden Damen und der Herr (ich habe den Grünen See nämlich von einer Schonung aus des Öfteren beobachtet und hatte gerade Glück!) kommen immer erst von hinten an das Grundstück heran, wenn Bröseke vom Dach aus mit einem Taschentuch gewinkt hat. Die drei bleiben dann bis zum nächsten Morgen. Das Motorboot – es ist ein ziemlich großer Kutter mit Kajüte – holt die drei dann wieder ab. Auch diese drei Personen sehen so fein aus, als ob sie das Arbeiten nicht nötig hätten. Und wer heutzutage nicht arbeitet, ist ein Gauner, denke ich mir.
Aber – wie gesagt, Herr Harst, all dies sind doch lediglich seltsame Dinge, zu einem direkten Verdacht reicht das nicht hin. Ich weiß auch nicht, ob Sie meiner Schilderung mehr entnehmen, als ich es kann.
Jedenfalls: Sollten Sie noch etwas wissen wollen, so schreiben Sie nur.
Hochachtungsvoll
Friedrich Rütter,
Landjäger,
Dalchow.
Auf diesen Brief waren Harst und sein Freund und Gehilfe Max Schraut dreimal verkleidet in Dalchow gewesen, ohne jedoch Wesentliches ermitteln zu können. Daher hatten sie mit Rütter genau verabredet, wie man Bröseke zwingen könne, die beiden angeblichen Lehrer bei sich aufzunehmen.
Das war geglückt, und die heutige Nacht hatte dann weitere Erfolge gebracht: Harst war auf Viktor Manz aufmerksam geworden, als er und Schraut gegen ein Viertel elf neben dem Saal ohne Fenster in den Büschen auf der Lauer lagen, war dem Davonschleichenden gefolgt, hatte noch einen zweiten Spion bemerkt, der dem feinen Hausknecht auf den Fersen war, und saß nun wieder im Krankenzimmer und rauchte schon die zweite Mirakulum, während der eine Fensterflügel bei geschlossenen Vorhängen offenstand.
Prüfte das Erlebte nach allen Seiten hin, der große Harst, und …
… vom Fenster eine Stimme …
Schrauts Kopf …
»Schnell … schnell …! Komm!«
Harst war im Nu draußen,
»Du, sie schleppen etwas weg.. Eine Kiste«, flüsterte Schreiber-Schraut erregt. »Bröseke und Manz. Und die schwarze Fanni und die rotblonde Anni tragen ebenfalls eine längliche Rolle. Schnell! Weit können sie noch nicht sein. Sie gingen durch den Gemüsegarten und kamen aus der Hintertür des Saales.«
Schraut, der stets etwas Übereifrige, wollte blindlings davonstürmen.
Harst hielt ihn zurück.
»Halt, mein Alter!«, warnte er leise, »weißt du genau, dass die Gesellschaft keine Wachen aufgestellt hat?«
Sie standen noch im Schatten der Fliederbüsche, die an der Hauswand knorrig und baumartig wuchsen.
Standen und hatten beide gleichzeitig ein kaum gehauchtes Achtung ausgestoßen, dass Harsts letztem Wort fast unmittelbar folgte.
Die helle Nacht ließ die buschfreien Stellen des Hofes und des anschließenden Gartens in geheimnisvollem Halbdunkel.
Desto dunkler erschienen die Sträucher und wilden Rosenbüsche, die Nussbüsche und die von niederen Baumästen überragten Flecke.
Dunkel und schwarz – mit verschwommenen Umrissen.
Fantastisch in ihren Formen – wie Ungeheuer, die unwahrscheinliche Fangarme ausreckten …
Und rechter Hand lag der Seitenflügel des alten Gebäudes, der Saalanbau, heller im Anstrich als das düstere Wirtshaus.
Heller noch die drei Riesenvierecke der vermauerten Fenster mit ihrer frischen weißen Tünche – geradezu durch die Nacht leuchtend, als ob dort im Saal strahlende Lichter brannten und ihre Leuchtkraft durch dünne Vorhänge in die Finsternis sandten.
Vor dem mittleren dieser vermauerten Fenster scharf umrissen in den Konturen, hatten Harst und Schraut im selben Moment zwei Gestalten erkannt.
Einen Mann – eine Frau.
Hatten gesehen, dass die beiden sich bewegten.
Dass sie sich näherten. Plötzlich durch Büsche verdeckt wurden.
»Ins Zimmer!«, flüsterte Harst. »Und den einen Fensterflügel offen lassen … Ins Bett … mit Kleidern …«
Schraut schwang sich hinein. Der Freund half ihm.
Und als sie kaum die Steppdecken bis zum Kinn gezogen hatten, bemerkte Harst, der von seinem Bett aus die Fenster im Blick behalten konnte, dass der Vorhang am offenen Flügel sich bewegte.
Kopf und Brust, ein Arm eines Mannes wurde sichtbar …
Regungslos stand der Mann.
Ein zweiter Arm erschien – ein nackter Frauenarm – nackt bis zum halben Oberarm, wo eine helle kurzärmelige Bluse begann.
Und aus der Frauenhand schoss ein dünner Lichtstrahl hervor, irrte tastend durch das Zimmer – über die Betten, enthüllte für den Bruchteil einer Sekunde die Gesichter der beiden harmlosen Lehrer.
Der Vorhang fiel zurück.
»Ich wusste es ja«, sagte der Mann achselzuckend. »Der gute August hat zu große Angst …! Die beiden werden doch nicht nachts draußen herumgeistern …!«
Sie schritten dem Saalanbau wieder zu.
Der Mann war der Herr aus der Jacht, der Herr mit dem bartlosen, verkniffenen Gesicht und seine Begleiterin war eine der eleganten Damen.
An der Hintertür des Saales, die in den Garten führte, lehnte die andere Elegante.
»Nun?«, fragte sie leise.
»Alles in Ordnung, Amalie«, meinte der Herr. »Natürlich in Ordnung …! Sie schlafen.«
Aus der Finsternis des Saales kam ein fassungsloses Schluchzen.
»Ein allzu zartes Püppchen, die Anni!«, meinte die eine der Eleganten.
»Mir ist es auch an die Nieren gegangen«, sagte die andere scheu. »Das geschah alles zu plötzlich …«
Sie erschauerte.
Der Herr betrat den Saal.
»Kommt!, befahl er kurz.
Dann schloss er die äußere Tür, verschloss auch die zweite, die mit dicken Blechplatten benagelt war und die erst August Bröseke hergestellt hatte – zum besseren Schutz gegen allzu Neugierige.