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Die wundersamen Märlein vom Berggeist Rübezahl – 10. Kapitel

Heinrich Döring
Die wundersamen Märlein vom Berggeist Rübezahl
Verlag C. F. Schmidt, Leipzig, ca. 1840

Zehntes Kapitel

Wie Rübezahl einen kleinen Bauernjungen mit Haut und Haar verschlingen wollte

Als nun Peters wundersame Geschichte noch lange erzählt und wieder erzählt in allen Spinnstuben und Schenken wurde, da begab es sich, dass manchem die Luft anwandelte, auch sein Glück mit dem Berggeist zu versuchen. Wer durch Spiel und schlechte Wirtschaft das Seinige vertan hatte oder wen der Geiz trieb, noch mehr Schätze aufzuhäufen, erschien am Fuß der Riesenkoppe und rief den Geist, in der Erwartung, von ihm beschenkt zu werden. Rübezahl ließ sich zwar nicht blicken, doch bestrafte er die Zudringlichen auf gar mannigfache Weise. Bald lockte er sie durch blaue Flämmchen in Sümpfe, bald ließ er sie Schätze heben, die sich, wenn sie heimgekehrt waren, wieder in Laub, Steine und allerlei garstigen Unrat verwandelten. Mitunter scheuchte er auch wohl die Gewinnsüchtigen durch einen Steinhagel aus seinem Gebiet.

Es begab sich aber, als er einst in seiner Lieblingstracht, als Köhler, auf dem grünen Rasen der Riesenkoppe lag, dass eine arme Bauersfrau daher geschritten kam, einen großen Tragekorb auf dem Rücken. Ein kaum zweijähriges Kind saß darin, ein noch Klei­neres trug sie auf dem Arm. Ein Junge von etwa drei Jahren hing an ihrer Schürze. Der älteste Knabe aber eilte der Mutter voraus, die fast unter ihrer schweren Last zusammensank. Sie setzte den Korb in das Gras, und den Kleinen, den sie herausgehoben hatte, daneben und hieß die beiden älteren Kinder bei ihm zu bleiben und mit ihm zu spielen, während sie, den Säugling an der Brust, unter den Bäumen umherwanderte, das dürre Laub sammelnd. Aber der zu­rückgelassene Kleine schrie immer ärger und warf die Waldbeeren weg, die sie ihm reichte, um ihn zu beruhigen.

Da wurde die arme geplagte Frau ungeduldig und rief, um den Knaben zu erschrecken: »He, Rübezahl! Komm und friss den verdammten Schreier!«

»Da bin ich!«, sprach der Berggeist, der in seiner bekannten Köhlergestalt plötzlich vor ihr stand.

Furcht und Schrecken lähmten der Frau Zunge. »Hab Dank«, stotterte sie, »es ist schon gut – ich wollte nur den Kleinen zum Schweigen bringen.«

Da lachte aber Rübezahl laut auf und sprach: »Du hast mich gerufen – gerufen bei meinem Spottnamen, was niemand ungestraft tun darf. Her mit dem Jungen! Es ist ein guter Bissen!« So sprechend, streckte er die mit Ruß und Kohlenschwärze bedeckte Hand nach dem Knaben aus.

»Nein!«, schrie die Frau in trostloser Verzweiflung, »erst musst du mich erwürgen, ehe du meinem lieben Kind ein Leid zufügst.« Und damit ergriff sie ihn mit der einen Hand am Bart und packte mit der anderen krampfhaft seinen ausgestreckten Arm.

»Wie du dich gebärdest!«, sprach Rübezahl lächelnd. »Es war ja nur mein Scherz. Aber höre«, fuhr er fort, als die arme Frau, befreit von ihrer unendlichen Angst, tief aufatmete, »höre, der Knabe, so ungezogen er auch scheint, gefällt mir. Weißt du was? Ich will ihn annehmen an Kindesstatt, und du erhältst von mir so viele blanke Taler, dass du daran genug haben sollst dein Lebelang.«

»Nicht wahr, der kleine Schelm gefällt Euch?«, entgegnete die Frau. »Seht nur, wie er dasitzt und uns anlacht mit seinen blauen Augen. Nein, Herr, bietet mir an, was Ihr wollt – den Jungen bekommt ihr nun und nimmermehr.«

»Törin«, brummte Rübezahl finster vor sich hin, seine innige Freude über die herzliche Mutterliebe ver­bergend. »Hast du nicht Sorge und Not genug mit deinen Kindern, die du wohl kaum sättigen kannst, und willst mir nicht eines davon abtreten. Du solltest Gott danken …«

»O Herr«, unterbrach ihn die arme Frau, »würdet Ihr doch nicht so sprechen. Wenn ihr wüsstet, was sich in einer Mutter Herzen regt, wenn ihre Kinder so munter um sie her hüpfen und springen. Ihr habt recht, ich bin arm, sehr arm, aber arbeitsam und fleißig; und das muss ich wohl, denn mein Mann möchte sonst …«

»Sich doch nicht etwa an dir vergreifen?«, fiel ihr Rübezahl ins Wort. Ei, da sollte – Aber was treibt denn dein Mann?«

»Seht, lieber Herr«, entgegnete die Frau, »mein Mann muss es sich auch gar sauer werden lassen. Er hat so einen kleinen Glashandel, und da arbeitet er den ganzen Winter hindurch zu Hause, und wenn der Sommer kommt, da wandert er mit seinen Waren hinüber und herüber nach Böhmen. Wie gesagt, er muss sich sehr plagen, der arme Mann. Aber hört, es wird Mittag. Noch einmal, vergebt es mir, dass ich Euch gerufen in meiner Not, und wollt Ihr mir noch einen Gefallen tun, so helft mir meinen schweren Korb aufladen.«

Das tat Rübezahl sogleich und sah, wie die Frau, ihm freundlich dankend, sich noch oftmals um­schaute, als sie den Berg hinabwanderte, den Säug­ling an der Brust und den kleinen Schreier auf dem Arm, während die beiden älteren Kinder jubelnd vor ihr hersprangen.