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Nick Carter – Das Opfer eines Giftmischers – Kapitel 1

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Das Opfer eines Giftmischers
Ein Detektivroman

Die Geschichte eines Verbrechens

Es waren die glücklichsten Jahre im Leben Nick Carters, des großen Detektivs, als seine Cousine und schwesterliche Beraterin Ida Alstyne wie ein gütiger Schutzgeist in seinem behaglichen Haus waltete. Schön und klug, edelmütig und aufopfernd, vergötterte Ida ihren berühmten Vetter einfach. Sie sah wie zu einem Vater zu ihm auf, und zugleich widmete sie ihm auch die innige, selbstlose Zuneigung einer Schwester. Der Vater von Nick Carter war der Bruder von Idas früh verstorbener Mutter gewesen. So waren die beiden schon von Jugend auf innig verbunden gewesen, und dieser seltenen Gemeinschaft waren auch die nahezu unbegreiflichen Erfolge, welche der Detektiv in seinem Beruf zu verzeichnen hatte, zuzuschreiben.

Nick Carters Verstand und streng geschulte logische Denkweise schwebten bei jedem ihm zur Erledigung gegebenen Fall wie der Geist Gottes über den Gewässern. Ihm zur Seite stand Chicks kaum minder hoch anzuschlagende rücksichtslose Energie und allzeit vorhandene Geistesgegenwart. Weibliche Schläue und ein von jeder Leidenschaft unbeeinflusst gebliebenes Temperament waren es, was Ida in die Waagschale zu werfen hatte. Kein Wunder, dass diese zwei im Grunde so verschieden gearteten Menschen sich gegenseitig durch ihre Eigenart ergänzten und zusammen eine geradezu unüberwindliche Macht darstellten, deren vereinigte Gedankenarbeit fast spielend die schwierigsten Probleme überwand.

Nick Carter hatte sich kaum vom Frühstückstisch erhoben, als Ida, einen Brief in der Hand, zu ihm ins Esszimmer trat.

»Nick, unten ist eine Dame, welche dich zu sprechen wünscht. Sie sagt, sie käme in wichtiger Angelegenheit und sei dir durch diesen Brief hier warm empfohlen.«

Der Detektiv überflog die wenigen Zeilen, welche allerdings von einem seiner besten Freunde in Philadelphia herrührten und in denen dieser ihm die Überbringerin, Mrs. Charles H. Boughton von dort, wärmstens anempfahl.

»Ich habe die Dame unten in den Parlor geführt«, erklärte Ida, ihren Vetter fragend ansehend. »Ist dir das so recht?«

»Selbstverständlich. Bitte, leiste Mrs. Boughton einstweilen Gesellschaft, ich selbst will mich nur rasch zurechtmachen und werde sofort unten erscheinen.«

Als Nick Carter wenige Minuten später das elegant eingerichtete Empfangszimmer betrat, fand er seine Cousine in angenehmer Unterhaltung mit einer vornehm gekleideten Dame von etwa 45 Jahren, die indessen eher jünger aussah und sich in ihrem ganzen Gepräge als Lady von Mitteln, Takt und Geschmack darstellte.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Mrs. Boughton?«, erkundigte sich Nick Carter, nachdem die ersten begrüßenden Worte ausgetauscht waren und er der Besucherin gegenüber Platz genommen hatte. »Sie sind mir so warm empfohlen worden, dass ich Ihnen mit Vergnügen zu Diensten stehe.«

Die Angesprochene schien mit einiger Verlegenheit zu kämpfen. Ungewiss schaute sie auf Ida, welche unbefangen ihren Sitz beibehalten hatte, damit einem Wunsch des berühmten Detektivs entsprechend, der grundsätzlich niemals mit unbekannten Besucherinnen unter vier Augen verhandelte.

»Eigentlich würde ich es vorgezogen haben, mich allein mit Ihnen auszusprechen, denn es handelt sich um eine ebenso peinliche wie delikate Familienangelegenheit«, versetzte Mrs. Boughton endlich zögernd.

»Well, verehrte Frau, Sie können sich ungeniert in Gegenwart meiner Cousine Ida Alstyne aussprechen, denn sie gehört zu meinen wichtigsten Mitarbeitern und ist meine zuverlässigste Beraterin, mit der ich ohnehin eingehende Rücksprache über Ihre Angelegenheit halten muss«, erklärte Nick Carter lächelnd, indem er zugleich die Damen persönlich miteinander bekannt machte.

Die Besucherin schien zufriedengestellt. Mit in den Schoß gefalteten Händen saß sie geraume Zeit nachdenklich da, dann begann sie mit sanfter, zuweilen stockender Stimme: »Ich bin die Gattin von Mr. Charles H. Boughton, dem bekannten Millionär in Philadelphia, und bin nur nach New York gekommen, um mir Rat bei Ihnen zu holen. Hierbei möchte ich vorausschicken, dass mein Gatte um meinen heutigen Schritt weiß und ihn auch billigt, obwohl er der Meinung ist, dass ich mich unnützen Befürchtungen hingebe.«

»Wie gesagt, Mrs. Boughton, zunächst muss ich Ihren Fall hören, um entscheiden zu können, wie und auf welche Weise ich Ihnen nützlich zu sein vermag«, meinte der Detektiv, als seine Besucherin wieder zögernd innehielt. »Im Übrigen können Sie sich so rückhaltlos aussprechen, als ob Sie sich im Beichtstuhl befänden, denn über die Schwelle dieses Zimmers dringt nicht das Geringste – meine Cousine Ida übertrifft mich womöglich noch an Verschwiegenheit!«

»Gut also. Meine jüngere Schwester verheiratete sich mit Mr. Copeland, einem sehr wohlhabenden Witwer, welcher aus seiner ersten Ehe einen Sohn mitbrachte, den damals sechzehnjährigen Alfred. Mr. Copeland war zu jener Zeit vierzig Jahre, während meine Schwester sechsundzwanzig Lenze zählte. Seitdem sind etwa zwanzig Jahre verflossen. Nach zweijähriger Ehe beschenkte meine Schwester ihren Gatten mit einem Töchterchen, welches den Vornamen Myrtle erhielt. Als das Kind fünf Jahre alt geworden war, starb Mr. Copeland.«

»Einen Augenblick bitte«, unterbrach sie Nick Carter. »Wir wollen das gründlich feststellen. Als Mr. Copeland starb, da zählte er siebenundvierzig Jahre?«

»Beinahe auf den Tag.«

»Bei seinem Tod war sein Töchterchen etwa fünf Jahre und ist nun ungefähr achtzehn Jahre alt?«

»Ganz gewiss.«

»Dann ist der Stiefsohn Ihrer Frau Schwester heute sechsunddreißig Jahre und diese selbst zehn Jahre älter?«, fuhr Nick Carter festzustellen fort.

»Nein, meine Schwester ist tot, sie starb vor sechs Jahren.«

»Ah, so, ich verstehe – bitte fahren Sie fort, Mrs. Boughton.«

»Mr. Copeland hinterließ sehr wertvolle Besitztümer, welche der Fürsorge von Testamentsvollstreckern – und zwar waren dies außer seiner Witwe zwei seiner bewährtesten Freunde – zur Verwaltung überwiesen wurden. Im Testament selbst hatte er umfassende Vorkehrungen getroffen und bestimmt, dass meine Schwester Vormundin ihrer Tochter sein und deren Vermögen, an welchem ihr selbst der Nießbrauch zustand, verwalten sollte. Eine halbe Million Dollar fiel sofort an den Sohn, welcher damals bereits großjährig geworden war. Zwei Jahre später, wenn Alfred Copeland 25 Jahre alt geworden sei, sollte nach den Bestimmungen des Testaments das Gesamtvermögen in zwei Hälften geteilt, die eine davon an den Sohn ausbezahlt, die andere dagegen als Erbe der Tochter zurückbehalten werden. Ich wiederhole, der Nießbrauch am Vermögen ihrer Tochter Myrtle stand meiner Schwester bis zu deren Tod ungeschmälert zu. Im Falle des Todes meiner Schwester sollte nach den Bestimmungen des Testaments an ihrer Stelle als Vormund und Vermögensverwalter meiner Nichte Myrtle der Stiefsohn Alfred Copeland treten, und das Erbe für sein Mündel bis zu deren Volljährigkeit verwalten.«

»Aller Vermutung nach handelt es sich um ein ziemlich beträchtliches Vermögen?«, erkundigte sich der Detektiv, welcher die Angaben seiner Besucherin mit gespanntem Interesse verfolgt hatte.

»Als Alfred Copeland 25 Jahre alt geworden war, wurden ihm drei Millionen Dollar ausbezahlt und die gleiche Summe auf den Namen meiner Nichte Myrtle sichergestellt«, gab Mrs. Boughton zur Auskunft. »Ich möchte bei dieser Gelegenheit gleich einschalten, dass Mr. Copeland ein sehr umsichtiger Geschäftsmann gewesen ist und in seinem Testament ausdrücklich die Festlegung der meiner Nichte Myrtle gehörigen Vermögenshälfte angeordnet hat. Weder meine Schwester noch Myrtles nunmehriger Vormund, ihr Stiefbruder Alfred, konnten über das Vermögen selbst verfügen, sondern nur über dessen Zinsen, welche seit dem Ableben meiner Schwester natürlich ausschließlich in Myrtles Interesse verwendet werden sollen. Als Alfred Vormund über Myrtle geworden war, da focht er in erbitterten Prozessen gegen die damals noch am Leben befindlichen zwei Testamentsvollstrecker das Testament an und forderte die Herausgabe von Myrtles Erbteil in seine eigene ungehinderte Verwaltung. Doch er verlor diese sämtlichen Prozesse, und das Vermögen, in sicheren Staatspapieren angelegt, untersteht noch heute der Verwaltung der First National Bank in Philadelphia, welche Alfred Copeland die Zinsen pünktlich überweist.«

»Bis jetzt scheint mir alles in Ordnung zu sein«, bemerkte Nick Carter, fragend die Besucherin anschauend. »Ich setze voraus, dass Ihre Nichte noch am Leben ist und sich unter der Vormundschaft ihres Stiefbruders befindet?«

»Beide Fragen treffen zu«, versetzte Mrs. Boughton mit seltsam verschleiert klingender Stimme. »Myrtle lebt heute noch, wenn auch nur dem Körper nach – doch Gott allein weiß, ob sie auch noch in drei Jahren lebt, wenn sie volljährig geworden sein wird.«

Der Detektiv schaute seine Besucherin prüfend an. Er sah, dass unverhüllter Kummer aus deren umwölkten Gesichtszügen sprach.

»Eine Zwischenfrage, Mrs. Boughton«, bemerkte er. »Wo befindet sich Miss Myrtle Copeland?«

»Im Hause meines Stiefneffen hier in New York. Alfred Copeland hat Chemie studiert, sich aber zu keinem Lebensberuf entschieden, sondern begnügt sich damit, von seinen Zinsen zu leben und sich mit allerhand chemischen Experimenten und dergleichen mehr zu beschäftigen. Soviel mir bekannt ist, hat er sich in seinem Hause

an der 5th Avenue ein Laboratorium eingerichtet. Doch das weiß ich nur vom Hörensagen, und ebenso kann ich nur vermuten, ob meine Nichte Myrtle sich in jenem Haus aufhält oder nicht, denn tatsächlich hat von der ganzen Verwandtschaft niemand seit dem plötzlichen Ableben meiner Schwester das Mädchen wieder zu Gesicht bekommen.«

»Das klingt seltsam«, gestand Nick Carter, sie überrascht anblickend. »Ich nehme an, dass das Wohl und Wehe Ihrer Schwestertochter Ihnen am Herzen liegt und Sie sie häufig besucht haben?«, versetzte er fragend.

»Beides trifft zu«, gestand Mrs. Boughton, noch um eine Nuance bleicher im Gesicht. »Doch mit meinem Versuch, Myrtle aufzusuchen, hatte es auch sein Bewenden. Zu sehen bekam ich sie niemals, weil – wie Alfred Copeland übereinstimmend bei jeder solchen Gelegenheit erklärte – ein derartiger Besuch nur nachteilig auf Myrtles Gemütszustand einwirken dürfte.«

»Ah, so«, machte Nick Carter gedehnt. »Die junge Dame ist geistig nicht recht entwickelt, oder …«

»Hören Sie mich an, Mr. Carter, Sie werden alsdann am besten zu beurteilen wissen, was mich bedrückt«, fuhr Mrs. Boughton mit verschleiert klingender Stimme fort. »Ich sehe mich genötigt, auf das plötzliche schreckliche Ende meiner Schwester zu sprechen zu kommen.«

»Noch eine Frage zuvor«, warf der Detektiv rasch ein. »Ihre Frau Schwester lebte mit Ihrer Tochter in Philadelphia?«

»Allerdings, in dem ihr als Witwenanteil hinterlassenen Haus ihres verstorbenen Gatten. Auch Alfred Copeland, der in Europa geweilt hatte, als sein Vater gestorben war, wohnte damals mit seiner Stiefmutter zusammen und beschäftigte sich zu jener Zeit ganz besonders eifrig mit allen möglichen chemischen Experimenten. Durch ein derartiges Experiment kam auch meine unglückliche Schwester zu Tode«, schloss die Besucherin mit unsicherer Stimme, offenbar nahe daran, von der Erinnerung mit all ihrem Weh überwältigt zu werden.

»Vermutlich wurde der Tod durch irgendeine Unvorsichtigkeit veranlasst?«, glaubte Nick Carter der leise vor sich Hinweinenden zur Hilfe kommen zu sollen.

»So sagt man, und so glaubt auch heute noch alle Welt«, hauchte Mrs. Boughton, tapfer gegen ihre Schwäche ankämpfend. »Der plötzliche, schreckliche Tod meiner Schwester, an welcher Myrtle voll schwärmerischer Liebe hing, warf das junge Mädchen auf das Krankenlager, ein hitziges Nervenfieber überfiel sie, welches nachteilig auf ihre Verstandeskräfte eingewirkt haben und dessen Nachwirkungen auch heute noch nicht verschwunden sein sollen«, setzte Mrs. Boughton mit eigentümlicher Betonung hinzu.

»Falls Sie sich hierzu kräftig genug fühlen, möchte ich Sie bitten, mir über die näheren Umstände beim Tod Ihrer Frau Schwester ausführlich zu berichten«, versetzte Nick Carter, welcher plötzlich tiefernst geworden war, nach kurzem Schweigen.

»Darum bin ich hierhergekommen – verzeihen Sie mir, wenn mich die Erinnerung zuweilen überwältigt, doch Florence war meine Lieblingsschwester – und – und – doch hören Sie«, raffte sich die Besucherin gewaltsam auf, zugleich mit dem Taschentuch ihre Tränen trocknend. »Wie ich schon sagte, vertrödelte Alfred Copeland damals seine ganze Zeit mit chemischen Spielereien; hatte er irgendetwas entdeckt, was ihm in seiner Wirkung bemerkenswert erschien, so führte er seiner Stiefmutter und Halbschwester das Experiment vor und erwartete, von beiden hierfür gebührend bewundert zu werden. Ähnlich verhielt es sich auch an jenem Unglückstag. Mutter und Tochter saßen in glühender Julihitze auf der schattigen Veranda und erfrischten sich gerade mit Mineralwasser, als Alfred mit einem Fläschchen in der Hand zu ihnen trat, welche er gerade frisch destilliert hatte und die sich aus Pflanzengift der gefährlichsten Art zusammensetzte.«

»Ah!«, kam es von den Lippen des Detektivs. »Wahrscheinlich wurde durch den sattsam bekannten Zufall das Glas, welches Mr. Copeland zu seinem Experiment verwendet hatte, mit dem Trinkglas Ihrer Frau Schwester verwechselt, und diese nahm auf solche Weise von dem Gift zu sich?«

Statt jeder Antwort brach die Besucherin nur in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Sie hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen und nickte nur bejahend, während Ida sich zartfühlend um die Dame bemühte und sie zu beruhigen versuchte.

»So lange es auch schon her ist, die Wunde bricht immer wieder in meinem Herzen auf, wage ich es auch nur, über das damalige schreckliche Ereignis zu sprechen«, gestand Mrs. Boughton, nachdem sie sich notdürftig wieder gefasst hatte. »Alfred selbst schien damals dem Wahnsinn nahe, und wir alle glaubten an ein unglückseliges, zufälliges Verwechseln der Trinkgläser, bis das eigentümliche Verhalten meines Stiefneffen, der im Verlauf der Jahre seinen habsüchtigen Charakter immer deutlicher enthüllte, mich stutzig machte.«

»Verstehe ich Ihre Andeutungen richtig, verehrte Frau«, fiel der Detektiv nachdenklich ein, »so machen Sie Mr. Copeland einen Vorwurf daraus, dass er sein Mündel Myrtle Ihnen und der ganzen übrigen Verwandtschaft fernhält – und dies unter der Behauptung, dass der Geisteszustand seiner Stiefschwester derartige Verhaltensmaßregeln absolut verlange?«

Die Besucherin nickte und setzte nach kurzem Zögern hinzu: »Ich kann nur wiederholen, dass es sich bei mir lediglich um Vermutungen handelt. Ich habe keinerlei Handhabe, welche mich berechtigt, einen bestimmten Verdacht gegen Alfred Copeland laut werden zu lassen. Doch ich habe Rücksprache mit unseren berühmtesten Ärzten genommen, und diese sind einhellig der Ansicht, dass das Nervenfieber unmöglich auf meine Nichte eine derartige Wirkung gehabt und ihren Geisteszustand dauernd nachteilig beeinflusst haben kann. Myrtle müsste vielmehr sich schon seit Jahr und Tag wieder gekräftigt fühlen und körperlich wie geistig gesund geworden sein.«

»Das ist jedoch nur eine Vermutung, verehrte Frau«, warf der Detektiv ein. »Ich setze voraus, dass Mr. Alfred Copeland seine junge Stiefschwester unter ärztliche Behandlung gestellt hat?«

»Das ist es ja gerade, was mich peinigt – diese schreckliche Ungewissheit, zu welcher ich mich verdammt sehe!«, rief die Besucherin erregt aus. »Urteilen Sie selbst, Mr. Carter! Nachdem meine Nichte sich so weit wieder vom Nervenfieber erholt hatte, dass sie reisefähig war, brachte Alfred Copeland sie von Philadelphia in ein Sanatorium in North Carolina – und von jener Stunde an habe ich weder meine Nichte selbst wieder zu Gesicht bekommen noch auch das geringste Lebenszeichen von ihr erhalten. Ja, ich weiß nicht einmal, wo sie sich augenblicklich befindet.«

»Verzeihen Sie, habe ich Sie vorhin richtig verstanden, so erklärten Sie mir, dass Ihr Stiefneffe mit seinem Mündel hier in New York an der 5th Avenue lebe?«, unterbrach der Detektiv sie rasch.

»Das ist ja gerade das Unheimliche!«, versetzte die Besucherin in großer Erregung. »Nur ein bloßer Zufall ließ mich über den jetzigen Aufenthaltsort dieses Alfred Copeland mehr in Erfahrung bringen, als ihm jedenfalls wünschenswert erscheinen dürfte. Ich befand mich vor einigen Wochen bei einer hiesigen Freundin zu Besuch, welche gleichfalls an der 5th Avenue wohnt. Ich hielt mich in jenem Haus verschiedene Tage auf. Eines Abends war meine Freundin in die Oper gefahren, und ich war im letzten Augenblicke zuhause geblieben, da ich plötzlich wieder einen Anfall meiner Migräne hatte. Am Abend hielt ich mich im dunklen Wohnzimmer auf, stand am Fenster und kühlte an dessen Scheibe meine brennende Stirn.

Da fiel mir flackernder Lichtschein im gegenüberliegenden Haus auf. Zuerst sah ich ihn, ohne darauf zu achten, von den Fenstern des obersten Stockwerkes aus auf die Straße fallen. Dann flammte die flackernde Kerze aus der Fensterreihe des dritten Stockwerks. Wie ich unwillkürlich näher zuschaue, erblicke ich ein junges Mädchen im Nachtgewand, mit langem, aufgelöstem, blondem Haar. Sie hatten ein Fenster geöffnet und sich so weit aus diesem gebeugt, dass es mir fast schien, als wollte sie sich auf die Straße hinunterstürzen. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich im zweiten Stockwerk. Wenige Augenblicke später wurde im Parlorflur die Haustür geöffnet, und ich erblickte dasselbe Mädchen, die brennende Kerze in der Hand, auf der obersten Stufe der steinernen Freitreppe, die auf die Straße hinunterführte. Im selben Moment aber tauchten auch schon ein hochgewachsener Mann sowie eine ältere Frau auf, und beide versuchten, halb überredend, halb gewaltsam, das nur im Nachtgewand befindliche junge Mädchen ins Haus zurückzuziehen. Natürlich war meine Neugierde geweckt, und ich hatte mein auf dem Tisch liegendes Opernglas zur Hand genommen. Sie können sich meine Bestürzung und Überraschung denken, Mr. Carter, als ich durch das Glas die von dem elektrischen Licht hell beleuchteten Gesichtszüge des vergeblich mit den beiden Personen ringenden jungen Mädchens deutlich zu erblicken vermochte und im selben Moment auch schon meine tote Schwester Florence zu erblicken glaubte – und zwar genau so, wie sie leibte und lebte, als sie ein Mädchen von 18 Jahren war, also im selben Alter stand wie jetzt meine Nichte Myrtle.

Auch der sie gewaltsam ins Haus zurückziehende Mann, welchen ich nun scharf durch das Opernglas betrachtete, erschien mir bekannt. Ja, er schien sogar der äußeren Erscheinung meines Stiefneffen Alfred Copeland zu entsprechen – freilich muss ich hinzufügen, dass dieser rothaarig war, während der von mir beobachtete Mann tiefschwarz erschien und einen ebensolchen Vollbart trug. Sie können sich denken, dass ich noch am selben Abend in Erfahrung zu bringen suchte, wer jenes Haus bewohnte.

Man berichtete mir, in dem Haus wohne ein Mr. Atherson, das Haus sei von ihm auf eine Reihe von Jahren gemietet, doch er halte sich nur vorübergehend darin auf. Wie die Leute wissen wollten, war das von mir beobachtete Mädchen seine geisteskranke jüngere Schwester. Weiter wusste man mir nichts anzugeben, da das Hauspersonal äußerst verschwiegen sei und kein Besucher vorgelassen würde. Nun kommt das Seltsame.«

»Ich kann es mir denken«, fiel Nick Carter erwartungsvoll ein. »Sie versuchten, sich persönlich zu überzeugen, und sprachen in dem Haus schon am nächsten Morgen vor!«

»Ganz genau so, Mr. Carter«, fuhr die Besucherin fort. »Auf mein Klingeln öffnete mir ein Diener, der mir rundweg erklärte, dass seine Herrschaft keinerlei Besuche annehme. Ich ließ mich so leicht nicht abweisen, mochte auch ziemlich laut geworden sein, denn plötzlich gesellte sich dem Diener jener hochgewachsene Mann bei, welchen ich am Abend zuvor durch mein Opernglas betrachtet hatte. Was soll ich Ihnen sagen, Mr. Carter«, fuhr Mrs. Boughton in großer Erregung fort. »Trotz der veränderten Haarfarbe und des großen Vollbartes – Alfred Copeland war immer glatt rasiert gewesen – glaubte ich, meinen Stiefneffen mit Bestimmtheit wiederzuerkennen, und ich sagte ihm dies auch auf den Kopf zu. Doch er erklärte mir mit eiserner Bestimmtheit, dass ich mich in seiner Person täusche – er kenne keinen Mr. Alfred Copeland, habe auch nie von einem solchen gehört, und im Übrigen sei er nicht in der Lage, irgendwelchen Besuch anzunehmen. Damit schloss er ohne Weiteres die Tür und ließ mich draußen auf der Treppe stehen.«

»Well, das war ungezogen von dem Mann«, versetzte Nick Carter nachdenklich. »Sie glauben, Ihrer Sache sicher zu sein und in ihm Ihren Stiefneffen Alfred mit Bestimmtheit wiedererkannt zu haben?«

»Mr. Carter, glauben heißt bekanntlich für wahr halten«, bemerkte Mrs. Boughton unter leichtem Zögern. »Wirklich kam mir der Gentleman sehr bekannt vor. Auf der anderen Seite habe ich Alfred Copeland nur bei wenigen Gelegenheiten persönlich zu Gesicht bekommen. Er selbst war in Philadelphia nur oberflächlich bekannt, da er fast immer auf Reisen weilte, dorthin auch erst kurz vor dem Tod meiner armen Schwester zurückkehrte und schon wenige Wochen später mit Myrtle die Stadt wieder verließ. Die beiden Testamentsvollstrecker, welche ihn genau kannten, sind seither verstorben, und so kommt es, dass Alfred Copeland in diesem Land überhaupt nur wenigen Personen bekannt ist.«

»Immerhin aber glauben Sie, ihn persönlich erkannt zu haben – und noch mehr, das von Ihnen durch das Opernglas betrachtete Mädchen erschien seiner Mutter, Ihrer verstorbenen Frau Schwester Florence, täuschend ähnlich zu sein?«, wollte der Detektiv wissen.

»Das Mädchen glich meiner armen Schwester wie ein Tropfen Wasser dem anderen!«, rief Mrs. Boughton in großer Erregung. »Ich möchte es beschwören, dass es sich um meine Nichte Myrtle handelt – und Sie werden zugeben, Mr. Carter, dass das Verhalten meines Stiefneffen mindestens auffällig genannt werden muss!«

»Well, verehrte Frau«, wich der Detektiv einer Beantwortung aus. »Haben Sie seither irgendwelche weiteren Schritte unternommen?«

»Gewiss, ich beauftragte eine Detektivagentur in Philadelphia mit weiteren Nachforschungen. Doch diese fielen unfruchtbar aus. Die Agentur brachte nur in Erfahrung, dass der Mieter des betreffenden Hauses Mr. Atherson heiße und sich wiederum auf Reisen begeben habe. Er soll wohlhabend sein und keinerlei Verkehr unterhalten. Wie mich nun die Agentur benachrichtigte, weile er seit einer Woche wieder in dem Haus. Ob in diesem aber auch das sich von mir beobachtete Mädchen, welches ich für meine Nichte Myrtle halte, aufhält, weiß man nicht. Das Hauspersonal ist unzugänglich.«

»Verstehe ich Sie recht, Mrs. Boughton, so wünschen Sie nun von mir den Nachweis geliefert zu erhalten, ob dieser Mr. Atherson identisch mit Ihrem Stiefneffen Copeland ist?«, erkundigte sich der Detektiv gedehnt.

Die Besucherin nickte nur schweigend.

»Well, Mrs. Boughton«, fuhr der Detektiv nachdenklich fort, »ich muss Ihnen offen gestehen, dass eine derartige Tätigkeit kaum in den Rahmen meines Berufes passt. Was würden Sie, gesetzt den Fall, wir stellen die Identität des Mannes fest, dadurch gewonnen haben? In diesem Land steht ein Namenswechsel jeder Person frei, außer ein solcher erfolgt verbrecherischer Absicht halber – und solche Ihrem Stiefneffen nachzuweisen, wird umso schwerer fallen, als er der gesetzlich bestellte Vormund seiner Stiefschwester ist und jede behördliche Einmischung in seine Angelegenheiten umso mehr zurückweisen kann, als ja das Vermögen des jungen Mädchens völlig festgelegt ist.«

»Sie vergessen, dass Alfred Copeland der einzige gesetzliche Erbe seiner Stiefschwester Myrtle ist«, fiel die Besucherin beinahe heftig ein. »Ferner glaube ich mit aller Bestimmtheit, dass Alfred Copeland den unnatürlichen Tod seiner Stiefmutter absichtlich herbeigeführt hat! Ich behaupte ferner, dass er Myrtle nur aus dem Grund verborgen hält, um sie ebenfalls vor erreichter Großjährigkeit sterben zu lassen!«

»Eine sehr ernste und meiner Ansicht nach ganz haltlose Anklage!«, warf Nick Carter ein.

»Gewiss, und was noch schlimmer ist, ich stehe mit meiner Ansicht allein da!«, gestand Mrs. Boughton seufzend. »Doch ich weiß, dass ich recht habe!«

»Aber Sie müssen doch Gründe haben, auf welche Sie einen derartigen schrecklichen Verdacht stützen?«, versetzte der Detektiv eindringlich.

»Es sind nur Vermutungen, doch in meinen Augen wiegen sie schwerer als bloße Vernunftsgründe«, gestand die Besucherin. »Von der Krankenschwester, welche Myrtle während ihres Nervenfiebers pflegte, brachte ich in Erfahrung, dass das Kind in seinen Fieberfantasien immer wieder behauptete, gesehen zu haben, wie Alfred die beiden Gläser vertauscht habe. Als der junge Copeland gewahr wurde, dass die Krankenschwester mir eine derartige Eröffnung gemacht hatte, verschwand diese plötzlich spurlos.«

»Spurlos?«, bemerkte der Detektiv. »Hm, wie hieß denn diese Wärterin?«

»Annie Moran. Ich habe noch etwas mehr zu sagen. Vor zwei Wochen bekam ich diese Mitteilung, welche keine Unterschrift, wohl aber den Poststempel New York trägt.«

Damit händigte sie Nick Carter einen Papierstreifen aus, auf welchem mit Bleistift die Worte vermerkt standen: Falls Mrs. Boughton an ihrer unglücklichen Nichte Myrtle irgendwelches Interesse nimmt, so sollte sie nicht länger verabsäumen, sich um deren Wohlergehen zu kümmern.

Wohl eine Minute blieb Nick Carter nachdenklich sitzen, ohne den Blick von den wenigen Zeilen zu wenden. Dann erhob er sich plötzlich, mit einem entschlossenen Zug in seinen ernsten Mienen.

»Well, Mrs. Boughton, alles, was mir vorläufig zu tun übrig bleibt, ist meiner Meinung nach, persönlich diesen Mr. Alfred Copeland, welchen Sie hinter dem Decknamen Atherson vermuten, aufzusuchen. Ehe ich Ihnen irgendwelche Auskunft oder meinen Entschluss bekanntgeben kann, ob ich den Fall annehmen will oder nicht, muss ich mir diesen Mann persönlich angesehen haben. Entweder geschieht ihm himmelschreiendes Unrecht oder er ist ein Schurke, wie man ihn sich verächtlicher und gefährlicher nicht denken kann! Entschuldigen Sie mich, wenn ich mich sofort auf den Weg mache und Sie bitte, mir Ihre hiesige Adresse zurückzulassen, damit ich mich jederzeit mit Ihnen ins Einvernehmen setzen kann.«

Damit empfahl sich Nick Carter, um sich unverzüglich nach dem ihm genau von Mrs. Boughton beschriebenen Haus an der 5th Avenue zu begeben.