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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Die Bruderschaft der Weißen Väter – Teil 6

Immer noch zitterte das Gehäuse und begann nun sogar mit deutlich hörbarem Rattern über den Boden zu hüpfen. Es kostete Tony Tanner eine gewisse Überwindung, den Gegenstand in die Hand zu nehmen. Er stellte fest, dass das Metallgehäuse erstaunlich warm war. Als er den Deckel aufklappte, wollte er seinen Augen nicht trauen. Der Zeiger drehte sich mit der Geschwindigkeit eines Flugzeugpropellers im Kreis, stoppte dann plötzlich, um im nächsten Moment in die Gegenrichtung zu rotieren. Auf Tonys Handfläche war deutlich zu spüren, mit welcher Wucht das kleine Metallstück gestoppt und beschleunigt wurde. Das Phänomen war unerklärlich, aber nachdem er einige Zeit auf den Kompass gestarrt hatte – inzwischen begann die Flüssigkeit, in welcher der Zeiger gelagert war, durch die Reibungswärme schon Blasen zu entwickeln – erkannte er einen Rhythmus.

Es mochte Zufall sein, vielleicht auch eine Art von Suggestion, die durch die ganze, völlig absurde Situation hervorgerufen wurde, aber er bemerkte, dass der Rhythmus eines Ein- und Ausatmens in etwa mit dem Hin- und Her des Zeigers übereinstimmte. Aber nein, das konnte nichts zu sagen haben. Tony schloss die Augen, versuchte nachzudenken, während auf seiner Handfläche der Kompass wie ein Messgerät bebte. Es gab nur eine Erklärung.

Irgendwo in der Nähe musste eine starke Energiequelle, deren Energiefeld den Kompass beeinflusste.

Seine physikalischen Kenntnisse waren nicht ausreichend, um weitere Folgerungen zu ziehen. Und es ging ihn auch nichts an. Er hatte anderes zu tun. Mit diesem Gedanken, der nun aber auch gar nichts Tröstliches mehr hatte, öffnete Tony die nächste Türe und leuchtete in den Raum. Der Lichtkegel tanzte über einen leeren Boden, erfasste im Hintergrund einige Rollbahren und Schränke. Der nächste Raum. Nichts. Aber der Kompass reagierte. Der Rhythmus wurde schneller. Nächster Raum – verschlossen – Schlüsselbund – suchen – falscher Schlüssel, der nächste – wieder falsch – na endlich – aufschließen – nichts. Einige Gymnastikgeräte, das war ‘s.

Jetzt blieb nur noch eine Tür, dann kam der Durchgang, der zu der geschlossenen Abteilung führte. Auch diese letzte Tür war verschlossen. Wieder kam dieses lästige Spiel mit dem Schlüsselbund. Wenn du nicht so blöd wärst, Tanner, dann hättest du dir gemerkt, mit welchem Schlüssel die vorige Tür aufging. Verdammt, hatte ich den jetzt schon probiert oder nicht? Nur die Ruhe, alter Junge. Ganz ruhig. Im schlimmsten Fall werden dich die Jungs hier zusammenfalten und Serebriakoff nimmt dir dein Gehirn raus. Dann kannst du immer noch Journalist werden. Na endlich geht die Tür auf!

 

Lautlos schwang die Tür auf. Dahinter war der erwartete dunkle Raum, aber jetzt zögerte Tony. Er empfing Signale, hörte etwas, ohne es zu bemerken, empfand etwas, ohne es benennen zu können, und alles das formte sich zu einem einzigen Warnschrei, der aus seinem Unbewussten in seine Gedanken drang. Tu es nicht! Schließe die Tür, gehe fort und vergiss es!

Für einen Moment wankte Tony, überlegte und wurde zwischen Furcht und Neugier hin- und hergerissen. Es gab einen leisen Knall, als das Mineralglas des Kompasses zersprang und die ölig riechende Flüssigkeit heiß und schmerzhaft auf seine Handfläche spritzte. Tony warf das Gehäuse fort. Es war der Schmerz, der ihn für einen kurzen Moment wütend machte und ihn in den Raum leuchten ließ, als könnte er damit die aufblitzende Aggression abbauen.

Etwas leuchtete hell. Etwas Rundes. Tony Tanner schaute auf das Bild, das sich ihm im Schein der Lampe bot und versuchte, dieses Bild zu verstehen. Kahle Schädel. Menschen mit kahlen Schädeln, in schwarze Gewänder gekleidet, in einem Doppelkreis auf dem Boden sitzend.

Tony lehnte an der Türeinfassung, hielt die Taschenlampe und wartete auf den unvermeidlichen Schrei, der ihn verraten, die Wachen herbeirufen, der ihn ausliefern würde. Aber nichts dergleichen geschah. Sie beachteten ihn nicht. Sie bemerkten ihn nicht einmal. Völlig still, völlig in sich versunken saßen die Gestalten auf dem Boden. Ein Gleichklang von leisem, röchelndem Atem lag über der Gruppe. Der erste Eindruck, den Tony gewinnen musste, war der einer fernöstlichen Meditationszeremonie. Nur die Sitzposition passte nicht in dieses Bild.

Einige wenige saßen im Schneidersitz, andere hatten sich einfach hingehockt wie Kinder oder kauerten auf den Unterschenkeln. Diejenigen, die den inneren Kreis bildeten, hielten die Hände der Nachbarn in den ihren. Die anderen aus dem äußeren Kreis hatten eine Hand auf die Schulter des Nebenmannes gelegt und die andere auf die Schulter des vor ihnen Sitzenden.

Wenn nicht der leise Hauch des Atmens gewesen wäre und eine kaum merkliche Bewegung der Brust bei einigen, dann hätte Tony Tanner glauben müssen, hier vor einer Versammlung von Puppen zu stehen. Leblos und doch lebend, eingeschlossen in den Kokon einer ihm nicht zugänglichen Welt saßen sie im Dunkeln, das seine Taschenlampe nun auf geradezu obszöne Weise verdrängte. Vorsichtig wagte Tony einen Schritt in den Raum. Es gab keine Reaktion.

Die Gesichter, schmal und verhärmt, blieben unbewegt.

Nun erst fiel Tony auf, dass auch einige Frauen unter den Sitzenden waren. Aber vielleicht täuschte er sich auch, denn die Anwesenden wirkten auf seltsame Art zugleich alters- und geschlechtslos, als hätten unbekannte Ereignisse diese Eigenheiten aus ihren Zügen gespült so, wie Wellenschlag einen Felsen abschleift. Der Lichtkegel der Lampe wanderte umher. Die Situation nahm etwas Fremdartiges und Traumhaftes an.

Tony Tanner wanderte als Einbrecher unter Menschen, die ihn nicht bemerkten, als wäre er unsichtbar. Menschen? Was waren das für Narben auf den kahlrasierten Köpfen? Tony schluckte und trat mit einigem Widerwillen an den Nächsten heran. Der Anblick verschlug ihm den Atem und erweckte im gleichen Moment Übelkeit. Wie ein Kreis zog sich eine rote, entzündete Narbe um den Schädel der Gestalt. Man hatte ihm …

Man? Es musste Serebriakoff gewesen sein – hatte ihm den Schädel geöffnet. Oder, das Bild drängte sich auf, hatte einen Teil der Schädelkalotte abgenommen und dann wieder aufgesetzt. Und daraufhin hatte man dem Heilungsprozess wenig Aufmerksamkeit gewidmet, denn das Gewebe hatte entzündliche Wucherungen hervorgebracht, die wie rötliche Kiemen über der weißen Haut hingen. Bei dem Nächsten war der Heilungsprozess besser abgelaufen.

Aber dann fiel der Lichtschein auf einem Kopf, bei dem ein Teil des Schädelknochens fehlte.

Durchschimmernde Haut, von einem Gespinst blauer Äderchen durchzogen, bedeckte das handgroße Loch, dessen Ränder sich deutlich abhoben. Tony richtete sich auf. Er musste nun tief durchatmen. Und dabei wurde ihm der Geruch bewusst, der über der Gruppe lag – etwas von Desinfektionsmitteln, von Operationssälen und dem Schweiß mit schweren Medikamenten am Leben erhaltener Körper war darin, aber auch etwas anderes, das nicht in Worte zu fassen war, das Tony aber erschauern ließ. Widernatürlich und krank. Das war es.

Die Worte des Mädchens fielen ihm ein. Sie hatte von Experimenten gesprochen, die Serebriakoff an Patienten ausführte. Aber das hier war mehr als ein bloßes Experiment. Diese Gruppe mit ihrem völlig einheitlichen, maschinenartigen Einatmen und Ausatmen war – ja, sie wirkte selbst wie eine Maschine, deren Einzelteile durch diese Menschen gebildet wurde. Oder diese Wesen, die einst Menschen gewesen waren. Noch einmal überwand sich Tony und näherte sich einem Gesicht. Die Augen der Gestalt waren verdreht. Eine Pupille war noch in einem Lidwinkel erkennbar, ansonsten schimmerte glanzloses Weiß. Kein Nerv zuckte, keine Bewegung verriet, dass die Nähe eines anderen Menschen gespürt wurde. Dieses Gesicht war nichts als eine Maske aus weißer Haut. Eine Larve, die etwas anderes verbarg. Etwas, das Tony nicht verstand. Das er vielleicht deshalb nicht verstand, weil seine Überlegungen zurückschraken, weit vor dem Punkt, den ein Mann wie Serebriakoff als seine Grenze ansehen würde.

 

Einen Augenblick lang war Tony unentschlossen. Da war die Tür zum Gang. Ihr matt schimmerndes Rechteck markierte den Weg, den er noch vor sich hatte. Aber hier waren diese Gestalten, diese Menschenmaschine, dieses perverse Experiment Serebriakoffs – und plötzlich stieg Zorn in ihm auf. Er ergriff einen Arm und wollte ihn von der Schulter des Nachbarn zerren. Der Widerstand war völlig unerwartet. Unter seinem Griff fühlte Tony ein dürres, fast nur aus Haut und Knochen bestehendes Glied. Aber dieses jämmerliche Ärmchen war auf der Schulter wie angenäht. Tony keuchte, sein Herz begann zu rasen, Schweiß drückte sich durch die Poren. Er zog und zerrte, wurde mit jeder Sekunde des erfolglosen Bemühens wütender.

Als wollten sie ihn verspotten, blieben sie unbeeindruckt, atmeten ruhig wie ein einzelner Körper.

Tony wollte fester zupacken, rutschte ab und landete, nachdem er einige hilflose Schritte gemacht hatte, auf dem Hosenboden. Er rappelte sich auf. Der Sturz hatte geschmerzt. Die Narben auf seinem Schulterblatt begannen zu pochen, als säßen glühende Nadeln auf ihnen.

Kaum konnte er einen lauten Wutschrei unterdrücken, als er jetzt erneut an den Kreis trat und an einem Arm riss. Irgendetwas musste geschehen sein – mit ihm oder mit der Gruppe. Der Arm flog ohne größeren Widerstand von der Nebenschulter. Ein weiterer Griff und auch die Verbindung zum Vordermann waren gelöst und dann war der Arm des Nebenmannes dran und wurde von der Schulter gewischt. Die erste Gestalt war nun frei, ohne Kontakt zu den Nebenleuten. Sie kippte mit verkrampften Gliedern, in einer lächerlichen Häschenstellung, nach hinten um. Ihr Atem stockte. Im Lampenschein erkannte Tony voller Schrecken Bläschen auf den rissigen Lippen. Dann holte die Gestalt Atem. Ein tiefer, heulender, röchelnder Atemzug, der sich durch Schleim hindurchsaugen musste.

Die Gruppe stöhnte, verfiel aber sofort wieder in den eigenen Rhythmus. Nun war die nächste Gestalt an der Reihe. Tony verspürte keinen Widerstand mehr. Er musste nur noch gegen den Schmerz ankämpfen, der in seiner Schulter saß und ihn lähmen wollte. Eine Gestalt nach der anderen verlor den Kontakt zu der Gruppe, fiel um, schnappte mit einem unbeschreiblichen, heulenden Geräusch nach Luft. Als er die letzen beiden getrennt hatte, erklang ein Schleifen und Tapsen und Tony fuhr herum. Die Ersten versuchten aufzustehen.

Unbeholfen und wankend richteten sie sich auf und schlurften dann ziellos durch den Raum. Sie stießen aneinander, fielen zu Boden oder schoben sich aneinander vorbei.

Als Tony erkannte, dass ihre Ziellosigkeit nur scheinbar war, war es zu spät. Sie hatten ihn umzingelt, streckten die Arme aus und tasteten unbeholfen nach dem Störenfried in ihrer Mitte.

Tony drehte sich blitzschnell um die eigene Achse. Das Licht sprang von einem Gesicht zum anderen, von einer Maske zur nächsten. Immer noch waren die Züge unbewegt und gleichmütig. Aber die Augen waren zum Leben erwacht. Kalt und starr wie Reptilien blickten sie ihn an. Starrende, bewegungslose Pupillen, in denen ein gemeinsamer Wille funkelte.

Ihn zu vernichten. Tony hörte das Rascheln hinter sich, aber bevor er reagieren konnte, hatte eine Hand seinen Kopf gepackt und krallte sich durch den dünnen Stoff seiner Mütze in die Haare. Eine zweite Hand tastete über seinen Hals. Er wollte den Arm zur Abwehr heben, aber aus dem Dunkel kam die nächste Hand und hielt ihn eisern fest. Wie die Tentakel eines Kraken fuhren die Arme der Gestalten auf und ab, tasteten nach Tony Tanners Körper und krallten sich an ihm fest. Eine knochige Hand fuhr über sein Gesicht, bedeckte seine Augen, seine Nase, glitt über das Kinn und fasste seine Gurgel. Die nackten Füße schlurften über den Boden, als die Gestalten ihren Kreis enger zogen.

Tony konnte sich kaum noch bewegen. Er wurde von allen Seiten festgehalten, dazu pressten die Gestalten mit ihren knochigen Körpern seine Arme an seinen Rumpf. Die Hand an seinem Hals drückte zu, presste ihm mit den Skelettfingern die Luft ab.

Mit aller Kraft bäumte sich Tony Tanner auf, drückte gegen den Widerstand, versuchte, einen Arm freizubekommen.

Der Schweiß rann ihm in die Augen, die Adern am Hals schwollen an und pochten wie Schmiedehämmer. Die Zeit zog sich in die Länge, jede Sekunde walzte sich unendlich aus, wurde zu einer endlosen Hölle der Anstrengung und hilfloser, verzweifelter Mühe. Hier und da glitschte ein Griff von seinen verschmierten Kleidern ab, um woanders nach neuem Halt zu fingern.

 

Tonys Muskeln zitterten vor Anstrengung. Es kam der Moment, an dem er nicht mehr konnte, die Grenze, hinter dem der Schmerz zu stark war und die Kapitulation die einzige Möglichkeit. Tony ließ diese Grenze hinter sich. Er gab nicht auf und nannte sich dafür selbst einen Trottel. Das Stöhnen, so nahe bei seinen Ohren, war er es selbst? Dieses heisere Röcheln, kam es von ihm oder von den Gestalten, die sich näher und näher drängten und ihn nun fast zwischen sich zerquetschten? Rote Schlieren tanzten vor Tonys Augen. Das war das Ende.

»Bissen Spakkenboi«, schimpfte Stalka und hob Tony Tanner in die Höhe. Tony hustete, spuckte Speichel und räusperte sich, um die Kehle freizubekommen. Seine Taschenlampe lag auf dem Boden und beleuchtete übereinander liegende Gestalten, die träge Arme und Beine bewegten.

»Stalka, wo kommst du denn her?«, krächzte Tony.

»Hasse mich gerufen oda hasse nich? Du hass.«

»Und wie hast du mich gefunden?«

Statt einer Antwort deutete Stalka nur auf seine breite Nase. Wie schön, dachte Tony Tanner, dass der Gestank, den er ausströmte, auch sein Gutes hatte. Er schleppte sich auf den Flur, warf die Tür zu und schloss sie ab. Er glaubte, schlurfende Geräusche zu hören, dann kratzte etwas über das Holz der Innenseite. Schauernd trat Tony zurück. »Komm«, sagte er zu Stalka.

»Willnich.«

»Doch, wir müssen gemeinsam verschwinden, sonst wird es zu auffällig.«

Brummelnd schlurfte Stalka hinter Tony her.

Der Ammoniakduft seines Gefährten vermittelte Tony Tanner nun eine herrliche Sicherheit.

Es galt zwei Säle zu durchqueren, in denen nun Klappbetten aufgestellt waren. Stöhnen und Schnarchen kam von den Schläfern, manchmal erklangen Wimmern und leises Klagen, und ein Schläfer wälzte sich in einem schweren Traum auf die andere Seite. Einmal hob sich ein Kopf und ein Gesicht schaute verständnislos in den Lampenschein. Gainsworth und das Mädchen waren an den Ketten, die sie an die Wand fesselten, leicht zu identifizieren. Der Maler glotzte verständnislos vor sich hin, während Tony das Mädchen von ihrer Gesichtsmaske befreite und den Fesseln befreite.

»Ich hatte schon gedacht, Sie würden nicht mehr kommen«, flüsterte sie in sein Ohr.

»Um ehrlich zu sein, den Gedanken hatte ich vorhin auch schon einmal.«

»Wer ist denn dieser – Herr?«

»Mein Kaczmarek.«

»Ihr was?«

»Mein Kaczmarek. Mein zweiter Mann. Mein Kumpel. Er hält mir den Rücken frei.«

»Verstehe. Helfen Sie mir bitte beim Aufstehen?«

 

Es stellte sich heraus, dass sie mit ihren verkümmerten Muskeln nur einige Schritte gehen konnte, bevor sie zusammenbrach. Tony musste sie halb tragen, halb schleifen, während sich Stalka den Maler mühelos wie einen leeren Sack auf den Rücken warf und hinter den beiden hertrottete. Unbehelligt kamen sie aus der Abteilung. Aber auf den wenigen Metern erkannte Tony, dass das Mädchen nie und nimmer den anstrengenden Weg durch die Kanalisation schaffen würde. An den halb betäubten Gainsworth mochte er gar nicht denken. Sie mussten einen anderen Fluchtweg finden.

Als sie die Tür passierten, hinter der Tony Tanners Befreiungsaktion fast ein ebenso überraschendes wie endgültiges Ende gefunden hätte, war das Kratzen knochiger Finger über dem Holz nicht mehr zu überhören. Dann ertönte wütendes Krächzen, das sich zu einem vielstimmigen, tierischen Geheul steigerte. Die schrillen Töne, die in den Ohren schmerzten, klimperten über den Gang und erweckten in weit entfernt gelegenen Winkeln kläffende Echos. Wenn bisher niemand in diesem Gebäude aufmerksam geworden war, dann war es nun so weit.

Tony versuchte, seine Schritte zu beschleunigen. Er brach den Versuch ab, nachdem das Mädchen, das tapfer mitzumachen versuchte, leise zu wimmern begann. Und dann hörte er von vorne das Tappen eiliger Schritte. Nach vorne konnten sie nun nicht, nach hinten wollten sie nicht. Einziger Ausweg war eine der Türen, die Tony auf dem Hinweg schon geöffnet hatte. Er musste sich selbst ein Lob aussprechen, weil er sich dieses Mal den Schlüssel gemerkt hatte. So ging das Aufschließen schneller vonstatten und sie gelangten in den dunklen Raum, bevor zwei weiß gekleidete, muskulöse Pfleger vorbeieilten.

Vorsichtig schob Tony die Tür einen Spalt auf und lauschte. Die Schritte hielten.

»Was zum Teufel ist da hinten los?«, fragte einer der Männer.

»Keine Ahnung. Aber hier ist Sperrzone. Da soll sich mal der Chef drum kümmern.«

»Hör mal, wir können die da drinnen doch nicht so rumtoben lassen.«

»Was willst’ e denn machen? Tränengas werfen? Oder Händchenhalten?«

»Vielleicht tun die sich ja was an.«

»Mensch, scheiß drauf. Da weißt, was das für ‘n Tanz war, als Michi vor drei Monaten mal in die Sperrzone rein kam. Willst du gefeuert werden?«

»Und wenn wir gefeuert werden, weil wir nichts tun?«

»Meine Güte, Jungchen. Was willst du denn eigentlich tun. Denen eine Spritze setzen? Oder mit dem Elektroschocker rein und für Ruhe sorgen. Du weißt, wie giftig der Chef wird, wenn man in seine Experimente pfuscht.«

»Bloß rumstehen geht auch nicht bei dem Rabatz. Sag mal, was mieft denn hier so?«

»Weiß nich’. Ist mir auch schon aufgefallen. Wahrscheinlich ist mal wieder bei einem Scheißhaus ein Rohr verstopft. Müssen wir dem Hausmeister melden. So, ich werde jetzt dem Chef einen Anruf auf der Rot-Leitung verpassen und ihm sagen, dass eine seiner Experimentalgruppen durchknallt.«

»Der reißt dir den Arsch auf. Um diese Zeit die Rot-Leitung.«

»Wenn überhaupt, wenn nicht um diese Zeit. Sonst könnte ich ja an sein Büro klopfen. Jedenfalls haben wir dann unsere Pflicht getan und er kann entscheiden, was zu machen ist. Du wartest hier.«

 

Der Mann ging eilig an Tonys Versteck vorbei und klapperte eine Treppe hoch. Tony legte sich auf den Boden, öffnet die Tür, die zum Glück nach innen aufging, ein wenig weiter und lugte in den Gang. Der verbliebene Pfleger lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und starrte in Richtung der geschlossenen Abteilung. Er bemerkte Tony nicht.

Tony allerdings bemerkte etwas, das ihn blitzartig einen Gedanken fassen ließ. Der infernalische Lärm hinter der Tür übertönte Tonys Schritte. Als würden die Gestalten seine Annäherung bemerken steigerten sie noch einmal ihr affenartiges Kreischen, bis man sofort an eine in Wut geratene Affenhorde denken musste.

»Keine Bewegung, sonst verteile ich dein Gekröse hier in jeder Ecke!« Tony schrie es dem verdatterten Pfleger ins Ohr und drückte ihm zugleich eine seiner kleinen Taschenlampen in die Nierengegend.

»Was … was wollen Sie?«

»Ich will hier raus. Und du wirst mir den Weg zum Wagen zeigen, klar?«

Der Pfleger nickte und wollte sich vorsichtig in die Richtung bewegen, aus der er gekommen war.

»Willst du mich verarschen, oder was? Ich will kein Spalier am Haupteingang. Immer schön bescheiden die Hintertür.«

Tony hätte gerne gewusst, ob es das unübertroffen männlich-markante Timbre seiner Stimme, die Überzeugungskraft einer missverstandenen Taschenlampe oder doch sein Körpergeruch war, der den Mann derart parieren ließ. Er lotste ihn einige Schritte rückwärts, sammelte seine Begleiter ein und dann gingen sie zurück in die geschlossene Abteilung, wandten sich zur Seite, kamen durch eine Doppeltür, stiegen über eine Wendeltreppe herab und traten durch eine Gittertüre in den Garten. Es war noch dunkel, aber schon lag ein kräftiger Duft von morgendlichem Tau in der Luft.

»Die Remise ist dort drüben«, sagte der Pfleger.

»Dann gehen wir doch einfach mal dort hin.«

Während sie über den Rasen humpelten und schlurften, überlegte sich Tony, welcher Unterschied zwischen ihrer Aktion und einem Kamikazeangriff bestand. Er fand, zumindest in diesem Moment, keine wesentlichen Unterscheidungen. Das, was der Pfleger Remise genannt hatte, entpuppte sich als zweistöckiges Gebäude in der Größe eines Einfamilienhauses. Lediglich eine Reihe von großen Holztoren, die auf eine kiesbestreute Zufahrt führten, wies auf eine Autogarage hin.

»Welchen Wagen kannst du uns denn empfehlen?«

»Ich habe nur den Schlüssel für einen Wagen. Den Pick-up. Er steht ganz links hinterm Tor.«

»Keine Tricks, sonst ist ein neuer Wandanstrich fällig.«

 

Das zweiflügelige Tor schwang lautlos auf. Die Angeln waren bestens geschmiert. Selbst hier zeigte sich, dass Serebriakoff eine Klinik der Spitzenklasse führte. Tony schaute etwas skeptisch auf dem kantigen Kühler des Wagens, den ihm der Pfleger zeigte. Im Grunde bevorzugte er Kleinwagen, aber das hier war ein Kleinlaster.

»Schlüssel!«

Der Pfleger öffnete mit zitternden Fingern den Karabinerhaken, an dem er den Schlüsselbund trug.

Jetzt kam die unangenehmste Phase der ganzen Unternehmung. Tony musste den Pfleger irgendwie ruhigstellen. Ein kräftiger Schlag auf den Hinterkopf schien dazu das geeignetste Mittel, aber genau hier setzten seine Hemmungen ein. Er schenkte sich selbst einen Aufschub, indem er sagte: »Bestell Serebriakoff einen schönen Gruß. Sag einfach, mit den besten Wünschen von Delmert.«

So, nun war das auch gesagt, und er müsste zuschlagen. Zum Glück entband ihn Stalka von dieser Arbeit, indem er sich breitbeinig vor den Pfleger stellte und ein Geräusch machte, das etwa wie Blööööh klang. Der Pfleger klappte in sich zusammen, als hätte man einer Marionette die Fäden durchgeschnitten. Tony schleifte ihn prustend zur Seite und kletterte dann mit den anderen in die Kabine.

Derjenige, der den Wagen zuletzt gefahren hatte, musste ein Riese gewesen sein. Tonys Füße baumelten weit vor den Pedalen und er verlor wieder einmal Zeit, als er im Dunkeln nach der Sitzverstellung fahndete. Er war der Lösung des Problems kein Stück näher gekommen, als plötzlich Scheinwerfer aufflammten und das ganze Gelände in gleißendes Licht tauchten. Ihre Flucht war endgültig entdeckt worden. Stalka grunzte nervös und rutschte vor den Sitz, wo er sich die Hände vor die Augen hielt. Tony tastete nach dem Zündschloss, startete den Motor und erreichte nur ein wütendes Aufblinken diverser roter Lichter auf dem Armaturenbrett. Aus dem Haupteingang liefen Männer, schauten sich um und rannten dann auf die Remise zu. Tony suchte die Schaltung, erkannte, dass der Wagen ein Automatikgetriebe hatte und erinnerte sich, dass sich amerikanische Wagen nur starten ließen, wenn die Automatik auf Stop stand. Oder war es vielleicht doch anders.

Er versuchte die schwach beleuchtete Anzeige zu erkennen, schob den Hebel von R auf N und versuchte erneut, den Motor zu starten. Unter der Haube dröhnte ein Achtzylinder los.

Tony schob den Wählhebel auf 1 und gab Gas. Der schwere Wagen machte einen Satz nach vorne und schoss aus seinem Standplatz heraus und auf die Wiese. Die heranlaufenden Männer hielten, dann hasteten sie auseinander und suchten Deckung. Es bereitete Tony eine gewisse, politisch absolut unkorrekte Befriedigung, hier einen gepflegten englischen Rasen umpflügen zu können. Die Lenkung war gefühllos, als würde er einen Autoscooter auf einer Kirmes fahren. Auf dem feuchten Rasen begannen die Räder durchzudrehen, als Tony den Wagen in eine Kurve legte, rutschte der zur Seite und fräste durch ein Rosenbeet, das direkt an der Klinikwand stand.

»Wo ist der Lichtschalter?«

Das Mädchen drückte auf die Schalter, die wie Überraschungsgeschenke locker verteilt und in einheitlichem Schwarz auf der Armaturentafel prangten. Sie verstellte die Außenspiegel, ließ das Gebläse fauchen, die Scheibenwischer quietschen, die Scheibenwaschanlage pladdern und die Warnblinkanlage plinkern. Schließlich riss Tony wütend an einem Hebel, das Signalhorn tönte, aber zugleich flammte eine beeindruckende Lichtleiste auf. Tony lenkte den Wagen zurück auf den Kiesweg, in der berechtigten Hoffnung, dass er so zum normalen Ausgang kommen müsste.

Er hatte nicht ganz unrecht, allerdings musste er zuerst durch erneutes Hupen einige Leute zur Seite scheuchen, die ihn durch Handzeichen zum Anhalten bewegen wollten, zwei Wagen zur Seite rammen und ein mit Stacheldraht gesichertes Bohlentor durchbrechen. Als er auf der Straße war und haarscharf an einigen parkenden Wagen entlangschrammte, lobte er Serebriakoff, der Pick-ups mit großen Motorhauben in seinem Fuhrpark hatte.

 

Die Straßen waren noch völlig leer. Nach einigen Kreuzungen verminderte Tony das Tempo und bemühte sich vergeblich, die Lichtausbeute der Scheinwerfer auf ein sozial verträgliches Maß zu reduzieren, was ihm nur insofern gelang, als er sie ganz ausstellte und daraufhin im Dunkeln halb auf den Bürgersteig und einige Mülltonnen lautstark auf die Hörner nahm. Es war besser, viel Licht zu haben als keines. Im Außenspiegel tauchten Scheinwerfer auf. Sie kamen derart rapide näher, dass es nur Serebriakoffs Leute sein konnten.

Tony gab wieder Gas und fuhr in der Straßenmitte. Der wesentliche Effekt war, dass sein schwergewichtiges Fahrzeug bei jeder Rille bockte und ins Schlingern geriet.

Der Verfolger war jetzt schon hinter ihnen. Es war tatsächlich einer der Wagen, die Tony bei ihrer Flucht gerammt hatte. Tony machte einige Schlenker und konnte verhindern, dass der andere Wagen überholte. Das war nur ein Aufschub. Auf der Ladefläche lagen einige Säcke.

»Können Sie fahren?«, rief Tony dem Mädchen zu. Das schüttelte nur den Kopf.

In dem Moment tauchte Stalka aus der Versenkung auf und blickte interessiert in Tonys Richtung. »Fahn wa?«

Es brauchte eine Weile, bis Tony verstand, was Stalka meinte. Dann schüttelte er den Kopf und konnte sich trotz der Situation ein Grinsen nicht verkneifen.

»Vergiss es.«

Aber wieso eigentlich? Wie viele aktive Autofahrer konnten dieselbe technische Intelligenz und charakterliche Befähigung aufweisen, wie dieser Bewohner der Kanalisation?

»Das ist für schnell. Das hier ist für langsam. Das hier ist für links und rechts, klar?«

»Is schwernich, mach wa.«

 

Stalka brannte auf seine erste Fahrstunde. Es war schwierig, während der Fahrt die Lenker zu wechseln, aber Stalka löste das Problem, indem er sich auf Tony schmiss wie der treu sorgende Familienvater am Feierabend in seinen Fernsehsessel, und ihm die Aufgabe überließ, sich unter dem streng riechenden Leib des Olmsen hervorzuarbeiten. Tony wand sich wie eine Schlange und schaffte es, durch das Schiebedach zu klettern. Sein Abstieg auf die Ladefläche ging beschleunigt vonstatten, weil Stalka in diesem Moment testete, wie weit sich das Gaspedal durchtreten ließ. Tony purzelte auf die Ladefläche und fand sich zwischen Säcken aus braunem Papier wieder. Die Straße war jetzt schnurgerade, ein Nachteil, den Stalka durch launige Schlenker nach links und rechts ausglich. Das Mädchen kreischte, als der Wagen mit den Reifen der einen Seite über den Bordstein krachte und einige Meter in Schräglage zurücklegte.

»Lustig das«, kommentierte Stalka.

Auf den Knien hockend schaute Tony nach dem Verfolgerwagen. Er war jetzt unmittelbar hinter ihnen. Zwei Männer saßen auf den Vordersitzen. Ob sie bewaffnet waren, konnte Tony nicht erkennen. Die Ladefläche, auf der er gebückt und breitbeinig stand, bockte unter seinen Füßen und raubte ihm das Gleichgewicht. Tony knallte schmerzhaft auf das Blech. Angefeuert von diesem Schmerz rappelte er sich auf, griff einen der Säcke und wuchtete ihn hoch. Gerade als er die Last auf die Schultern gehoben hatte und dort balancierte, um sie auf die Verfolger zu werfen, stieg Stalka voll in die Bremsen.

Wie von einem Gummiband gezogen sauste Tony rückwärts, prallte gegen das Fahrerhaus, der Sack platzte auf. Und der Inhalt ergoss sich als körnige, stark staubende Masse teils in die Kabine und teils auf die Körperoberfläche des Tony Tanner. Da die Schlammschicht, die er auf seiner Kleidung trug, noch immer nicht ganz getrocknet war, hafteten die Körner am Stoff und an den verschwitzten Hautpartien, und Tony fühlte sich nicht nur wie ein paniertes Schnitzel, sondern sah auch so aus. Ein Blick auf den Sack machte ihn kundig, dass er es mit Tiermehl zu tun hatte. Das war etwas praktischer als Zement, besser als ungelöschter Kalk, hatte aber einen nicht zu unterschätzenden Ekelfaktor.

Es wurde auch nicht besser, als Stalka eine Handvoll von der Masse zusammenkratzte, sich unter die Nase hielt und nach eingehendem Geschnüffel genüsslich abschleckte. Die Leckerei gab ihm anscheinend neuen Schwung, denn er ließ den Antrieb laut aufheulen, und mit dem Sprung, den der Wagen vorwärts machte, taumelte Tony nach hinten und landete unsanft zwischen den restlichen Säcken. Die Verfolger setzten jetzt zum Überholen an. Mit gefletschten Zähnen schaffte es Tony, einen Sack mit Schwung über die Ladekante zu werfen.

Der Sack schlug auf das Heck des anderen Wagens auf, fiel auf die Straße, platzte und ließ eine riesige Staubwolke aufsteigen.

 

Der nächste Versuch musste sitzen, denn Tonys Kräfte reichten nicht mehr. Er legte schwer atmend den Kopf auf das derbe Papier und überließ sich für einige Augenblicke widerstandslos dem Holpern und Schaukeln des Wagens. Ein Aufheulen des Motors sagte ihm, dass die Verfolger wieder zum Überholen ansetzten. Der nächste Schritt wäre dann abdrängen und zum Anhalten zwingen. Indes hatte Stalka Geschmack am Autofahren gefunden und kultivierte jenen Stil, der in Prospekten als sportlich engagiert beschrieben werden würde.

Jedenfalls zog er den Wagen zur Seite und klemmte die Verfolger ein, sodass sie sich nur durch eine Vollbremsung davor retten konnten, an einem abgestellten Lastwagen zu enden.

Stalkas Aktion war genial, aber die beiden Männer hatten keinen Sportsgeist und griffen zu unfairen Mitteln. Das heißt, Tony entdeckte, dass sie plötzlich Schusswaffen in den Händen hielten. Er warf sich flach auf die Ladefläche und hörte knapp über sich das Krachen der Einschläge in der hinteren Klappe. Irgendetwas musste er tun.

Stalka fuhr nun Schlangenlinien und hatte durch Zufalle die Hupe entdeckt, deren Getöse zumindest den Vorteil hatte, das nervige Kreischen des Mädchens zu überdecken.

Tony drehte sich auf den Rücken, zog einen Sack auf seine Brust und stemmte ihn dann mit aller Wucht hoch. Ein schneller Blick zeigte ihm, dass er keinen Treffer gelandet hatte, aber zumindest hatte diese Staubbombe die Verfolger irritiert. Sie holten wieder auf. Noch einmal nahm Tony alle Kräfte zusammen. Er stellte sich wankend hin, riss einen hoch, zielte und schleuderte ihn dann so hoch wie möglich auf das andere Auto. Er landete einen Volltreffer auf die Frontscheibe. Das Glas krachte unter dem Aufprall und beulte sich nach innen, der Inhalt des Sacks verteilte sich und nahm dem Fahrer jede Sicht. Der Wagen wankte, schaukelte sich auf und kippte um. Bevor eine Biegung die Szene verdeckte, sah Tony noch, wie die Scheinwerfer verloschen und er hörte das hässliche Scheppern von berstendem Blech.

Die Verfolger waren sie los. Tony arbeitet sich nach vorne und steckte den Kopf durch das Schiebedach in den Passagierraum.

»Du kannst anhalten. Ich übernehme wieder.«

Tony hatte seiner Stimme einen optimistischen Klang gegeben, aber das Befürchtete trat ein.

Stalka grinste ihn nur an und zeigte keinerlei Tendenz, seinen Platz freizumachen.

Schließlich schrie ihn Tony an, damit er wenigstens nach vorne schaute. Das tat Stalka, aber es kostete Tony noch einige Mühen und pfundweise Nervensubstanz, seinem Fahrer klar zu machen, dass man links fahren musste. Das rote Licht in der Ferne erinnerte Tony an die nächste Lektion, die er zu geben hatte.

Stalka brauste trotz eines kräftig krakeelenden Tony Tanners ungebremst über die Kreuzung. Zum Glück herrschte zu dieser Stunde in dieser Gegend kaum Verkehr, aber es reichte immer noch, um einen anderen Wagen zur Vollbremsung zu zwingen. Das wütende Hupen wurde von Stalka mit gleichen Mitteln beantwortet.

»Spakkenboi«, rief er voller Inbrunst.

 

Sie trafen unterwegs noch eine ganze Reihe von Spakkenbois, die sich nicht mit der freien Interpretation der Verkehrsregeln und Tempolimits, wie sie Stalka bevorzugte, abfinden wollte.

Nach einer Weile stellte Tony fest, dass die gesamten Anstrengungen des Tages nichts waren, im Vergleich zu dieser Fahrt, die er als hilfloser Ballast absolvierte. Halb hing er in der Fahrerkabine, halb strampelten seine Beine in der Luft – wobei immer wieder körniges Tiermehl an seinen Beinen herunterglitt und ihm das Gefühl verschaffte, zu dick gewindelt worden zu sein.

Die Fahrtechnik von Stalka hatte sich in kürzester Zeit weiterentwickelt, und er bevorzugte nun einen Stil, der jeder Finnland-Rallye zur Ehre gereicht hätte. Die Notwendigkeit, beim Bremsen den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, war ihm nicht einsichtig – und so bremste er stets mit Vollgas, aufheulendem Motor und wimmernden Reifen, um dann bei losgelassener Bremse einen regelrechten Sprung nach vorne zu tun. Tony spielte den Beifahrer und zeigte mit hektischen Gesten an, in welche Richtung Stalka zu lenken hatte. Zusätzlich schrie er immer wieder Langsam und Bremsen, was aber selten den erwünschten Erfolg hatte.

Mehrmals schien der Pick-up in den Kurven abheben und umkippen zu wollen, fiel aber jedes Mal wieder scheppernd auf die Reifen. Irgendwie gelang es Tony doch, Stalka zur Klinik von Doktor Grands zu lotsen. Er zitterte vor Nervosität, als Stalka bremsenderweise fünf Meter Gummi auf den Asphalt legte, außerdem war ihm das Blut in den Kopf geschossen. Das Bremsenquietschen wirkte so unpassend wie das Absingen von Karnevalsliedern bei einem Heldenbegräbnis. Er schleifte Gainsworth bis zur Tür der Klinik und legte ihn dort ab wie einen Müllsack.

»Wo wollen Sie hin?«, fragte das Mädchen mit großen Augen, als Tony wieder zum Wagen lief.

»Ich muss den Wagen irgendwo abstellen, wir können die Karre ja nicht hier vor der Tür stehen lassen. Warten Sie den Moment und rühren Sie sich nicht von der Stelle, ich bin gleich wieder da.«

Jetzt hatte Stalka keine Lust mehr aufs Fahren und rückte willig zur Seite. Er schaute unzufrieden, mit zusammengekniffenen Augen, zum Himmel.

»Is bald dunkelnich. Mussich inne Welt, sons tun Gucker aua.«

 

Tatsächlich hatte die Dämmerung schon eingesetzt. Nach einigem Abbiegen fand Tony einen freien Parkplatz und stellte den Wagen ab. Der Pick-up wirkte unter den Limousinen zwar recht exotisch, aber vielleicht würde Serebriakoff darauf verzichten, die Polizei einzuschalten – und dann waren die Chancen, dass er den Wagen hier fand, minimal. Hauptsache war, dass man keinen Zusammenhang zwischen der Klinik Grands und dem Standplatz des Wagens finden konnte. Sie huschten aus dem Wagen.

Aus reiner Neugier betrachtete Tony die Reifen des Pick-up und stellte fest, dass sie bis auf die Karkasse abgefahren waren und an einigen Stellen vor Hitze Blasen gebildet hatten.

Verstohlen drückten sie sich an den Gartenzäunen entlang. Plötzlich hielt Stalka an, schaute sich um und flitzte zum Wagen zurück. Tony fiel fast in Ohnmacht, als er Stalka mit den restlichen Säcken Tiermehl beladen ankommen sah. Er wurde angestellt, die Säcke durch die Kanalöffnung zu reichen, in die Stalka kletterte. Dann ratschte der Deckel über den Asphalt, fiel klimpernd in seine Lagerung, und Tony war allein. Er zog es vor, den Weg zu Doktors Grands Klinik in gestrecktem Galopp zurückzulegen. Dennoch hatten einige Frühaufsteher die Vision eines überpuderten aufrecht gehenden Wesens, das sich ziemlich schnell durch die Straßen bewegte.

Erst nach längerem Klingeln und heftigem Hämmern an der Tür öffnete Grands. Der alte Arzt schaute auf das Mädchen, wandte sich dann Tony zu, starrte ihn mit seinen blauen Säuferaugen verständnislos an und brach ohnmächtig zusammen.

»Tony, bist du es wirklich«, waren seine ersten Worte, als er im Flur liegend wieder zu sich kam.

»Ja, so mehr oder weniger bin ich es wohl«, kam die etwas lahm geratene Bestätigung.

»Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich hätte bei meiner Mischung was falsch gemacht und hätte jetzt einen Horrortrip.«

Grands stützte sich auf die Ellbogen und stellte sich mit Tonys Hilfe wieder auf die Beine.

Etwas verwirrt schaute er sich um.

»Schön, deine Freunde kennenzulernen. Ein Freak und eine Heulsuse.«

Das Mädchen war in einer Ecke zusammengesunken und schluchzte hemmungslos.

»Eigentlich sind es eher Patienten. Ich dachte, Sie könnten sich mal die beiden anschauen, Doktor?«

»Aha, mal wieder auf dem Sozialtrip? Oder hast du einfach Probleme?«

»Nennen wir es Probleme. Der Einfachheit halber.«

»Du hast doch nicht etwas was mit dem Mädchen?«

»Wie bitte?«

»Sei nicht so schwerfällig. Ich meine, ob du und sie – nein. Gut so. Du weißt, Tony, dein alter Herr wartet darauf, dass du ihm diese Francine per Heirat vom Hals schaffst.«

»Woher wissen Sie denn von der Geschichte?«

»Die Gesellschaftsseiten der Times, mein Junge. Aber im Ernst, der gute John und ich, wir haben in der letzten Zeit mal öfter miteinander telefoniert. So …« Grands klatschte die Hände zusammen und rieb sich dann munter die Handflächen. »… dann wollen wir mal«, rief er. »Aber zuerst brauche ich einen kleinen Schluck meiner Mischung, sonst zittern dem alten Säufer die Finger. Auch einen, Tony?«

Tony Tanner lehnte dankend ab. »Meinen Sie nicht, Doktor, dass es noch etwas früh für Ihre Spezialmischung ist?«

Grands kratzte sich am Kopf und überlegte. »Du hast recht. Man muss sich immer unter Kontrolle haben. Ich werde also nur einen Cognac trinken.«

»Dürfte ich mal Ihre Dusche benutzen?«

»Junge, ich glaube hier sind 27 oder 28 Duschen im Haus. Such dir eine aus. Und zieh endlich die Klamotten aus, du stinkst wie meine Kanalratten. In jedem Zimmer findest du einen Morgenmantel. Nimm irgendeinen.«

 

Nach einer ausgiebigen Dusche und einigen Tassen sehr schwarzen Kaffees fühlte sich Tony Tanner schon wieder besser. Das helle Morgenlicht schmerzte zwar etwas in den Augen, und an seinen Schleimhäuten schien immer noch der Gestank der Kanalisation zu haften, aber dafür strömte der Morgenmantel einen künstlichen Duft von Weichspüler aus und war herrlich flauschig und trocken. Er war so sehr im Anblick der Nachbarhäuser im Morgenlicht versunken, dass er den schlurfenden schritt des Doktors gar nicht hörte. Grands setzte sich neben ihn, goss sich eine Tasse Kaffee ein, und verfeinerte diesen mit sechs Stück Zucker und einem Schuss Whisky.

Eine Weile saßen sie stumm beisammen und schlürften ihre Tassen leer.

»Seltsame Vögel, die du mir da ins Haus gebracht hast«, sagte Grands dann.

»Ist das jetzt eine medizinische Diagnose?«

»Nein, das ist erst mal meine ganz persönliche Einschätzung. Also, mit mir kannst du offen reden. Woher hast du die beiden geholt?«

»Aus einer Klinik.«

»Klapsmühle, ja?«

»So ungefähr. Die Privatklinik von Serebriakoff.«

Grands pfiff durch die Zähne. »Junge, Junge. Das ist ein dicker Hund. Bei Serebriakoff war doch schon jedes Weibsstück aus der Society, das sich seine Bulimie austreiben lassen wollte. Jede Woche eine Erwähnung in den bunten Blättchen für die Damenwelt.«

»Ja«, antwortete Tony etwas lang gezogen, »er hat einen weitreichenden Ruf.«

»Klingt nicht überzeugt.«

»Ich bin auch nicht überzeugt.«

»Tja, Tony, nachdem ich weiß, wo die beiden Vögel herkommen, würde ich diesem Seelenklempner auch mit Skepsis begegnen.«

»Damit wären wir beim Thema?«

»Damit wären wir beim Thema. Also, das Mädchen ist ganz in Ordnung. Ihre Muskulatur ist verkümmert, außerdem leidet sie an den Auswirkungen eines Traumas. Ich rede jetzt nicht von der Klinik, sondern von etwas, das vorher stattgefunden haben muss. Aber sie ist jung und ziemlich kess. Sie wird es schon schaffen. Im Moment schläft sie. Ja, der Mann …«

»Es ist der Maler Ronald Gainsworth.«

»Muss ich den kennen? Egal, der Typ ist ein Wrack. Voll mit Drogen und Beruhigungsmitteln bis in die Haarspitzen. Zeigt Tendenzen zur Selbstzerfleischung.«

»Können Sie ihm helfen?«

»Vielleicht. Versprechen kann und will ich nichts. Jedenfalls wird es Monate dauern. Zuerst entgiften und dann Drogenentzug. Der Mann wird durch die Hölle gehen.«

»Ich bin überzeugt, dass er in den letzten Monaten schon durch die Hölle gegangen ist.«

»So? Nun ja. Mag sein, dass er sich selbst helfen kann, indem er wieder malt. Bei kreativen Menschen ist das zumindest eine Möglichkeit.«

Grands schwieg und da Tony auch nichts mehr zur Unterhaltung beitragen konnte, schaute er wieder auf die Dächer der Nachbarhäuser und zählte die Tauben.

»Sag mal, Tony, was ist eigentlich mit deinem Kaczmarek?«

»Wie bitte?« Tony fuhr zusammen.

»Nun, das Mädchen erzählte, dass du mit einem ziemlich seltsamen Typen zusammen warst, den du Kaczmarek genannt hast.«

»Ach so, der. Das … äh, … ist ja nur so eine Bezeichnung.«

»Ich kenne die Bezeichnung, Tony«, sagte Grands geduldig. »Aber Bezeichnung hin oder her. Da war doch noch einer.«

»Joooo.«

»Was war denn das für ein Kerl? Er soll, wie drückte sich die junge Dame aus? – gestunken haben wie ein Kälberstall.«

Tony räusperte sich. »Er hat ein spezielles Deo.«

»Tony, du verschweigst mir was.«

»Na gut, er hat überhaupt kein Deo.«

»Riecht er nun nach Ammoniak, ja oder nein?«

Grands packte Tony am Arm und schüttelte ihn. Er steigerte sich immer mehr in eine Erregung hinein.

»Tony, es ist wichtig für mich.«

 

Angesichts der Tatsache, dass der Doktor kaum Tendenzen zeigte, selbst in den Kanal zu steigen und seinen Freund Stalka zu belästigen, fing Tony Tanner an zu erzählen, was er wusste.

Es war nicht unbedingt viel, klang aber, das merkte er selbst, recht abenteuerlich. Er hörte erst auf, als er neben sich ein Schniefen hörte und entsetzt feststellte, dass dem Doktor dicke Tränen über die Wangen liefen.

Außer hilflos zur Seite zu schauen fiel Tony nicht viel ein, aber Grands streckte seine Hand aus und klopfte ihm väterlich auf die Schulter.

»Tut mir leid, mein Junge, wenn ich sentimental werde. Aber für mich hat das, was du eben erzählt hast, eine ganz besondere Bedeutung.«

Mehr sagte Grands nicht, sondern starrte nur in die Kaffeetasse und drehte versonnen an einer seiner spärlichen weißen Locken.

»Interessiert dich die Sache, Tony?«, fragte er unvermittelt.

Tony zuckte zusammen. »Ich überlege schon die ganze Zeit, wie ich Ihnen die Würmer aus der Nase ziehe, ohne neugierig zu wirken, Doktor!«

»Wenn du manchmal deinen verdammten Etepetete-Stil abschalten könntest, würdest du leichter durch diese Welt kommen.«

»Bestimmt. Das war aber jetzt Lebensberatung und nicht die Geschichte, die Sie mir erzählen wollten.«

»Nur nicht drängeln, junger Mann. Die Sache – Sache klingt zu undramatisch – egal – also vor ein paar Jahren, ach was, es ist schon mehr als Jahrzehnt her – wie die Zeit verfliegt, es ist schändlich – also, wo war ich? Richtig, ein Kollege, ein Pathologe, bat mich zur Hilfe. Er hatte die Überreste eines Mannes auf den Tisch gekriegt. Zumindest nahm man an, dass es sich um eine männliche Leiche handelte. So genau wusste man das nicht, denn er stammte von einem Unfall auf der Zufahrt zu einer Müllkippe. Ein Lastwagen hatte ihn überfahren – drei Doppelreifen hintereinander, Du kannst dir denken, was da übrig blieb.

Also, wir machten uns an die Arbeit, und ich untersuchte speziell das Blut. Ich wollte eigentlich nur wissen, ob Drogen nachweisbar waren, aber irgendwie hat es mich dann doch weitergehend interessiert. Langer Rede, kurzer Sinn – es hat mich fast umgehauen. In dem Blut waren Fresszellen, wie ich sie nach Quantität und Qualität noch nie gesehen hatte.

Dagegen wirkte die aggressivste menschliche Killerzelle wie ein Goldfisch gegen einen Piranhaschwarm. Zuerst dachte ich, der Kerl hätte irgendwelchen abnormen allergischen Reaktionen oder wäre sonst wie todkrank. Aber nachdem ich mir die verbliebenen Organe angeschaut hatte, war mir klar, dass der Kerl völlig gesund war, wenn man von dem Lastwagen, der ihm über den Rücken fuhr, mal absieht. Also, was ich da sah, war ohne Zweifel menschliches Blut. Aber eben doch nicht der bekannte Stoff, sondern so, als hätten sich Ingenieure gesagt, wir basteln ein Blut, das keinem Virus auch nur die geringste Chance lässt und dass außerdem wesentlich aufnahmefähiger für Sauerstoff ist, als das normale.

Kurz gesagt, ich war überzeugt, dass ich hier auf so eine Art von zufälligem genetischen Evolutionssprung gestoßen war. Wenn ich das Maul gehalten hätte, wäre alles in Ordnung gewesen und ich würde hier nicht als elender Säufer herumhängen. Aber ich war damals durchaus ‘ne Nummer in der Medizin des Vereinigten Königreiches. Nicht unbedingt unter der ersten Zehn, aber, in aller Bescheidenheit, unter den ersten Fünfundzwanzig. Also posaunte ich meine Entdeckung aus und wartete darauf, dass man mich beglückwünschte.

Was geschah? Gelächter von den Rängen. Man erklärte mich für durchgeknallt. Zuerst war ich wütend und gab Kontra. Das gab den Nörglern natürlich noch mehr Auftrieb. Alles, was ich bisher an Forschungen über das Immunsystem vorgelegt hatte, diente nur noch dazu, mich für einen Spinner zu erklären. Meine unzweifelhaften Erfolge schrieben sich plötzlich Gestalten auf das eigene Konto, die bisher bestenfalls als Taschenträger für mich gedient hätten.

Wie das so ist, wenn sich ein Einzelner gegen die Vertreter des Systems und diese Pest unseres Jahrhunderts, die Medien zur Wehr setzen will. Er fängt an, lächerlich zu werden.

Selbst die Wohlmeinenden rieten mir, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber ich dachte gar nicht daran. Leider. Ich wusste, was ich gesehen hatte. Nun, den Rest kennst du. Der Druck wurde ein bisschen zu viel für den alten Doc Grands. Zu viele Prozesse, zu viele Artikel in Fachzeitschriften, zu viele Leserbriefe, die nie abgedruckt wurden. Ich flog von der Uni. Untragbar, wie ich geworden war. War mir egal, ich wollte sowieso meinen eigenen Laden aufmachen. Aber ich stellte fest, dass mir diese oder jene Pille gut tat. Eine zum Schlafen, eine zum Wachwerden, eine gegen Trägheit, eine gegen Unrast, das Ganze runtergespült mit zuerst einen Glas Whisky, zuletzt war ich bei vier Flaschen pro Tag. Stramme Leistung, wenn man es recht bedenkt.«

»Und die Leutchen, von denen ich Ihnen erzählt habe … Sie haben einen von denen seziert, meinen Sie?«

»Ich bin absolut sicher. Es passt alles zusammen. Sogar diese typische Ausdünstung als Zeichen für ein hochtourig laufendes Entgiftungssystem. Stell Dir das vor, Tony, das ist die kommende Rasse. Wenn wir uns selbst durch Umweltgifte umgebracht haben sollten oder auch wenn der berühmte Meteor auf die Erde einschlägt und alles in Nacht taucht – für sie, wie nanntest du sie? Olmsen, ist das kein Problem. Eine Müllkippe ist für sie ein Festbankett, eine Kanalratte besser als Bionahrung und im Notfall, mit Verlaub gesagt, könnten sie sogar unsere Scheiße essen. Wenn Sie sich den Ebolavirus einfangen sollten, werden sie sich wohl nicht mal schlecht fühlen. Sie sind uns in allen Belangen überlegen.«

 

Den Abend des Tages verbrachte Tony Tanner in der Badewanne (30% Wasser, 70% duftende Zusätze) und trank ein Glas Rotwein nach dem anderen. Er war müde und erschöpft.

Vor allem war er besorgt. Das, was ihm das Mädchen erzählt hatte, gefiel ihm gar nicht. Es passte zu sehr zu den Dingen, die Dorkas ihm vor langer Zeit über das Thema Mondkind erzählt hatte. Nein, heute würde er nicht mehr darüber nachdenken. Dorkas würde sich bald melden. Bis dahin – mindestens eine Woche lang – würde er sich Urlaub gönnen.

 

Ende des 5. Bandes