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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Die Bruderschaft der Weißen Väter – Teil 2

Die Vorsuppe war exzellent, und doch musste sich Steele zwingen, den Geschmack überhaupt wahrzunehmen und gebührend zu genießen. Die Anwesenheit Arial Famagustos machte ihn zusätzlich befangen, denn gegenüber dem Waffenbauer glaubte er, sich in einer ständigen Prüfungssituation zu befinden. Ein lästiges Zittern befiel von Zeit zu Zeit seine rechte Hand und zwang ihn, den Löffel abzulegen, nach dem Brot zu greifen oder irgendeine andere ablenkende Handlung zu vollführen, um diese Schwäche vor Famagusto zu verbergen.

»Ist etwas mit Ihrer Rechten«, fragte Famagusto, nachdem Steele sich, wie er meinte, höchst geschickt und unauffällig, mit einigen Papieren beschäftigt hatte.

»Sie zittert zeitweilig. Nervensache …«

»Dieses Zittern könnte sich angesichts des Geschäftes, das uns hier zusammenführt, als ein Problem erweisen …«

»Ich darf Ihnen versichern, dass der Zustand vorübergehend ist. Die Folge einer … Medikamenteneinnahme vor einigen Tagen. Wenn ich die Entgiftung abgeschlossen habe, ist dieser Effekt vollkommen verschwunden.«

Famagusto verzichtete auf eine Antwort und nickte nur befriedigt. Dann legte er einen Koffer auf den Tisch. Das Treffen war von ihm arrangiert worden, und so war es kein Zufall, dass ihr Tisch in der hinteren Ecke des Restaurants lag, direkt an der Rückwand des Speisesaales. Von hier aus hatte man einen guten Überblick, fiel andererseits selbst kaum einem der Gäste ins Auge – es sei denn, jemand hätte sich recht auffallend den Kopf verdreht.

Es war einer dieser typischen Prominenten- und Bloß keine Fotografen-Tische. Sicherlich nicht selbstverständlich, dass man zu dieser Zeit diesen Tisch bekommt, dachte Steele und gewann etwas Einblick in den Einfluss, den Arial Famagusto zu haben schien. Niemand außer den beiden konnte erkennen, was in dem Koffer war. Steele hatte heimlich auf die fertige Waffe gehofft und empfand für einen Moment Enttäuschung, als er in dem roten Damast, mit dem der Koffer ausgeschlagen war, nur eine umwickelte Stange sah.

»Haben Sie die Freundlichkeit und legen Sie Ihre Rechte um die Stange. Drücken Sie bitte fest auf das Tuch. Ungefähr so, als würden Sie eine Waffe halten. Darunter befindet sich, um Sie nicht zu überraschen, ein noch weicher Kunststoff.«

Ohne weitere Nachfrage folgte Steele den Anweisungen. Er wusste, hier wurden seine persönlichen Handabmessungen für den Griff der Waffe abgenommen. Nachdem Famagusto den Koffer wieder neben seinen Stuhl gestellt hatte, winkte er dem Ober, den nächsten Gang zu bringen.

 

»Ich habe das Menü selbst zusammengestellt, ich hoffe, es behagt Ihnen«, bemerkte Famagusto.

Es behagte Steele in der Tat. Die Zeiten, in denen sich Jeremy Steele als Feinschmecker ansah, waren zwar vorbei, aber er wusste dennoch zu schätzen, was ihm vorgesetzt wurde.

Exquisite Küche, dabei aber nicht abgehoben in irgendwelche windigen Höhen sogenannter Kochkunst, die sich nur selbst feiert und in Hochglanzillustrierten besungen wird. Das Essen war zugleich kultiviert und rustikal, zeigte den Stolz regionaler Küche und die Fähigkeit, über die Grenzen hinaus zu schmecken. Und für Steele war am Interessanten, dass er in dieser Zusammenstellung den Waffenmeister und seine Persönlichkeit zu ertappen glaubte. Was hieß ertappen? Wahrscheinlich gab ihm Famagusto eher freiwillig und bewusst diese Chance, auch um zu prüfen, ob er sie zu nutzen wusste.

Der alte Mann lehnte sich zurück und hielt sein Weinglas gegen das Licht. »Wundervolle Farbe. Ich glaube, man könnte sie mit reifen Brombeeren vergleichen. Und so etwas ist auch im Geschmack enthalten, finden Sie nicht? Wussten Sie übrigens, dass ich auch einen kleinen Weinberg besitze? Nichts Besonderes, eher eine sentimentale Familientradition. Ich bin fest entschlossen, mich in der nächsten Zeit intensiver darum zu kümmern. Allerdings – solche Kunstwerke wie dieser Wein werden mir wohl nie gelingen.«

»Ihre Kunst liegt auf einem anderen Gebiet.«

»Ja, aber ist es ein Besseres?«

»Ich fürchte, uns fehlt heutzutage die Möglichkeit festzustellen, was das Beste vom Gute und das Bessere vom Besten ist.«

»Ja, ja«, Famagusto seufzte. Es war eine zeremoniöse Lautäußerung, die zu Famagustos altertümlicher Höflichkeit passte und eine Wendung des Gespräches einleiten sollte. »Es gibt viele Dinge in dieser Welt, die ich nicht mehr verstehe. Ich besitze natürlich den Vorteil, meine Unfähigkeit auf das Alter zu schieben. Sehen Sie, vielleicht können Sie mir zu dieser Stunde etwas Hilfe angedeihen lassen. Wie sehen Sie diese fürchterlichen Verbrechen, die in den letzten Tagen in meiner schönen Stadt verübt wurden.«

Steeles Gabel kratzte etwas zu laut über den Teller, ansonsten blieb er ungerührt, bemühte sich, seinen Genuss auch auf seinem Gesicht sichtbar werden zu lassen und blickte Famagusto schließlich in die Augen.

»Welche Vorfälle meinen Sie?«

»Oh, ich rede von Toten und Verletzten. Es gab einen heftigen Aufruhr. Sie wissen, wie die Medien sind.«

»Ich weiß es. Aber die Medien verstehen nichts. Sie sehen nur die Oberfläche.«

»Und was ist dahinter?«

»Ich nehme einfach an, dass jeder dieser Männer sein Schicksal verdient hat. Ich vermute, dass es sich nicht um gute Bürger dieser Stadt handelte. Alle waren in dunkle Geschäfte verwickelt.«

»Dennoch – es ist, bei aller Höflichkeit, Anmaßung zu behaupten, dass diese Männer ihr Schicksal verdient haben. Man würde sich zutrauen, für die Götter zu urteilen.«

»Die Götter mögen über den Wolken ihr eigenes Urteil fällen. Auf der Erde haben die Menschen zwar nur wenig Freiheit, wahrscheinlich nur die Freiheit, ihre Fehler auszuwählen, aber dennoch … Machen Sie das Messer verantwortlich dafür, dass ein Betrunkener hineinstolpert? Das meine ich damit, wenn ich sage, dass die Männer ihr Schicksal verdient haben.«

»Langsam beginne ich zu verstehen. In der Tat, was Sie sagen, ergibt einen Sinn.«

»Ich vermute Sie kennen den Spruch, der so gerne über die Samurai kolportiert wird: Nicht der Kämpfer tötet, sondern das Schwert. Und das Schwert tötet, weil der Gegner es sich zum Sterben ausgesucht hat.«

»Ich glaube, wir können das Dessert kommen lassen. Das Thema ist eigentlich für diesen Abend ungeeignet. Aber Sie haben mir sehr geholfen. Ich verstehe nun wirklich besser.«

 

Für den Rest des Abends lenkte Famagusto das Gespräch auf unverfängliche Themen wie Kunst und Literatur. Für Steele war eine solche Unterhaltung wie das Betreten eines lange verschlossenen Zimmers, in dem sich ein Rest von Blumenduft erhalten hat. Seine Kenntnisse und seine Interessen reichten aus, um ihn zu einem anregenden Gesprächspartner zu machen, obwohl er ständig von dem Gefühl geplagt wurde, in einer Fremdsprache zu reden, die ihm nicht mehr angemessen war.

Die Kellner räumten bereits die ersten Tische ab, als sich Famagusto erhob. Auf der Straße gingen sie noch ein Stück nebeneinander. Sie schwiegen. Steele spürte so etwas wie eine Trunkenheit, die nicht von dem Wein stammte, sondern von einem Abend, der ihm ein anderes Leben, wie hinter dem Glas eines Aquariums, vorgeführt hatte.

»Wünschen Sie, dass Ihr Werkzeug mit Ihren Initialen versehen wird?« Die Stimme Famagustos durchdrang abrupt das Schweigen. In Gedanken versunken brauchte Steele Zeit, um den Satz zu verstehen und noch mehr Zeit, um die Falle zu erkennen.

Hätte er verneint, dann wäre dieses Treffen das letzte gewesen. Famagusto, der ihm leise aber deutlich auf den Zahn gefühlt hatte, wäre dadurch von den unguten Absichten Steeles endgültig überzeugt worden. Natürlich konnten die Initialen, sollte er die Waffe jemals verlieren, zu einem gefährlichen Beweismittel gegen ihn werden. Aber eine Famagusto verlor man ebenso wenig, wie ein Ritter sein Schwert in der Ecke stehen gelassen hätte.

»Selbstverständlich«, dokumentierte Steele daher seinen Enthusiasmus.

»Welche Buchstaben also.«

»J und S«, antwortete Steele und stockte dann, weil ihm ein anderer Gedanke kam. »Nein, ich bitte Sie, nehmen Sie H und JS. H für Helena. Helena sollte dabei sein.«

»Besitzen Sie ein Wappen, das auf dem Werkzeug angebracht werden soll? Nein, nun auch gut. Sogar besser, wenn ich ehrlich bin. Ich erlaube mir, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, eine symbolische Darstellung anzubringen, die ich für passend halte. Ich danke Ihnen für den anregenden Abend. Unser nächsten Treffen wird etwas langwieriger sein, Sie sollten einige Tage Zeit mitbringen. Ich setzte mich mit Ihnen in Verbindung.«

Der Mann verbeugte sich umständlich und verschwand in einer Nebengasse. Das Klacken seines Stockes blieb noch eine Weile zu hören. Der Stock mit dem Wolfsknauf, dachte Steele. Trug Famagusto damit auch irgendein Geheimnis mit sich oder war es nur modische Affektiertheit?

 

Die Frage beschäftigte ihn nicht länger. Er hatte andere Dinge im Kopf, die er in den letzten Stunden in den Hintergrund gedrängt hatte, die aber nun wieder auftauchten und seine Gedanken bestimmten.

Es waren die Worte Pinazzis, die Steeles Taten und Gedanken ihre Richtung vorgaben. In den vergangenen Tagen hatte er versucht, die Informationen des Journalisten nachzuprüfen.

Er hatte wenig Erfolg gehabt, und genau dies hatte seine Überzeugung verstärkt, dass Pinazzi tatsächlich Dinge wusste, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Beispielsweise hatte Steele die Existenz der geheimnisvollen französischen Luftwaffenabteilung bestätigt gefunden. Als er weitersuchte, stieß er auf einen Wust von Spekulationen und Halbwahrheiten, die sich allesamt gut für so manche Schlagzeile geeignet hätten und ansonsten ins Leere führten. Es gab das Gerede über eine Kunstflugstaffel, die die Equipe Tricolore in den Schatten stellen und bei Flugschauen für die heimische Luftfahrtindustrie werben sollte. Ein pensionierter General hatte in einem Zeitschriftenartikel die Forderung nach einer Einsatzgruppe aus der Luft erhoben, mit der Bedrohungen wie Raketenabschussbasen in bestimmten Staaten beseitigt werden sollten – und genau das sollte die Einheit darstellen.

Schließlich verzichtete Steele darauf, weiter in dieses Dickicht einzudringen. Er würde sich bei passender Gelegenheit schon bis zum Kern durcharbeiten. Auch die Manipulationen um die Übernahme von Eridion erweisen sich als Lehrstück zum Thema Desinformation durch zu viel Information. Auch diese Frage legte Steele vorerst zu den Akten.

Was blieben waren drei Fragen: Was war mit diesem Conte, dessen Grundstück die Begehrlichkeit von anscheinend ebenso mächtigen wie skrupellosen Geschäftemachern erweckt hatte? Wo war der Koffer Pinazzis? Wer war die Frau, die der Sterbende erwähnt hatte?

Und dann gab es noch eine weitere Frage, die sich aus einem Anruf vom Morgen des – da es schon weit nach Mitternacht war – gestrigen Tages ergab. Steele hatte das Labor angerufen, dem er eine Probe aus Pinazzis Zimmer zugeschickt hatte.

Als er sich meldete, wurde er sofort verbunden, musste aber längere Zeit das Musikgedudel der Warteschleife ertragen. Dann meldete sich der Laborleiter, ein Bekannter Steeles.

»Steele? Wo haben Sie das Zeug her?«

»Ich dachte, ich bin derjenige, der die Fragen stellt?«

»Egal, haben Sie damit längeren Kontakt gehabt?«

»Nein, aber darf ich jetzt auf eine konkrete Antwort hoffen?«

»Also, Sie können froh sein, dass wir unter uns sind und wir die Geschichte im freundschaftlichen Rahmen abhandeln, sonst wäre die Sache ein Fall für die Staatspolizei. Der Staub, den Sie mir zugeschickt haben, ist kontaminiert mit Californium.«

 

Das Leben Jeremy Steeles kreiste in den nächsten Tag nur um einen Begriff: Californium. Californium – radioaktives Element, künstlich hergestellt, früher medizinisch zum Zwecke der Bestrahlung genutzt. Halbwertzeit 45. Genau diese Vorstellung bereitete Steele Schwierigkeiten. Innerhalb einer dreiviertel Stunde war die Hälfte der Anfangsstrahlung verschwunden. Das bedeutete, dass Pinazzi entweder zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer gewaltigen Dosis verstrahlt worden war, oder dass man ihn im Laufe der Zeit mehreren kleineren Dosen ausgesetzt hatte. Variante Eins war unwahrscheinlich, weil Pinazzi dann Verbrennungen davongetragen hätte, die äußerst auffällig gewesen wären und im Krankenhaus Verdacht erregt hätten. Also Variante zwei. Dazu brauchte man aber eine exzellente Organisation mit Leuten, die zum exakt richtigen Zeitpunkt völlig unauffällig in die Wohnung eindrangen, ihr Material deponierten und dann wieder verschwanden – und dieses in Übereinstimmung mit Pinazzis Tagesablauf, denn wenn der sich nur zwei Stunden später an den Schreibtisch setzte als angenommen, dann wäre die Wirkung so gut wie verpufft. Was sie nicht war, wie Steele mit eigenen Augen gesehen hatte. Nun gut, solche Experten gab es.

Warum auch nicht, in einer Zeit, in der manche Halbirren einen Spaß daran haben, sich in die Wohnungen von Urlaubern einzunisten und dort wochenlang zu leben, ohne dass die

Nachbarn auch nur einen Verdacht schöpften. Die andere Frage war, woher der Nachschub von Californium stammte. So etwas produzierte man nicht in einem Hinterhof. Hier stockte

Steele in seinen Überlegungen – Überlegungen, die im Übrigen eingefahren und gewohnt waren und immer wieder zu denselben Punkten führten, wie das Gleisnetz vor einem Hauptbahnhof – und stierte vor sich hin. Doch, man konnte. Heute konnte man. Man bestellte die notwendigen Geräte per Telefon, Fax, Internet oder über einen unverdächtigen Mittelsmann. Ein Teil bei dieser Firma, ein anderes bei jener. Dann baute man die Anlage zusammen und konnte loslegen.

Wenn man die richtigen Leute hatte. Die zu bekommen war aber eine rein finanzielle Frage. Die Konkursmasse der Sowjetunion hatte genug hoch qualifizierte Wissenschaftler freigesetzt, die sich, aus welchen Gründen auch immer, mit einem Mindestmaß an Skrupel als Laborsöldner anheuern ließen. Wenn man überhaupt in seinen Überlegungen so weit ausgreifen musste. Schließlich war auch unter den westlichen Atomexperten nicht zwangsläufig jeder von lauterem Charakter und moralisch keimfreier Persönlichkeit.

Von dieser Überlegung aus war sehr schnell die Verbindung zu der Szene geschlossen, die Steele im Wald miterlebt hatte. Um diese blutige Groteske auch nur annähernd verstehen zu können, musste er sie als Racheakt einordnen. Aber das Ableben des ominösen Pjotr hatte keinen Niederschlag in irgendwelchen Pressemeldungen oder Polizeimitteilungen gefunden, zumindest nicht in jenen, die für Steele zugänglich waren. Es gab einen nicht identifizierten Toten, der in der Nähe eines Adriahafens angeschwemmt worden war. Diejenigen, die sich um die Beendigung seines Lebens zu kümmern, hatten sich auch die Mühe gemacht, seinen Schädel und vor allem sein Gesicht mit einem Vorschlaghammer zu zertrümmern und ihm die Finger abzuschneiden. Eine Identifizierung war daher fast unmöglich. Vergessen hatten sie allerdings eine Tätowierung mit kyrillischen Buchstaben. Das konnte Pjotr gewesen sein.

 

Aber als Steele sich mit einiger Mühe in den Besitz genauerer Kenntnisse brachte, verschwand diese Möglichkeit. Der Tote war beschnitten. Also war er Moslem, was unwahrscheinlich war, oder Jude. Nun gehörte es zu den Feinheiten des Sowjetsystems, Juden die Ausreise nach Israel zu erlauben, wenn sie vorher einige Jahre bei den Speznatz verbracht hatten. Das konnte passen. Ein Mann mit einer hochgradigen militärischen Ausbildung. Aber bei dieser Spezialtruppe lernte man sicherlich brauchbare Dinge, wie das Anbringen von Sprengkörpern an Brücken, nur mit dem Thema Atom hatte man nichts zu tun. Überhaupt – Juden wurden vom Sowjetregime mit Misstrauen betrachtet, und wenn sie in die Sperrzone militärischer Atomtechnologie eingelassen wurden, mussten sie entweder Genies sein oder zweihundertprozentig auf Parteilinie. In beiden Fällen trug man keine verdammten Körperbilder mit irgendwelchen klugen Sprüchen. Und überhaupt, was hätte der Rebbe dazu gesagt? An diesem Punkt seiner komplexen Gedankengänge beschloss Steele, dass der Tote sich sein bestes Stück aus hygienischen Gründen um die Vorhaut hatte verkürzen lassen, und ließ den Tag ausklingen, indem er sich systematisch betrank.

Es gelang ihm, sich sehr schnell durch die Gefahrenzone schmerzhafter Erinnerungen durchzusaufen und in den sicheren Port alkoholisierten Vergessens zu gelangen. Am nächsten Tag hatte Steele einen klassischen Kater, den er mit Mineralwasser und Sport bekämpfte, und er hatte einen Einfall. Durch die dröhnenden Störgeräusche in seinem Hirn drang immer wieder das Wort Koffer. Also machte er sich auf eine Suche, ließ Meldungen durch ein Filter laufen, dessen Feinheit und Durchlässigkeit nur durch seinen Instinkt bestimmt wurde, und hatte Erfolg. Das heißt, Steele war sich sicher, auch wenn die Meldung, die ein Privatsender am Vortag verbreitet hatte, wenig spektakulär war. Die Überschrift lautete Tragischer Unfall in der Nähe von Bari. Eine Gasexplosion in einer Garage hatte drei Jugendlichen das Leben gekostet. Steele las die Meldung und war sich sicher: Der Koffer. Pinazzi hatte geglaubt, die Typen würden sich längere Zeit mit seinem Koffer beschäftigen, nachdem ihnen der ausgefeilte Sicherungsmechanismus samt der Gefahr einer Sprengstoffexplosion klar geworden sein musste.

Guter Pinazzi – er glaubte immer an das Gute im Menschen. Tatsache war, so die Version Steeles: Man fummelte einige Zeit an dem Koffer herum, wurde ungeduldig und nahm das gute Stück mit. Man drückte es einem der herumlungernden Jugendlichen in die Hand, die sich sonst mit dem Verkauf geschmuggelter Zigaretten an Unterhändler über Wasser halten, und sagte ihm: Peppi, mach das Ding auf, das bringt dir zweihunderttausend Lire. Dann geht man um die Ecke und wartet den Knall ab und sammelt den Inhalt des Koffers ein. Nicht alles, weil sicherlich ein Teil durch die Explosion verbrannt worden war oder weil Blut und Fleischreste daran klebten, aber was sollte das schon. Man war ja nicht als Feinmechaniker im Geschäft geblieben.

 

Eine Viertelstunde und einige Briefchen Aspirin später war Jeremy Steele auf der A 14 in Richtung Bari unterwegs. Er hatte einen Sportwagen, einen Radarwarner und den festen Willen, sich den Knebelungen staatlicher Tempolimits nur in sehr beschränktem Umfang zu unterwerfen. Dennoch machte er sich wenig Hoffnung, vor dem späten Nachmittag an Ort und Stelle zu sein. Wanderbaustellen, zähflüssiger Verkehr und kilometerlange Überholmanöver von Lastwagen machten Steeles engen Zeitplan zur Makulatur. Auf freien Abschnitten ließ er den Motor röhren, nur um dann aufs Neue hinter einem Lastwagen herzuschleichen.

Während er die Adresse eines Spediteurs auf der verschmutzten Rückseite eines Sattelschleppers studierte, kamen Steele Zweifel an seinem Tun. Seit Jahren war er auf der Suche, und nun raste er wie ein Gestörter auf der Ostseite des italienischen Stiefels in Richtung Süden, nur weil ihm der vage Verdacht gekommen war, dass er einen Ansatz bei der Suche nach Pinazzis Koffer gefunden haben könnte. Was war die Wahrscheinlichkeit? Drei armselige junge Süchtige, die sich ihr Besteck in einer Gasflamme sterilisierten. Und weil sie sich ihre nebensächliche Existenz sowieso nur durch Klauen erhalten konnten, hatten sie einem Markthändler eine große Gasflasche gemopst. Da saßen sie nun, warteten zitternd und bibbernd auf die Befreiung, die ihnen das Gift für einige Zeit gewähren würde, und kümmerten sich einen Dreck darum, dass der Anschluss für den Gaskocher nicht passte und das Gas durch das filzige Klebeband zischte, mit dem sie gearbeitet hatten, denn das alles war egal, nur der Schuss nicht, den sie irgendwo in ihre zerstochenen Venen setzen würden und dann …

 

Bumm. Der Lastwagen machte die Spur frei. Steele riss den Schaltknüppel nach hinten in den zweiten Gang und hinterließ eine Reifenspur auf dem heißen Beton, als sein Wagen nach vorne schoss. Die Überlegungen nutzen nichts. Er musste sie ausschalten. Er musste seinem Instinkt folgen.

Aus der Ferne betrachtet hatte der kleine Hafen den Schmelz einer Postkartenschönheit.

Das Ufer schob sich an zwei Seiten in die See und umfasste mit diesen beiden Landzungen wie mit schützenden Armen einen sicheren Naturhafen. Fischerboote und Segeljachten ankerten direkt an der Uferstraße, an deren Landseite sich einige Geschäfte, Restaurants und Pensionen drängten. Steele stellte seinen Wagen im Schatten eines Baumes ab, schlenderte die Hafenfront entlang – wozu er bei langsamster Gangart sieben Minuten brauchte, suchte sich eine Gaststätte, die ihm zusagte, und setzte sich an einen der freien Tische, die direkt an der Straße standen. Von hier aus konnte er die Schiffe betrachten, das samtig schimmernde Wasser und die Weite, die in der Ruhe des Hafens Anlauf zu nehmen schien, um dann den Blick mitzureißen, zwischen den beiden Masten, welche die Einfahrt markierten hindurch und auf die grenzenlose Fläche des Meeres.

Die anderen Gäste stammten, bis auf zwei Paare, die der Kleidung nach Touristen waren, aus dem Ort. Es waren Fischer, Landarbeiter und Handwerker, die sich temperamentvoll und lautstark die Themenliste von Politik bis zu Fußball entlang lästerten. Ihre Sprache war rau und schwielig wie ihre Hände, mit hartem, rollendem R und schon dem Klang nach unendlich entfernt von dem kultivierten, melodiösen Ton eines Arial Famagusto. Manchmal knatterte eine Vespa vorbei und es wurden Zurufe getauscht, die ebenso lange nachklangen wie der Mief des Zweitakterabgases.

Nach der langen und rasanten Fahrt fühlte sich Steele aufgedreht. Schon diese innere Stimmung machte ihn zu einem Fremdkörper in dieser Idylle, über die sich langsam die Abenddämmerung senkte. Er spürte immer noch die Erschütterungen des Fahrwerkes unter sich, die Sicherheitsgurte, die beim harten Bremsen gegen seine Brust drückten, und seine rechte Hand suchte immer noch nach dem Schaltknauf. Dennoch musste sich Steele bescheiden. Heute war nichts mehr zu machen.

 

Der heutige Tag war verloren, wieder eine dieser Zeithülsen, die ausgeleert zur Seite kullerten und zu Müll wurden. Keine Erinnerung, keine frohe Stunde, kein Anflug von Glück – nur die Suche und das Zischen eines Pfeiles im Flug – eines Pfeiles, der sein Ziel nicht einmal kannte. Nachdem er eine Reihe von Capuccino-Tassen leer gemacht hatte, ließ sich Steele von dem Kellner beraten und folgte der Empfehlung, ein Fischgericht zu wählen. Nicht dass Steele darauf Lust gehabt hätte. Aber der Kellner war zugleich Besitzer des Restaurants, zu der eine kleine Pension gehörte, und Steele hielt es für praktisch, Sympathiepunkte zu sammeln.

Er musste aber zugestehen, dass die Empfehlung richtig gewesen war. Nachdem er sich ein Zimmer gemietet hatte, schlenderte Steele durch das Dorf. Es bestand aus schmucklosen Häusern, die sich an gepflasterte Gassen drängten. Teils liefen die Gassen in Treppen aus, die sich einen Hang hochwanden. Über ihm trocknete Wäsche (die peinlich saubere, sorgfältig geflickte Wäsche von Menschen, die nicht genug Geld für Besseres hatten und zu viel, viel zu viel, um den Stolz zu verlieren und sich gehen zu lassen), aus offenen Fenstern drang Jubelgeschrei und die hysterisch-enthusiastische Stimme eines Moderators einer populären TV-Spielshow.

Sein Weg führte Steele aus dem Ort heraus und in Richtung auf die Hafeneinfahrt. Inzwischen blinkten weiße Markierungslichter beiderseits der Durchfahrt. Die Lichter hatten einen nervösen Rhythmus, der nicht zu der Stille des Abends und der Verschlafenheit des Dorfes passte, als bedeutete die Nacht einen wesentlichen Wechsel des Charakters dieses Ortes.

Fischerboote waren hier nebeneinander festgemacht, ein Stück weiter lag ein Küstenfrachter halb auf dem felsigen Ufer. Der Rumpf war angerostet, die Aufbauten zeigten ein Pockenmuster von Rost und abblätternder Farbe, die Fenster des Ruderhauses waren zerborsten. An einer Stelle zeigte der Rumpf eine deutliche Delle, wie von einem Rammstoß.

(Ein Heimathafen an der türkischen Mittelmeerküste, stellte Steele fest, und sofort kam ihm der grimmige Gedanke, dass dieser Kahn dem Menschenschmuggel gedient haben könnte, und wenn es so war, stellte sich auch die Frage, welches andere Schiff das Ramming durchgeführt haben mochte, nicht mehr.) Dann ein Werftbetrieb mit einer kleinen Helling.

Fahrspuren, die von schweren Lastwagen stammen mussten, führten an das Tor der Anlage.

 

Als Steele sich dem Maschendrahtzaun näherte, der das Gelände umzäunte, kamen zwei Wachhunde unter einem aufgebockten und halb demontierten Schiffsdiesel hervor und stürzten sich mit wütendem Bellen auf den Spaziergänger. Sie warfen sich gegen den Zaun, dass sich der Maschendraht ausbeulte und diese Spuren, wie ein schwer geprüfter Sandsack, an dem ein Schwergewichtler trainiert, auch noch behielt, als Steele weiterging und die Köter ihm folgten. Sie behielten ihn belfernd und kläffend im Blick, bleckten die Fangzähne und warfen sich immer wieder, hoch aufgerichtet, die Krallen scharrend in den Draht verkeilt, gegen den Zaun. Als Steele dieses Spiel lästig wurde, passte er den Moment ab, als eine Hundeschnauze durch eine Lücke im Drahtgeflecht herausgestreckt wurde, und schlug zu. Wo Steele hinschlug, da wuchs kein Gras mehr. Der Hund kroch wie vom Blitz getroffen und leise heulend hinter einige Ölfässer, während der andere nun reichlich Abstand hielt und das rabiate Bellen durch ein unsicheres Knurren ersetzte.

Jeder, der auch nur einem Fuß auf dieses Gelände setzte, würde von den Kötern in Stücke gerissen. So weit, so klar und so unverständlich. Was war an einer kleinen Werft und den zerfledderten Volvo Penta oder MAN-Aggregaten so wichtig, dass diese Bestien es bewachen mussten? Das passte absolut nicht in das Bild dieses Dorfes. Hier stahl keiner und Fremde kamen hier nicht hin und wenn, dann trugen sie Ringelsocken und Sandalen und fanden alles very romantic.

Misstrauisch umrundete Steele das Gelände und wanderte dann ein Stück weiter bis zu einer Stelle, von wo er einen Blick auf die gesamte Anlage werfen konnte. Was er sah, war nicht aufregend. Ein Fischerboot war auf die Helling gezogen worden und wurde mit einem neuen Unterwasseranstrich versehen. Ein Arbeitsboot lag vertäut am Ufer. Ein Ponton, auf dem ein Bagger stand, war halb auf das Trockene gesetzt worden. Mehr war nicht zu erkennen, zumal es schon fast dunkel war. Doch – etwas war noch zu erkennen. In den Bullaugen des Arbeitsbootes sammelte sich das letzte Licht des Tages zu einem grauen Schimmer. Und in der Spiegelung erkannte Steele ein anderes Boot, das ihm bisher entgangen war, weil es sich zwischen den anderen Booten verbarg.

Im Grunde sah Steele nicht einmal das Boot. Er sah eine Einzelheit, einen Ausschnitt, und von dieser Grundlage aus machte er eine Hochrechnung. Das Bild, das er so erhielt, war mit Unsicherheiten behaftet, aber es war wiederum gefestigt genug, um ihn noch misstrauischer zu machen, als er es schon war. Er hatte einen chromglänzenden Auspuffstutzen erkannt.

Solche Bauteile passten nicht zu einem Fischerboot. Sie waren ein typisches Zeichen für einen schnellen, einen sehr schnellen Hochseerenner. Nicht unbedingt ein professionelles Rennboot, eher eines von den Wassergefährten, mit denen man auch ein bisschen angeben kann, wenn man Lust darauf hat. Warum versteckte man dann so ein Boot? Sollte es hier repariert werden? Hier in dieser kleinen Klitsche, die ansonsten Anlaufpunkt altersschwacher Fischerboote war?

 

Es gab sicherlich für alles Erklärungen. Aber so war es schon immer gewesen, seit Diese Frau, die du geschaffen hast, hat mir den Apfel gegeben, und nicht alle Erklärungen waren brauchbar. Steele kümmerte sich nicht darum. Er verfolgte seinen Hinweg zurück zum Ort, wobei er allerdings einen größeren Abstand zum Werftgelände einhielt, sodass die Hunde nicht anschlugen. Als er sich den Häusern näherte, waren sie in der Dunkelheit eine kompakte Masse geworden, die nur durch einige blinkende Lichter unterteilt wurde. Der Ort ähnelte einer Versammlung von dunkel gekleideten Alten, die sich zu fester Stunde am Hafen treffen, um über die alten Zeiten zu reden und über die neuen zu lästern.

Das Publikum an den Tischen am Hafen hatte sich verändert. Nicht mehr die Arbeiter, die sich zwischen Arbeitsstress und Familienstress die Freude einer Begegnung mit ihresgleichen gönnten, bildeten den Hauptteil, sondern nun waren es mehr Touristen, die von den ankernden Yachten gekommen waren, und einige junge Leute aus dem Ort, beide Gruppen auf der Suche nach dem nicht vorhandenen Nachtleben.

Steele fand seinen Tisch noch unbesetzt und nahm wieder seinen Platz mit Blick auf das Wasser ein. Er bestellte eine Kleinigkeit zu essen, wieder eher, um den Kellner bei Laune zu halten und eine Karaffe Rotwein. Der Wein lag herb auf der Zunge und hatte einen Geschmack, in den sich etwas Metallisches hineinmischte, aber zusammen mit dem Brot, den Krabben und dem Geruch nach Salzwasser bildete sich auf Steeles Zunge eine hervorragende Komposition. Steele trank in kleinen, bedächtigen Schlucken, setzte immer wieder ab und lauschte auf die Gespräche in seiner Umgebung. Es ging um die üblichen Themen – der mit dem und die mit einem anderen, mein Chef ist ein Idiot, wie segele ich am besten Genua an, mein Scheißpropeller hat eine Unwucht und ich habe keine Ahnung, wo ich Ersatz für das Teil kriege.

In der Nähe warf ein Fischer den Motor seines Bootes an. Der Diesel keuchte wie ein schwerer Raucher am Morgen, hustete und spuckte und fand schließlich zu einem vertrauenerweckenden Köff-Köff-Köff. Der Geruch nach den Abgasen drang bis zu Steele vor. Durch den Lärm des warmlaufenden Motors klangen die Rufe der Besatzung, dann erwachte die Maschine aus ihrer Trägheit und hämmerte einen schnelleren Takt. Das Boot setzte rückwärts in den Hafen, stoppte mit einem rauschenden Heckwirbel und nahm dann schnell Fahrt auf. Seine Lichter glitten flink über das träge Hafenwasser und wurden dann von den Bugwellen und der Kielspur zu Klecksen zusammengeschmiert. Die ankernden Boote wiegten sich im Takt der anlaufenden Wellen, das Wasser klatschte einige Male theatralisch gegen die Kaimauer und gab dann resigniert angesichts der friedlichen Nacht sein Imponiergehabe auf, während das Fischerboot hinter der Einfahrt abdrehte und Kurs auf die offenen Fanggründe nahm.

 

Geschickt hatte es Steele arrangiert, dass er genau in dem Moment, in dem das Boot seine schwungvolle und etwas angeberische Wende machte, eine neue Karaffe bestellen musste.

Als der Kellner aus dem Lokal zurückkam und die Karaffe auf den Tisch setzte, deutete Steele beiläufig auf das Boot.

»Möchte gerne mal wissen, wie der Schipper sein Auto einparkt.«

»Weniger schwungvoll. Besser gesagt gar nicht. Er fährt nur noch Fahrrad, weil er seinen Führerschein im Suff verloren hat. Offiziell ist es auch sein Sohn, der das Schiff jetzt führt – aber der kriegt eins auf die Flossen, wenn er nur das Steuerrad anfasst.«

Die beiden Männer lachten und waren in eine Luftblase gehüllt, in der sie Komplizenschaft einatmeten.

»Ich muss bedienen«, sagte der Kellner und ging.

Steele nickte. Der Mann würde wiederkommen.

Bis dahin trank Steele den Wein und spürte die Freude, das knusprige Brot mit den Fingern zu brechen und die Brocken in die von Knoblauch durchsättigte Sauce zu stippen.

Die Nacht war mild, es machte Freude, draußen zu sitzen und das Völkchen, das sich hier unter dem harten Licht der nackten Glühlampen versammelt hatte, besaß ein enormes Durchhaltevermögen. Zuerst gingen die Jungen, dann rafften sich die Älteren auf und verabschiedeten sich mit einer schweren Hand auf der Schulter ihrer Freunde, als müssten sie sich am Rande des Schlafes noch einmal von der Wirklichkeit der Menschen überzeugen, schließlich brachen auch die ersten Leute von den Yachten auf. Die Bedienung begann, Tischdecken abzuziehen und Stühle zusammenzuklappen.

Steele füllte sein Glas noch einmal. Er merkte die Wirkung des Alkohols, fühlte sich aber immer noch sicher. In der Karaffe, es war inzwischen schon die Nachfolgerin der Nachfolgerin, die dort stand, waren noch gute zwei Gläser.

Steele wartete, bis der Kellner in seiner Nähe war und einen Blick zu ihm herüber warf. Genussvoll nahm Steele einen Schluck und prostete dem anderen dann zu.

»Ein guter Wein. Sehr gut, wirklich.«

»Freut mich, dass er Ihnen schmeckt, mein Herr.«

»Trinken Sie doch ein Glas mit mir, bitte. Ich habe schon fast zu viel und es wäre doch schade, wenn der Wein schal würde.«

»Es wäre mir ein Vergnügen. Ich hole mir nur eben ein Glas.«

Der Mann verschwand im Haus, kehrte gleich darauf zurück und setzte sich zu Steele.

Seine Schürze hatte er ausgezogen und wirkte nun wie sein eigener Gast.

»War ein langer Tag, nehme ich mal an«, fragte Steele.

»Nun ja, im Sommer ist es schon viel. Aber die Saison ist bald vorbei. Und schließlich leben wir davon.«

»Im Winter ist hier nicht viel los?«

»Da ist in jedem Gefrierschrank mehr Leben. Da können wir uns so lange erholen, bis uns die Decke auf den Kopf fällt.«

»Das hat auch seinen Reiz. Ist wirklich ein idyllischer Ort. Und nicht so überlaufen. Obwohl – vor ein paar Tagen kam mir der Name in den Nachrichten unter. Aber ich weiß nicht mehr, was es war …«

Der andere Mann grunzte zustimmend und presste die Lippen zusammen, als wäre der Wein plötzlich sauer geworden. »Sie meinen die Sache mit der Explosion?«

»Richtig, jetzt fällt es mit wieder ein. Irgendwas war in die Luft geflogen. Was war es nochmal? Eine Gasflasche, richtig. Und es hatte Opfer gegeben, sagte zumindest die in den Nachrichten.«

»Ja, die hat es gegeben. Drei Tote.«

»Das muss ja furchtbar sein, ich meine, hier in so einem Ort, wo jeder jeden kennt …!«

Der Blick, den Steele um sich warf, schien Trauerflaggen und Prozessionen zu erwarten.

»Es war nicht in unserem Ort. Ich meine nicht wirklich.« Der Wirt machte eine vage Handbewegung über Steeles Schulter hinweg. »Da hinten gibt es das neue Dorf. Das ist so eine Art Sozialsiedlung. Leute aus dem Süden, Afrikaner, Zigeuner … na ja.« Das Na ja’bedeutete nichts anderes als das Zusammenstürzen jeder Sozialarbeiter-Illusion.

Steele bemühte sich, möglichst viel Kumpanei in sein Grinsen zu legen. »Das klingt nicht so, als würden hier eifrig Feste zusammen gefeiert.«

»Beide Orte haben denselben Namen, aber das ist auch alles. Von denen lässt sich kaum einer hier blicken und umgekehrt ist es auch so. Sagen wir doch, wie es ist: Irgend linker Sozialspinner in Rom hat so eine Idee gehabt, bei der Bauvergabe wird gekungelt, das halbe Geld versackt irgendwo, mit dem Rest machen die Bürokraten das, was sie am besten können. Sie verschwenden es.«

Die Werft, das erfuhr Steele in dieser Nacht ganz nebenbei, gehörte auch einem Auswärtigen. Der hatte vor zwei oder drei Jahren den bisherigen Besitzer mit einer Menge Geld (So viel war der Laden nie und nimmer wert. Wir haben gesagt, Luigi, wenn der Spinner sein Geld loswerden will, dann musst du ihn nicht vom Gegenteil überzeugen. Aber Luigi hatte damit echte Probleme. Das ist hier so ein Menschenschlag. Die werden misstrauisch, wenn sie Glück haben. Ist so eine Art Aberglauben.) überredet, seinen Betrieb zu verkaufen.

Der Gasthausbesitzer wechselte geschickt das Thema, und Steele verzichtete auf weitere Nachfragen. Zwischen den Sätzen hatte er genug mitbekommen und den Rest konnte er sich zusammenreimen, nachdem er das Gelände am Abend in Augenschein genommen hatte.

Bevor sie sich trennten, unterhielten sie sich noch über die Fischerei der Gegend, über Rotwein und die beste Methode, eine Knoblauchtunke für Tintenfischringe herzustellen. Als er sich in das Bett legte, konnte Steele sicher sein, dass sein Gesprächspartner nicht das Gefühl haben würde, ausgehorcht worden zu sein.

 

Obwohl sich Steele auf eine schlechte Nacht einrichtete, schlief er wie ein Stein und erwachte erst, als das Sonnenlicht den Raum in helle, waagerechte Scheiben schnitt. Es war schon Vormittag.

»Ah, ich sehe, Sie haben gut geschlafen.« Der Gasthausbesitzer, nun wieder in der Kleidung des Kellners, winkte von unten, als Steele die Fensterläden aufstieß.

»Soll ich ein Frühstück für Sie bereiten, eh?«

»Bitte. Was Kräftiges. In der Nacht muss mir ein Lastwagen über den Schädel gefahren sein. Viel Kaffee, Eier wären nicht schlecht und Fisch, wenn möglich.«

»Alles ist möglich, alles ist möglich. Aber ich hatte Sie wegen des Weines gewarnt.«

»Nochmal müssten Sie mich nicht warnen.«

Steeles Kopf war trotz seines Gejammers klar und rein wie die frisch geputzten Tische, an denen sich schon einige Gäste eingefunden hatten. Aber ein Mann mit einem Kater wirkte harmloser, und Steele machte sich wenig Illusionen darüber, wie er auf andere wirken konnte, wenn er mal keinen Kater simulierte.

Die Tatsache, dass er zu dieser Stunde Fisch verspeiste, brachte Steele den angewiderten Blick einer Frau am Nebentisch ein – was Steele egal gewesen wäre, selbst wenn die Dame nicht dieses geblümte Kleid getragen hätte, dessen Länge in keinem richtigen Verhältnis zum Zustand ihrer Oberschenkel stand – und das zustimmende Kopfnicken eines Fischers in abgerissener Arbeitskleidung, der mit einem Farbeimer in der Hand vorbeischlurfte.

 

Es bedurfte noch einiger Tassen sehr schwarzen Kaffees, um Steele auf die nötige Betriebstemperatur zu bringen. Dann beglich er die Rechnung, erkundigte sich nach der besten Möglichkeit, zurück zur Autobahn zu kommen und röhrte los. Er fuhr eine Strecke aus dem Dorf hinaus, schlug einen Bogen und kam auf einer ungepflegten Nebenstrecke wieder an dem Ort vorbei. Jenes ominöse neue Dorf musste irgendwo nördlich liegen. Jedenfalls war die spontane und deshalb vertrauenswürdige Geste des Kellners in diese Richtung gezielt. Es gab keine Hinweisschilder. Die ganze Landschaft wirkte öde und verlassen.

Manchmal führte der Weg durch bebaute Felder, dann breiteten sich Brachflächen aus, auf denen sich braunes vertrocknetes Gras, niedrige Büsche und bucklige Felsen den Platz streitig machten. Ein Feldweg führte von der Straße durch eine solche Brache. Wäre nicht dieser Reifen gewesen, der am Rand gelegen hätte, dann wäre Steele vorbeigefahren. Aber dieser hässliche, alte abgefahrene Reifen wirkte wie ein Signal. Wie ein Raketenfahrzeug, das über einen Salzsee rast, preschte Steele mit einer gewaltigen Staubwolke am Heck den Feldweg entlang. Der Wagen bockte und sprang, krachte durch Querrillen, tauchte in Schlaglöcher und schlingerte über schotterbedeckte Wegstücke. Alles im Wageninneren schepperte sich los.

Das Handschuhfach sprang auf und erbrach seinen Inhalt in den Fußraum (darunter eine Broschüre des Mietwagenunternehmens mit dem Titel Wie Sie schonend fahren), das Radio lockerte sich und rappelte, Steine knallten gegen den Unterboden, im Lenkrad war jede Unebenheit als heftiger Schlag zu spüren. Der Wagen schoss über eine Kuppe, hob ab und schlug pendelnd einige zehn Meter weiter auf. Im Flug sah Steele in der Ferne das Meer als blauen Streifen, dann sah er die Häuser im Talkessel vor sich und trat heftig auf die Bremse.

Die Staubwolke, die er selbst aufgewirbelt hatte, holte Steeles Wagen ein und umhüllte ihn. Aus der Lüftung drang der trockene Geruch von Staub, heißem Sand und dürrem Kraut.

Steele setzte den Wagen in die Deckung einer Buschgruppe und stieg aus. Während er wartete, knisterte und knackte der Motorblock beim Abkühlen, und irgendwo tropfte aus einer lockeren Leitung Flüssigkeit.

Der Weg führte noch ein Stück geradeaus in einen weiträumigen Talkessel, dessen Wände von hellbraunen, schroffen Felsen gebildet wurden. Auf der planierten Ebene in diesem

Kessel erhoben sich einige lang gezogene, dreistöckige Wohnblocks. Die Gebäude erschienen so deplatziert, dass sie im ersten Augenblick wie Filmkulissen wirkten, die man in aller Eile aus Sperrholz und Pappe zusammengeschustert hatte. Schon aus der Entfernung war der miserable Zustand der Behausungen erkennbar – von den Flachdächern hing die Dachpappe in großen Fetzen, Fenster waren zerschlagen, die Eingangstüren hingen schief in den Angeln.

Kein Windhauch brachte Erfrischung, die Hitze saß wie ein brütender Riesenvogel zwischen den Felswänden.

 

Die Bewohner der Bauten saßen auf den Balkonen oder in kleinen Gruppen vor den Häusern. Die Frauen strickten, putzten Gemüse oder starrten vor sich, die Männer rauchten, zerschnitzten Stöcke in kleine Späne oder starrten ebenfalls vor sich hin, und dazwischen wuselten Unmengen von Kindern in allen Hautfarben. Alle schienen auf etwas zu warten, ohne zu wissen, was es war. Es gab auch einen Spielplatz, bestehend aus einem Sandkasten, in dem Hunde dösten und einem wackligen Gestell, an dem ein Schaukelseil hing. Unten an dem Seil war ein Reifen befestigt und einige Männer bildeten einen Kreis und betrachteten einen Hund, der sich in diesen Reifen verbissen hatte und mit den Hinterbeinen in der Luft strampelte.

Geduckt schlich sich Steele näher. Er hatte das unsichere Gefühl, das ein Forscher haben mochte, der sich einem unbekannten Urwaldstamm nähert. Soziale Vorurteile, sagte sich Steele und machte sich noch kleiner. Er umrundete einen vorspringenden Fels und sah das, was er suchte. Ein Stück weit von der Siedlung entfernt lag eine Reihe von Wellblechgaragen. Ein Absperrband der Polizei flatterte zwischen zwei Pfählen, die wohl eigens zu diesem Zweck eingeschlagen worden waren. Indem er sich am Rand der Böschung entlang drückte und von einem Fels zum anderen huschte, näherte sich Steele ungesehen dieser Stelle. Kein Mensch konnte ihn nun sehen, weil die Häuser nur mit ihren fensterlosen Schmalseiten in diese Richtung deuteten und sich alle Bewohner vor den Eingängen aufhielten.

Er wartete eine Weile, beobachtete die Umgebung und sammelte die ersten Eindrücke.

Hinter den Garagen waren einige Autos abgestellt. Es waren teils völlig demolierte und heruntergekommene Karossen, teils nagelneue Luxuslimousinen, die nur wegen der dicken Staubschicht nicht sofort als solche erkennbar waren. Ein Jaguar hatte sogar noch das französische Nummernschild, mit dem er wohl erst vor einigen Tagen an der Côte d’Azur abgestellt worden war.

Die Garagen waren aneinandergebaut gewesen und nun wie ein Kartenhaus zusammengefallen.

Steele erkannte an einer Wellblechwand Spuren von Autolack verschiedener Farbe.

Hier waren gestohlene Autos munter umgespritzt worden. Die Garage, in der die Explosion stattgefunden hatte, lag genau in der Mitte der Reihe. Ein Loch mit scharf aufgebogenem Rand bewies die Wucht der Explosion.

Vorsichtig trat Steele auf die zerbeulten Metallplatten und beugte sich herunter. Schnell fand er das, was er suchte. Neben einem dunkel getrockneten Blutfleck steckte ein Splitter im Blech. Mit einiger Anstrengung und der Hilfe seines Schweizer Offiziersmesser grub Steele den Splitter aus. Es war ein scharfkantiges dünnes Stück Leichtmetall, wie man es für besonders teure Koffer verwendet. Niemals war es ein Teil einer Gasflasche gewesen. Niemals. Und kein Polizist, der nicht völlig korrupt ist, hätte jemals die Geschichte von der Gasflasche in die Welt setzen können. Volltreffer, dachte Steele. Er hockte auf den Trümmern und nahm versonnen ein anderes Stück Blech in die Hand. Volltreffer und was nutzte es ihm jetzt?

 

Wenn ihm nicht Gedanken an die drei Jugendlichen gekommen wären und ihn abgelenkt hätten, wäre Steele das Auto schon längst aufgefallen. Nun war es zu spät und er konnte nur still bleiben, so tun, als bemerkte er sie nicht, und den Wagen aus den Augenwinkeln zu beobachten.

Drei Männer saßen in dem protzigen Schlitten. Einer stieg aus, ging strammen Schrittes auf Steele zu und sagte, die Hände in die Hüften gestemmt: »He, du Penner, was hast du hier zu suchen?«

Steele schaute überrascht auf und erhob sich. Das Blechstück behielt er in der Hand.

Die beiden Männer sahen sich eine Weile schweigend an, nahmen Maß, schätzten ab.

Steele war sich dieser Tatsache bewusst, der andere machte es, weil er es immer so gemacht hatte. Finster blicken, Imponiergehabe, auf eine Schwäche lauern, zuschlagen und abdrehen.

So war es seit dem katholischen Kinderhort gelaufen, so lief es jetzt – obwohl es keinen Grund gab, den Gegner zu studieren. Der Trottel, der zwischen den Trümmern der Garagen stand, war tot. Warum also zögern, wo ein angefeiltes 5,65er Geschoss doch nicht auf Männerrituale warten muss. Aber dieser Typ war irritierend. Er schien keine Angst zu haben. Er war so blöd, dass er freundlich grinste und den Eindruck erweckte, als würde er sich sogar freuen, die drei Männer zu sehen. Und dann waren noch diese stählern blauen Augen, die nicht zu den Ufern des Mittelmeers passten, sondern weit nach Norden gehörten, in die kalten Regionen, aus denen seit Urzeiten grausame Barbaren in die goldenen Sonnengefilde strömten, um das Eis in ihren Bärten schmelzen zu lassen.

Vielleicht spielte sich in diesem Augenblick tatsächlich ein Geschehen ab, das sich schon tausendmal wiederholt hatte – seit den Zeiten, in denen die römischen Legionen zum ersten Mal das gefährliche Krachen im Unterholz der nördlichen Urwälder gehört hatten, das den Feind signalisierte.

Für Steele war es hingegen ein erfreulicher Moment. Das Auftauchen dieser Männer half ihm weiter und ersparte ihm eine Suche, die lange Zeit in Anspruch genommen haben könnte. Er lächelte und sagte: »Es tut mir leid, wenn ich irgendwie Ihre Gefühle verletzt haben sollte, als ich diese Unfallstelle betrat. Ich bin Journalist …« Hier griff Steele in die Tasche, mit der linken Hand und bewusst langsam, und registrierte dennoch den kleinen, instinktgesteuerten Ruck, den sein Gegenüber mit der Rechten vollführte. Er trug seine Waffe in einem Holster am Rücken, wo es nicht auftrug und bei einem modisch weiten Schnitt des Jackett nicht weiter auffiel.

Dennoch, so sagte sich Steele, eine Trageart, die eine entscheidende Sekunde Verzögerung beim Griff zur Waffe bedeutete, egal wie schnell der Mann sein mochte. Ein eitler Dummkopf also, einer der sich sicher fühlte in einem Geschäft, in dem sich niemand niemals sicher fühlen durfte.

»Oggio!« Steele schwenkte einen Presseausweis, einen echten wohlgemerkt, und hielt ihn dem Mann hin, wie ein netter Onkel, der mit einem Schokoladenstück ein schmollendes Kind anlocken möchte. »Nun ja, mein Chefredakteur meinte, hier könnte eine Geschichte liegen. Ich will sagen, drei Jugendliche, die einfach so weg sind, das interessiert doch die Leute, ich sollte mal nachschauen, Familien, Freunde, Freundinnen, der Pfarrer, vielleicht ein paar Bilder auftreiben und so.«

»Und so.«

»Ja, wie gesagt, wenn ich hier Ihre Gefühle verletzt haben sollte … Sie sind doch sicher Verwandte, nicht wahr, andererseits, es wäre doch auch eine Gelegenheit, über die teuren Verblichenen zu sprechen und …«

»Bleib stehen, du Schwätzer.«

Steele hatte nur seinen rechten Fuß bewegt und auf eine Stelle gesetzt, die ihm besseren Halt bot. Der Motor des Wagens blubberte unterdessen vor sich hin, es war das sonore Geräusch eines riesigen amerikanischen Achterblocks aus den Zeiten, als Radfahren noch nicht politisch korrekt war. Der Wagen selbst war ein Coupé mit verbreiterter Spur und besonders fetten Reifen. Es kostete Steele nicht mehr als einen Blick, dann war er sicher, dass dieser Wagen nur beim Beschleunigen an der Ampel überzeugen konnte, ansonsten musste ihn bei höheren Geschwindigkeiten jede Dehnungsfuge aus der Bahn werfen, und um ihn um die Kurven zu kriegen, sollte man ihn am besten an den Stoßstangen hochheben und um die Ecke tragen. Die Tür war an der Beifahrerseite offengeblieben, der Mann, der Steele gegenüberstand, war von der Rückbank gekommen. Der Beifahrer lümmelte in seinem Ledersitz und bemühte sich, das rechte Bein irgendwie auf die Tür mit dem heruntergelassenen Seitenfenster zu deponieren. Es war aber erkennbar, dass er in kurzen Abständen einen Blick in den Seitenspiegel warf. Steele konnte die Augen sehen und die Blicke spüren. Dieser Junge war nicht ohne. Er war viel jünger als Steeles Gegenüber, aber er passte wenigstens auf.

»Wenn Sie es wünschen, kann ich natürlich hier stehen bleiben, aber es wäre doch praktischer, wenn wir uns neben diesem Trümmerfeld unterhalten könnten.«

»Nicht nötig.«

»Nun gut, aber wenn Sie der Meinung sind, dass mein Erscheinen an dieser Stelle unpassend ist, dann sollten Sie mir wenigstens die Gelegenheit geben, zu verschwinden.«

»Die gebe ich dir, Klugschwätzer.« Die rechte Hand setzte sich in Bewegung.

 

Ein geübter Schütze, der sich vorbereitet und nur gegen die Stoppuhr antritt, kann aus einem optimal platzierten Holster in knapp einer Sekunde ziehen, zielen und feuern. Alles andere ist in die Kategorie Wir erzählen Märchen über die tollen Typen vom CIA einzuordnen.

Steeles Gegenüber war vorbereitet, aber er war schlecht geübt, und hatte seine Waffe an die denkbar ungünstigste Stelle gebracht. Also brauchte er die halbe Ewigkeit von vier bis fünf Sekunden, bis er sich daran machen konnte, seinen Auftrag zu erfüllen, indem er einen lästigen Schnüffler ausknipste.

Für Steele dehnte sich die Zeit wieder einmal. Deutlich registrierte er, wie die Augen seines Gegners schmaler wurden, wie sich die Pupillen zu erweitern schienen und die Lippen zusammengepresst wurden. Hätte sich Steele in diesem Moment Gedanken über Flugbahnen, Aerodynamik oder Ähnliches gemacht, wäre sein Lebensweg zu Ende gewesen. Aber sein Geist war frei von allen Ablenkungen, und Steele handelte so, wie es geboten war. Ohne eine sichtbare Ausholbewegung schleuderte er das Blechstück. Mit einer weichen Bewegung fing Steele seinen wie von einer Stahlfeder weggeschnellten Unterarm wieder ein.

Das unregelmäßige Metallteil flog davon, sein Flug wurde unruhig, es drehte sich. Dann traf es mit hörbaren Flatschen die Nase des Anderen. Die messerscharfe Kante schnitt sich knapp über der Spitze in den Knorpel ein, verschwand zu einem Drittel und blieb vibrierend stecken. Es erinnerte an den selbstverstümmelnden Schmuck eines wilden Kopfjägerstammes. Sofort quoll Blut hervor, rann über das Blech und tropfte zu Boden, sickerte hellrot in die Falten rechts und links des aufgerissenen Mundes. Diese Bilder registrierte Steele, während er sich schon mit aller Kraft in einen Vorwärtssprung warf. Sein Gegner kreischte. Der Blutstrom aus seiner Nase wurde unterbrochen und verwandelte sich unter der Anstrengung des Schreiens in einen blasigen Schaum.

Die Hand mit der Pistole pendelte leblos an der Seite. Mit einigen Schritten überwand Steele die Distanz. Unter seinen Schritten krachten die Blechtrümmer wie Trommeln. Es reichte nicht, um Steeles unmittelbaren Gegner aus dem Schockzustand zu befreien, aber es alarmierte den Jungen im Wagen.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Steele die Bewegung und stellte fest, dass der Junge verteufelt fix war. Er musste seine ursprüngliche Absicht ändern.

Im letzten Moment gelang es Steele, zu dem Mann zu gelangen, ihm beide Arme auf den Rücken zu drehen und ihn so herumzuschieben, dass er selbst gedeckt wurde.

Der Mann erwachte aus seiner Erstarrung, wand sich, strampelte und versuchte, gegen Steeles Schienbeine zu treten. Der wiederum musste sich bemühen, sein Opfer aufrecht zu halten, um gedeckt zu bleiben, konnte ihm also die Arme nicht zu schmerzhaft umdrehen, weil das unweigerlich zum Vorbeugen des Oberkörpers geführt hätte. Dann krachten vom Wagen her die Schüsse, und bevor das Ohr überhaupt die Wahrnehmung richtig verarbeitet hatte, bäumte sich der Körper des Mannes unter den Treffern auf, eine schnelle Folge von Krämpfen durchlief ihn, das Schreien steigerte sich zum schrillen Quieken, um dann abzubrechen.

Steele spürte deutlich, mit welcher mörderischen Wucht das Geschoss auf das hilflose Fleisch traf und den anderen Körper gegen seinen eigenen warf. Aus dieser geringen Entfernung hätten die Kugeln durchaus durchschlagen und Steele ernsthafte Verletzungen beibringen können – in dieser Situation war so ziemlich jede Verletzung, die seine Reaktionen verlangsamte, tödlich – aber der Junge benutzte Plastikgeschosse, die sich beim Auftreffen zu Pfannkuchen-ähnlichen Fladen verformten, dabei scheußliche Wunden rissen, aber nicht tief eindrangen. Blutgeruch stach durch den penetranten, zu dick aufgetragenen Aftershave-Duft des Mannes. Dann krachte ein weiterer Schuss, und der aufplatzende Jauchegestank nach Kot und Urin zeigte Steele, dass der Unterleib aufgerissen war und der Darminhalt auslief. Wenn es in dem Stil weiterging, war bald nichts mehr da, wohinter sich Steele decken konnte.

 

Die Hände des Mannes waren schlaff, es gelang Steele, die Pistole aus dessen Fingern zu reißen und selbst in Anschlag zu bringen. Er drückte ab, hatte vergessen, die Sicherung zu kontrollieren, schwang mit dem Daumen den Hebel herum und zog den Abzug erneut nach hinten.

Steeles erster Schuss stanzte ein Loch in das Wagendach, knapp über den Kopf des Jungen.

Es war kein besonders guter Schuss, aber ausreichend, um die beiden im Wagen zu beeindrucken.

Der Motor heulte wütend auf, die Hinterräder schaufelten Sand und Steine und der Wagen schlingerte in einer Staubwolke ab. Es reichte gerade noch, den rechten Außenspiegel in Stücke zu schießen, dann verdeckte der Staub jede Sicht.

So weit lief die Sache völlig nach Steeles Wünschen. Er wollte keine toten Gegner, sondern solche, die möglichst panisch flohen. Nur so fand man ihre Schlupfwinkel. Die ganze Strecke bis zu seinem Wagen rannte Steele in einer Staubwolke, die das Atmen schwer machte und sich auf die Lungen legte. Keuchend erreichte er den Wagen und nahm die Vollgas-Verfolgung auf. Die anderen hatten jetzt einen gewaltigen Vorsprung, der sich aber schnell reduzieren würde, denn auf dem einzigen Fluchtweg konnten sie mit ihrem Wagen nicht viel schneller fahren als einen Traktor. Außerdem ahnten sie vielleicht nicht einmal, dass er hinter ihnen her war. Steeles abgestellter Wagen war leicht zu übersehen gewesen. In diesem Fall würden sie nach kurzer Zeit das Tempo verringern und sich in aller Gemütsruhe zu ihren Kumpanen begeben. An diesem Punkt seiner Überlegungen wurde Steele in denselben gestört, weil sein Wagen mit lautem Krachen einen Satz nach vorne machte.

 

Was für ein blöder, blöder Fehler! Er hätte daran denken müssen! Die drei Männer waren nicht zufällig aufgetaucht, sondern sie waren verständigt und herbeigerufen worden. Was wiederum die Vermutung nahe legte, dass irgendeine Person in der Nähe der Garagen gewesen war und Steele dort gesehen hatte. Inzwischen war Steele in seinem Informationsstand so weit gediehen, dass er wusste, welchen Wagen dieser Informant fuhr.

Es war ein pinkfarbener 3-Tonner-Pick-up mit ofenrohrdicken Auspuffrohren an den Seiten des Fahrerhauses, überdimensionierten Geländereifen und einer verchromten Rammstange vor dem riesigen Kühler. Außerdem wusste Steele auch ganz genau, wo sich diese Rammstange im Augenblick befand. Ungefähr fünfzig Zentimeter unterhalb der

Heckscheibe seines Wagens.

Der Stoß warf Steeles Wagen aus der Bahn. Er musste mit aller Konzentration gegenlenken, musste vor allem die Geschwindigkeit drosseln, um seinen Sportwagen daran zu hindern, quer zu driften und sich daraufhin zu überschlagen. Der Verfolger setzte in dem Moment, in dem Steele kurz auf die Bremse stieg, zu einem weiteren Stoß an. Beschleunigung des einen und Verzögerung des anderen summierten sich.

Der Pick-up krachte wie ein hungriger Löwe, der einem Büffel in den Nacken springt, auf den Sportwagen und schob seinen Kühler über dessen Heck. Blech zerfetzte kreischend, die Heckscheibe splitterte mit einem Knall, unzählige Glasteilchen wirbelten durch den Innenraum, prasselten gegen die Frontscheibe. Durch den Sitz mit der integrierten Kopfstütze war Steele wenigstens davor geschützt. Aber er hatte ein anderes Problem. Das Gewicht des Pick-up auf dem Heck drückte seinen Wagen hinten herunter. Die Vorderreifen hingen fast in der Luft, die Lenkung reagierte kaum noch. Wenn der Typ hinter ihm geschickt war, konnte er mit einem einzigen Schlenker Steeles Wagen um die Hochachse drehen und ihn dann in eine finale Folge von Überschlägen schicken.

Aber auch die Vorderachse des Pick-up hing auf dem Heck fest und bot nicht den notwendigen Bodenkontakt. Steele hörte, wie die riesigen Reifen gegen die Flanken seines Wagens bullerten, als der Fahrer versuchte, sie einzuschlagen. Einige Sekunden, die sich zu Ewigkeiten zu dehnen schienen, jagten die beiden ineinander verkeilten Wagen mit unverminderter Geschwindigkeit den Weg entlang. Dann krachten sie in eine Querrille, der Sportwagen stieg wie ein scheuendes Pferd in die Luft und drehte sich zur Seite.

 

Das war die Chance. Zumindest war Steele in der Lage, dies als Chance zu nutzen. Er gab Gas und riss zugleich die Handbremse hoch. Sein Wagen drehte sich zur Seite, begann zu kreiseln, der Pick-up rutschte scheppernd über die Heckseite ab und schoss mit erhöhter Geschwindigkeit weiter. Steele ließ die Handbremse los und vollendete die begonnene Kreisbewegung. Der Pick-up war zwanzig, dreißig Meter vor ihm. Zum Glück war die Mechanik des Sportwagens noch intakt. Er beschleunigte und näherte sich, wie von einem Gummiseil gezogen, dem Pick-up. Bevor Steele die Idee, sich der Pistole zu bedienen, ausführen konnte, sah er die Baumgruppe. Es gab nicht viele Bäume beiderseits des Weges, aber diese bestand aus einigen sehr schönen und vor allem festen Pinien. Steele beschleunigte weiter, brachte seinen Wagen neben den Pick-up, dessen Fahrer die Situation immer noch nicht erkannt zu haben schien, und setzte dann im schrägen Winkel zum Rammstoß an.

Der Sportwagen schob sich wie ein Keil unter den schweren Gegner. Die Reifen auf der rechten Seite stiegen hoch und drehten jaulend in der staubigen Luft durch. Ein Eisenträger knallte gegen Steeles Frontscheibe, in jeder Sekunde breitete sich knackend ein Spinnennetz von Rissen aus und nahm im die Sicht. Staub schlug sich als graue Schicht auf dem Glas nieder, die Scheibenwischer zerfetzten an den Rissen, kratzten sinnlos ein Streifenmuster.

Die Motoren dröhnten in höchster Lautstärke, durch das Heckfenster fauchte der Fahrtwind, untermischt mit bläulichen Abgasen.

 

Steeles Hände schmerzten von den Schlägen, die das Lenkrad austeilte, in seinen Nacken floss Schweiß. Wut stieg in ihm auf. Was für ein geistesblinder Fehler, und nun das! Nun das!

Mit einem lauten Schrei fuhr Steeles Faust nach vorne und prügelte auf die Scheibe ein. Die Scheibe löste sich vollständig aus ihrem Gummirahmen und flatterte irgendwohin davon, der Wind sprang ihn an, aber nun hatte er wenigstens wieder Sicht. Mit kurzen Tritten auf das Gaspedal stellte Steele seinen Wagen in einen stärkeren Winkel. Nun hatte er den anderen im Griff. Er machte genau das, was jeder Schlepperkapitän in jedem Hafen der Welt tut, wenn er ein Dickschiff gegen die Kaimauer drückt. In diesem Fall war die Kaimauer aber eine Baumgruppe, und damit hörte jeder Vergleich auf, selbst derjenige mit einem Eishockeyspieler, der seinen Gegner per Bodycheck in die Bande krachenlässt.

Kurz vor dem Aufprall versuchte Steele, seinen Wagen wieder fast parallel zum Pick-up zu stellen. Aber der Pick-up machte jetzt, viel zu spät, den Versuch einer Vollbremsung und riss den Sportwagen herum, sodass Steele für einen Moment mit durchgetretener Kupplung rückwärts rollte. So konnte er mit ansehen, wie der Pick-up kippte und auf der Seite schleifend gegen einen Baumstamm prallte. Die Wucht des Aufpralls zerlegte die Motorhaube, die Maschine flog als dunkler Funken sprühender Schatten, Äste und Nadeln zur Seite wirbelnd, davon. Dann glomm ein Funke, auf und einen Herzschlag später verschlang die gleißende Wolke einer Explosion die Unfallstelle. Steele sorgte dafür, dass sein Wagen wieder in die richtige Richtung kam, und jagte weiter.

 

Er hatte Zeit verloren. Aber er hatte noch seine Chance. Allerdings nur, wenn der Wagen durchhielt. Der Motor machte noch keine Probleme, aber von der Hinterachse waren deutlich Erschütterungen zu spüren, die auf eine Beschädigung schließen ließen. Ein Blick auf das Armaturenbrett zeigte Steele, dass die Motortemperatur unaufhaltsam stieg. Schon auf der

Hinfahrt musste sich ein Schlauch gelockert haben, dem nun Kühlflüssigkeit entrann. Es blieb Steele nichts anderes übrig, als die Heizung voll aufzudrehen, um den drohenden Exitus des Motorblocks wenigstens etwas hinauszuzögern. Unangenehmer war der Fahrtwind, der ihm Staub, Steinchen und Insekten ins Gesicht fegte. Der Versuch, an die Sonnenbrille zu kommen, scheiterte. Genau in dem Moment, in dem Steele eine Hand vom Lenkrad nahm, um sie aufzusetzen, geriet der Wagen in eine ausgefahrene Spur und wäre in ein Feld geprescht, wenn Steele nicht beidhändig zugepackt und das Steuer herumgerissen hätte. Die Brille fiel auf den Beifahrersitz, rutschte bei dem nächsten Schlag des Fahrwerkes in den Fußraum und mischte sich dort unerreichbar unter den herumfliegenden sonstigen Inhalt des Handschuhfaches.

Dann eben so. Dann eben mit Hummeln, die ihm gegen die Stirn knallten, dass die Haut platzte, und mit Staub, der in den Augen brannte. Der Weg endete, vor ihm war die Landstraße. Steele verzögerte und war für einen Moment unsicher. Dann grinste er boshaft, als er die Reifenspur erkannte. Dieser Idiot hatte seinen Amischlitten mit einem Powerslide durch die Kurve geknüppelt. Guter Junge, mach weiter so, dann kommt der gute Onkel Jeremy und gibt dir eine Belohnung. Vollgas, Beschleunigung, zweiter Gang, dritter Gang, vierter Gang, fünfter Gang, der Drehzahlmesser sprang wie ein durchgedrehter Kampfhund gegen den roten Bereich der Skala an. Die Temperatur stieg. Aus den Lüftungsschlitzen blies heiße Luft, und dennoch stieg die Motortemperatur. Nur noch einige Minuten, dann war diese Karre reif für den Schrott. Aber wie viel Zeit brauchte Jeremy Steele? Hatte er schon verloren oder war alles im grünen Bereich?

 

Die Straße, die Steele vor Kurzem in Gegenrichtung gefahren war. Reduziert auf eine Folge von Biegungen und Kurven, vor denen die Bremse durchgetreten werden musste, bis von den blockierten Reifen Gummiqualm hochstieg, und Geraden, auf denen er beschleunigte. Steele raste wie durch einen Tunnel. Die Landschaft flog in Zehntelsekundenfetzen an ihm vorbei. Eine Kuppe war vor ihm, er achtete nicht darauf, überfuhr sie mit Vollgas, bemerkte erst als es schon zu spät war den gefährlichen Buckel und das Gefälle dahinter. Der Wagen hob ab, mit zusammengebissenen Zähnen hielt Steele das Lenkrad gerade und wartete auf den Aufprall der Landung. Aber wie bei einer Sprungschanze fiel die Straße parallel zu Steeles Flugbahn ab und verlängerte sie. Der Wagen begann mit dem Kühler abzusacken, begann eine Bewegung, die ihn nach einer oder zwei Sekunden senkrecht in der Luft stehen lassen musste.

Steeles Hand zuckte herüber zum Hebel der Handbremse, schreckte dann wieder zurück. Oberhalb des Erdbodens verliert sich die Bremskraft dieser Einrichtung. Vor Steele kippte die Landschaft weg, die Straße schob sich über der Motorhaube ins Bild. Jetzt hatte er keinen Einfluss mehr. Dann kam die kleine Unebenheit, der Wagenbug krachte gegen den Asphalt, der Aufprall schlug den Wagen nach hinten. Für einen Moment schien sich der Wagen in die Straße zu verbeißen, Funken sprühten beiderseits wie Kielwellen eines Rennbootes, dann schlug auch die Hinterachse auf die Straße, krachend löste sich eine Plastikverschalung der Wagenfront, flatterte über den Wagen und blieb auf der Straße liegen. Steele hielt das Lenkrad gerade, bis der Wagen sicheren Bodenkontakt hatte, und gab wieder Vollgas. Die Situation war abgehakt und wurde in die Schublade Erfahrung weitergeleitet. Mit der Plastikverschalung war der Frontspoiler verloren gegangen. Der Wagen lag unruhig, wartete boshaft auf jede Unebenheit, um zu bocken und zu schlingern. Dafür war aber jetzt der Ölkühler frei im Fahrtwind, und die Temperaturanzeige kletterte merklich langsamer.

Es konnten nicht mehr als zwei oder drei Minuten sein, die Steele damit gewann, aber diese mochten entscheiden. Ein Insekt klatschte gegen den Wagenhimmel und hinterließ einen hässlichen, länglichen gelblich-braunen Fleck. Das Geräusch von der Hinterachse steigerte sich zu einem hektischen Rattern, verbunden mit einer Vibration, die an der Bodengruppe rüttelte. Im Rückspiegel erkannte Steele den Funkenschweif, den er hinter sich herzog.

 

Inzwischen hatte er einige Einmündungen passiert, ohne die Geschwindigkeit zu verzögern.

Wenn die beiden Männer vor ihm tatsächlich einen Verfolger ahnten, dann brauchten sie sich nur in einen dieser Nebenwege zu stellen, ihren Wagen hinter einen Busch zu parken und zu warten, dass der Sportwagen vorbeikreischte. Steele war sich dieser Gefahr bewusst und raste dennoch weiter, als wäre diese Fahrt ein Faustschlag, dessen Schwung er nicht mehr steuern konnte. Als er in der Ferne den anderen Wagen erkannte, der gerade nach rechts in eine quer abbiegende Straße einschwenkte, verstand Steele erst mit Bewusstheit, wohin ihn sein Instinkt gelenkt hatte. Sie waren auf dem Weg zu der kleinen Werft.

Das US-Coupé verschwand wieder aus dem Blickfeld, ein Hügel schob sich dazwischen, und eine Kurve verlangte nach Steeles gesamter Aufmerksamkeit. Das Herunterbremsen aus Höchstgeschwindigkeit entpuppte sich als höchst prekärer Seiltanz, bei dem die Bremse immer wieder gelockert werden musste, um ein Ausbrechen des Wagens zu verhindern.

Entsprechend schoss Steeles Gefährt an der Einmündung vorbei und er musste zurücksetzen.

Die Straße war nun gerade und übersichtlich, aber kein anderer Wagen war zu sehen. Nach einigen Kilometern bog sie in das Dorf ab, in dem Steele übernachtet hatte. Geradeaus führte ein Feldweg, der stellenweise so tief ausgefahren war, dass Steeles Wagen mit seiner geringen Bodenfreiheit stecken zu bleiben drohte. Der Wagenboden kratzte über den Grund, schließlich verabschiedete sich der Auspuffstrang und gewährte einige Zentimeter mehr an Geländegängigkeit.

 

Die Werft lag menschenleer, das Tor war verschlossen.

Der Einfachheit halber umging Steele alle Formalitäten und fuhr mitten durch. Weil er auf dem Feldweg aber nicht die gewünschte Geschwindigkeit erreichen konnte, war der Effekt eher mäßig. Die Eisenrohre des Tores bogen sich, aus der verbeulten Motorhaube zischte heißer Dampf, aber das Tor blieb verschlossen.

Steele setzte zurück, warf krachend den ersten Gang ein und gab Gas. Der Motor heulte in Überdrehzahlen, aber jetzt flogen die beiden Torflügel zur Seite und Steele schlingerte auf das Werftgelände. Dort war der Wagen. Leer, mit offenen Türen. Die Insassen hatten es sehr eilig gehabt. Wo waren sie? Option eins: Sie lagen auf der Lauer und würden mittels Feuerwaffen in der nächsten Sekunde Steeles Schädel perforieren. Option zwei: Sie würden ihre Flucht fortsetzen. Nachtrag zu Option zwei: Womit? Steele hielt den Wagen an. Würde Option eins zutreffen, war er nun auf dem Präsentierteller.

Der Motor seines Wagens tuckerte derart mitleiderregend, dass jedem Extremökologen die Tränen gekommen wären.

Fast vor Hitze verglüht, mit ausgeschlagenen Ventilen bemühten sich doch noch einige tapfere Zylinder, ihre Pflicht treu zu erfüllen.

Aber ein ganz anderes Geräusch elektrisierte Steele. Auf der anderen Seite des Werftgebäudes dröhnte ein Schiffsdiesel. Vollgas, der erste Gang krachte, Steele trieb seinen Wagen im Schwedenrallye-Stil um das Gebäude. Auch die Wasserseite war verlassen. Gegenüber dem Zustand des gestrigen Abends hatte sich nichts geändert. Schwarze Dieselabgase stiegen zwischen dem Arbeitsboot und dem Baggerponton hoch. Dort lag tatsächlich ein sehr schnell aussehendes Motorboot, und darauf waren tatsächlich die beiden Männer. Der eine stand am Steuer und manövrierte das Boot vorsichtig aus der engen Lücke.

Der andere zog bei Steeles Anblick die Waffe und feuerte. Er verschoss sein Magazin schnell und ungezielt. Der beste Schuss knallte in die Motorhaube. Bevor er wieder Gas gab, starrte Steele zu dem Boot hinüber. Es war keine drei Meter vom Kai entfernt. Aber zu weit für einen Sprung, und falls er versuchen würde, von einem der längsseits liegenden Boote auf das Rennboot zu springen, verlöre er zu viel Zeit und wäre ein leichtes Opfer für den Schützen.

Der Sportwagen verschwand. Der Schütze warf das leere Magazin aus und ersetzte es mit zitternden Fingern. Bisher hatte die Sache richtig Spaß gemacht, und dass es Tomaso erwischt hatte, war nicht weiter schlimm, der war nur ein arrogantes Arschgesicht gewesen. Aber dass jetzt dieser Typ hier wieder auftauchte, das machte ihm die Gurgel eng.

»Mach schon«, schrie er, »du sollst hier keine Zeichnung machen, du caricatura von einem pisello duro!«

»Manacchia! Halt du dein dämliches Maul, halt dich bloß geschlossen, Kleiner, wenn du den Irren erwischt hättest, statt Tomaso umzunageln, wären wir nicht in Schwierigkeiten. Und stör mich nicht und sag mir lieber, wie viel Platz ich auf deiner Seite habe.«

»‘ne Handbreit. Zu kommst zu stark rüber. Du musst noch ‘n Stück vor.«

 

Als Steele zu einer erneuten Umrundung des Gebäudes ansetzte, kamen die Hunde. Sie hatten sich offenbar von ihrem Schock erholt und fühlten sich auf eigenem Terrain unbesiegbar.

Von woher sie kamen, war ihm ein Rätsel, aber er hatte nun einmal nicht beachtet, und der eine sprang hoch und erwischte Steeles Jacke und Hemd sowie noch einiges an darunter liegender Haut. Steeles linker Arm war durch das Gewicht des Hundes blockiert, der wie rasend den Kopf zu drehen versuchte und sich gleichzeitig, mit Pfoten, die über den Türlack kratzten, in den Innenraum drängte. Steele lenkte zur Seite, fort von der Wand des Werftgebäudes, gab Gas, zog die Handbremse und zwang den Wagen in eine Wende. Dann löste er die Bremse und beschleunigte. Der Außenspiegel schrammte an der Wand entlang und riss ab, der Hund jaulte auf, als ihm die Beine weggerissen und sein Leib zwischen Wand und Wagen zu blutigen Brei zerquetscht wurden. Aus dem Maul schoss Blut und bedeckte Steeles Brust. Der Schädel mit einigen Fellfetzen hing noch an Steeles Schulter. Um kleinere Schönheitskorrekturen konnte sich Jeremy Steele beizeiten kümmern. Seine Wut, die während der ganzen Zeit in ihm gekocht hatte, war verflogen. Er war nun ganz ruhig. Jeremy Steele war im Auge des Sturms.

Erneut wendete Steele den Wagen. Der andere Hund griff von der Beifahrerseite an. Als er versuchte, sich durch das geborstene Seitenfenster zu drängen, ließ Steele das Wagenheck wie einen Alligatorschwanz ausschlagen. Der Wagen prallte mit der linken Seite frontal gegen die Wand und hinterließ neben Rissen und Lackspuren einen Fladen aus Knochen, Fleisch, Gedärmen und Blut, der in jedem Hundehasser euphorische Gefühle ausgelöst hätte.

 

Das Werftgebäude hatte im Erdgeschoss zwei große gegenüberliegende Doppeltüren, eine auf der Wasserseite, die andere dort, wo Jeremy Steele nun seinen Wagen platziert hatte. Dort musste eine Werkhalle sein, durch die hindurch er Schwung nehmen konnte. Die Tore waren aus dünnen Holzbrettern grob gezimmert und bildeten eher einen Sichtschutz als eine ernst gemeinte Absperrung. Sie müssten weniger Widerstand bieten als das Außentor.

Müssten. Theoretisch. Und wenn dort keine Halle war, sondern die kürzlich errichtete Mauer des neuen Kasinos, oder wenn ein zehn Tonnen schwerer Schiffsdiesel aufgebockt mitten in der Halle stand …

Steele griff nach seinen Papieren und stopfte sie sich, zusammen mit der Pistole, in den Hemdausschnitt. Dann ließ er den Motor aufheulen, betrachtete den Dampfstrahl, der jetzt verstärkt aus der zerbeulten Haube schoss, und lockerte seinen Kupplungsfuß.

Der Wagen ruckte vor, Grasfetzen polterten gegen den Boden, der Drehzahlmesser sprang bis zum Anschlag, der Tachometer stieg in den oberen Zahlenbereich. Der Wagen brach durch das erste Tor, stockte kurz und beschleunigte weiter. Die Halle war vollkommen leer. Die Reifen quietschten über den Betonboden. Dann splitterte schon das Holz des zweiten Tores, da war die Kaimauer … der Wagen hob ab und flog über das verölte Wasser. Direkt an der Kante der Kaimauer war ein schräger Schlussstein, der wie eine Rampe wirkte. Steele drückte sich in den Sitz, die eine Hand am Lenkrad, die andere lag am Verschluss seines Sicherheitsgurtes. Die beiden Männer auf dem Boot erstarrten in eisigem Schrecken. Gerade waren sie aus der engen Lücke zwischen den anderen Booten heraus, der Mann am Steuer beugte sich vor und wollte mit Schwung das Rad herumwerfen, während seine rechte Hand auf dem Fahrthebel lag und auf Vorwärtsfahrt umstellte. Der Wagen schlug mit dem Heck zuerst auf. Eine Fontäne wie von einer explodierenden Wasserbombe stieg hoch. Das Vorderteil des Wagens prallte auf die Bugspitze des Bootes und riss sie nach unten. Der Aufprall katapultierte einen der beiden Männer – es war derjenige, der Steele beschossen hatte, in hohem Bogen über Bord. Steele klinkte den Sicherheitsgurt aus und versuchte, sich aus dem Wagen zu befreien. Das Spritzwasser rauschte auf ihn herab, zischte und dampfte auf der heißen Motorhaube. Der Wagen kippte zur Seite, durch das Heckfenster gluckerte öliges Wasser. Es war schwer, die Orientierung zu bewahren, Steele musste über den Beifahrersitz klettern, nachdem er sich vorher von den Resten des Wachhundes befreit hatte, und sich durch das Seitenfenster drängen. Immer tiefer sank der Wagen. An den überhitzten Stellen des Unterbodens, am Antriebsstrang zischte und brodelte es und kochend heiße Spritzer trafen ihn.

Er schraubte sich durch das zu enge Fenster, blieb hängen, weil die Papiere, die er vor dem Bauch trug störten, er strampelte und drehte sich und kam schließlich frei.

Der Mann im Boot schob den Gashebel vor, aber die Propeller drehten sich in der Luft, weil das Gewicht des Wagens das Boot immer noch hochdrückte. Der Mann griff zu seiner Pistole und feuerte auf Jeremy Steele, der jetzt über die Seitentüre an Bord sprang. Er feuerte aus kürzester Entfernung und sah, wie Jacke und Hemd des Mannes auseinanderfetzten.

Aber der Steele sprang weiter, trat ihm die Pistole aus der Hand, und dann packte er ihn an den Haaren und schlug ihn mit der Stirn gegen die Kante der Windschutzscheibe, sodass er ohnmächtig und blutüberströmt zusammenbrach.

Steele stellte den Motor auf Leerlauf und wuchtete den Wagen von der Bugspitze. Es war schwerer als erwartet, denn ein Metallrohr hatte sich in einer Klampe verhakt. Schließlich trat

Steele wie besessen mit dem Schuh gegen das Rohr, und endlich riss sich der Wagen los und versank in einem Schwall.

Der andere Mann, derjenige, der über Bord geschleudert worden war, schwamm auf das Ufer zu. Er hatte einen längeren Weg zurückzulegen, denn er musste um die vertäuten Schiffe herum zur Helling, wo das Ufer flach war. Wenn er nicht so energisch und schnell geschwommen wäre, hätte Steele ihn am Leben gelassen. Aber so …

Steele schob den Gashebel nach vorne, kuppelte, warf das Boot herum und nahm Kurs.

Der Schwimmer schien etwas zu ahnen, er blickte über die Schulter zurück, warf sich vorwärts, bekam dann schon Grund unter die Füße und richtete sich auf. In diesem Moment war der heranrasende Schatten des Bootes über ihm. Es gab einen Schlag gegen den Rumpf, die Propeller änderten für eine Sekunde ihr Geräusch, dann riss Steele das Boot in eine enge Kurve, rutschte auf dem Kiel über das Wasser, bis das Boot wieder stabil lag, und passierte die Stelle ein letztes Mal. Ein roter Fleck, in dem Fetzen von Kleidung trieben. Als er die Hafeneinfahrt hinter sich gelassen und nach Norden gedreht hatte, knöpfte Steele sein Hemd auf. Das fiel ihm leicht, schließlich war der Stoff im Bauchbereich arg vermindert. Die Tasche mit den Papieren war fast unbeschädigt. Am meisten hatte die Pistole abbekommen. Steele warf sie fort. Hinter ihm rührte sich stöhnend der Steuermann. Von ihm, sagte sich Steele würde er wohl eine neue Waffe bekommen. Und sicherlich auch noch ein paar Informationen …

Fortsetzung folgt …