Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Der Detektiv – Die entführte Gräfin – Teil 3

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 21
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die entführte Gräfin

Teil 3

Erst in dem Auto, das uns in beschleunigtem Tempo nach Charlottenlund, acht Kilometer nördlich von Kopenhagen bringen sollte, kam ich dazu, Harst zu fragen: »Was in aller Welt sollte die Depesche? Das war eine Fälschung!«

»Stimmt. Ich will eben einen der Halunken, der Erpresser, entlarven! Graf Christian hat nette Freunde. Bei Schimmelpfeng erfuhr ich, dass des Grafen Intimus der deutsche Marinemaler Hölger aus Warnemünde sei.«

Harst versuchte, ob die Deckenlampe des geschlossenen Autos brannte. Als sie aufglühte, zog er die Abendzeitungen hervor, begann sie hastig durchzusehen, rief dann: »Hier steht es. Ich werde vorlesen.«

Wir können zu dem Fall Söderholm noch Folgendes nachtragen. Gestern Nachmittag 5 Uhr brachte Herr Stripley die geforderte Million in das Erbbegräbnis der gräflichen Familie, und zwar in Gegenwart seines Schwiegersohnes, des Grafen Christian und des Chauffeurs Bendisen. Der Umschlag mit dem Geld wurde wie verlangt auf den Deckel des Eichensarges des verstorbenen Axel Söderholm niedergelegt. Die Herren verschlossen die Tür des in Form einer kleinen Kapelle gebauten, noch aus dem 16. Jahrhundert stammenden Erbbegräbnisses und kehrten in das Schloss zurück. Unsere Polizei hatte im Interesse der Gräfin auf jede weitere Einmischung bekanntlich verzichtet. Die Gefahr, dass Spitzbuben sich die Million aneignen könnten, war ohne Zweifel groß. Immerhin war das Geld durch das Kunstschloss zum Eingang des Erbbegräbnisses durch die stark vergitterten Fenster und durch den Geheimverschluss der eigentlichen Gruftplatte geschützt. Auf Befehl des Grafen musste selbst der Parkwächter den üblichen nächtlichen Rundgang unterlassen.

Als die Herren dann heute Morgen um 7 Uhr die Gruft betraten, war das Geld verschwunden, und um 11 Uhr vormittags langte von Kopenhagen her in einem Mietauto die Gräfin auf dem Schloss wohlbehalten an. Sie war freigegeben worden, hatte jedoch schwören müssen, weder über die Art ihrer Entführung noch über ihre Gefangenschaft irgendetwas anzugeben. Obwohl nun ihr Gatte, ihr Vater und auch Inspektor Barkeröd ihr vorhielten, dass doch ein solcher erzwungener Eid keine Bedeutung hätte, erklärte die Gräfin, sie würde den Schwur halten.

Vieles ist bei dieser Geschichte rätselhaft. Am rätselhaftesten aber die Tatsache, dass die Erpresser es wirklich fertiggebracht haben, die Million sich aus der Gruft zu holen, ohne die Schlösser zu verletzen oder gewaltsam sonst wie einzudringen.

Kriminalinspektor Barkeröd hat sofort um halb zwölf vormittags, nachdem für die heimgekehrte Gräfin nichts mehr zu befürchten war, mit Polizeihunden die Umgebung des Erbbegräbnisses und die Gruft selbst abgesucht – leider ohne Erfolg. Inspektor Barkeröd gilt als der Befähigtste unserer Detektivbeamten. Hoffen wir, dass es ihm doch noch glückt, diesen raffinierten Gaunern ihre Beute abzunehmen.

Das Auto hielt. Wir stiegen aus. Harst bezahlte den Chauffeur. Ich blickte mich um. In der Nähe stand auf einer Straßenkreuzungsinsel ein elektrischer Kandelaber. Gut gepflegte Fahr- und Reitwege erkannte ich. Daneben breite, schattige Promenaden. Ringsum ein hochstämmiger Mischwald, dessen Rauschen so heimatlich klang. Es war der prächtige, vielbesuchte Dyrehaven, ein Naturpark, 8 km2 groß. Im Nordwesten davon, mit seinem Park daran grenzend, lag Schloss Söderholm.

Harst hängte sich in meinen Arm ein. »Nach dorthin müssen wir zu Fuß weiter, mein Alter. Wir hätten auch bis ans Parktor fahren können, aber ich will versuchen, mir die Autogarage des Grafen ohne Zeugen anzusehen. Du verstehst! Ich will so etwas spionieren, bevor ich als Steuermann John Marklay dem gräflichen Paar meinen Kratzfuß mache. An dem geschlossenen, dunkelblauen Auto Söderholms interessieren mich lediglich die Türen. Es gibt nur eine Möglichkeit, ein gemaltes Wappen schnell verschwinden zu lassen: Man überklebt es mit dunkelblauem Papier, das vorher schon gummiert worden ist! Denn sieh mal: Das Wagnis wäre doch zu groß gewesen, mit dem wappengeschmückten Auto dort bei der Andersen wieder vorzufahren. Blaue geschlossene Autos wird es hier genug geben. Gefährlich waren die Wappen an den Türen; die konnten bemerkt werden.«

Nach einer Viertelstunde hatten wir die Parkmauer des Schlosses überklettert und schlichen durch stockdunkle Gartenwege bei ganz leichtem Sprühregen auf die westlich des Schlosses liegenden Wirtschaftsgebäude zu. Diese standen im Viereck. Der von ihnen eingeschlossene Hof war durch eine kleine, an einem Mast befestigte Bogenlampe beleuchtet. Der Chauffeur kam gerade aus der Garage heraus, drückte den Türflügel ins Schloss und ging in seine über der Remise befindliche Wohnung hinauf. Dann erlosch die Bogenlampe.

»Sehr günstig!«, flüsterte Harst.

Wir hatten uns dicht an die Mauer des langen Stalles gedrückt.

»Warte hier. Ich bin in ein paar Minuten wieder zurück«, fügte er hinzu, als sich nun nirgends mehr etwas Verdächtiges auf dem Hof zeigte. Er huschte davon. Die Dunkelheit hatte ihn gleich darauf verschluckt.

Ich dachte an das warme Abendessen, das wir im Schloss zu erhoffen hatten; ich freute mich, dass dieses Abenteuer einmal so ganz nach meinem Geschmack war, beinahe behaglich und nur so ganz leicht aufregend, eben ohne jene Knalleffekte, wie sie sonst stets erfolgt waren und Harst und mir regelmäßig böse Stunden bereitet hatten.

Ich döste so vor mich hin, wie man zu sagen pflegt. Und überlegte gerade, ob der Graf uns unser Zuspätkommen nicht verargen würde, denn 7 Uhr war ja längst vorüber.

Da war es mit dem friedlichen Detektividyll auch vorüber.

Der Kerl, der von halb seitwärts lautlos an mich herangeschlichen war und mir blitzschnell die Hände um den Hals gelegt hatte und mir die Kehle zudrückte, musste ein Simson an Kraft sein.

Ich zappelte noch eine Weile, stieß auch wohl mit den Füßen nach rückwärts, packte auch wohl seine Handgelenke, aber meinem Schicksal entging ich doch nicht. Ich verlor die Besinnung. Mein letzter Gedanke galt Lihin Omen, der uns gewarnt hatte!

Ich erwachte. Wie lange ich bewusstlos gewesen war, erfuhr ich erst später. Ganz allmählich kam ich zu mir. Ich war gefesselt. Ich hatte im Mund offenbar ein Taschentuch als Knebel. Es duftete zart nach einem angenehmen Parfüm. Ich saß halb aufrecht da, den Rücken gegen etwas Hartes gelehnt.

Ah – das leise Quietschen eiserner Ruderdollen ganz taktmäßig! Mein Kopf war in eine weiche Decke gehüllt. Sie reichte bis in den Schoß hinab. Sehen war also unmöglich. Aber hören konnte ich recht gut und fühlen, dass ich in einem leicht schaukelnden, nach Ölfarbe riechenden Boot saß, hören, dass dauernd in der Nähe Bäume stark rauschten. Bäume: Also mussten wir uns auf einem Flüsschen mit bewaldeten Ufern befinden!

Mein Hirn wurde klarer und klarer. Dann eine Berührung, eine Hand, die meinen linken Arm leise drückte, leise und sozusagen in einem gewissen Takt.

Harst!, schoss es mir durch den Kopf. Harst, ohne Zweifel. Und dann wurde auch mir die Bedeutung der in Zwischenräumen erfolgenden Berührungen seiner Hand verständlich, die bald längere, bald kürzere Zeit meinen Arm umspannte. Es war ein Versuch, mir etwas durch Morsezeichen mitzuteilen. Ich konnte das Morsealphabet auswendig. Ich begann die Zeichen abzuzählen.

»… sehr bald große Überraschung geben, keine Gefahr, sei ohne Sorge, habe die Hände frei«, vermittelten mir die Armdrücke.

Dann zog Harst die Hand zurück.

Endlos lange ruderten die Unbekannten auf dem waldumrauschten Gewässer. Nun aber stieß das Boot an eine Anlegebrücke. Wir mussten aussteigen. Ich hörte flüstern. Man nahm mir die Fußfesseln ab. Jemand führte mich offenbar durch einen Wald. Ich stolperte über Baumwurzeln. Zurückschnellende Zweige trafen mich. Dann ging es über eine dumpf dröhnende Brücke, über kiesbestreuten Boden, hinein in irgendein Gebäude, dessen Tür in den Angeln misstönend gekreischt hatte, weiter durch hallende Gänge, durch drei neue Türen.

Und nun waren wir offenbar am Ziel. Mein Führer drückte mich auf einen Sitz. Es war ein Holzkasten oder Ähnliches. Ich hörte, dass noch jemand neben mir Platz nahm, dass mehrere Personen sich in dem Raum bewegten, der Fliesenboden haben musste, dass Frauenröcke rauschten.

Dann Stille – nur einen Moment. Dann eine raue, heisere Stimme, englische Worte.

»He, ihr verdammten Schurken, jetzt werdet Ihr uns die Wahrheit sagen oder wir ersäufen euch im Hafen, und kein Mensch sieht euch je wieder. Wer seid ihr nun eigentlich? Der eine von euch, der Schlanke, hatte seine Gaunervisage durch Perücke und Bart in ein ehrliches Seemannsgesicht verwandelt. Der kleine Dicke wieder war zurechtgestutzt wie ein Schiffskoch. Natürlich seid ihr verdammte Polizeischnüffler und hofftet, uns die Beute wieder abjagen zu können! Na, da seid ihr Halunken sehr an die Unrechten geraten. Also heraus mit der Sprache! Du, Dicker, dir werden wir den Knebel herausnehmen. Aber die Decke behältst du überm Schädel. Schwindelst du, so bekommst du einen Hieb über deinen Kahlkopf, dass dir Hören und Sehen vergeht!«

Man entfernte das parfümduftende Tuch.

Ich war nun fest überzeugt: Der Sprecher war James Palperlon! Absichtlich schlug er einen so rüden Ton an. Er wollte nicht, dass wir errieten, wer er sei.

»Antworte, du. Wer seid ihr?«, rief der krächzende Kerl abermals.