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Nach Amerika! – Zweiter Band – 02 – Teil 2

Friedrich Gerstäcker
Nach Amerika!
Zweiter Band
Leipzig, Berlin, 1855

Der Weserkahn

Teil 2
Ein junger Bursche, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt, der auch an demselben Morgen, mit einem ledernen Tornister auf der Schulter und einem leinenen zerrissenen Staub­hemd über einem sehr abgetragenen Röckchen, an das Ufer gekommen war und sein Gepäck zu dem übrigen gestellt hatte, war dann noch einmal fortgelaufen, in Schweiß gebadet wiedergekommen und schien über irgendetwas in gro­ßer Angst und Sorge. Die Leute hatten aber sämtlich zu viel mit sich selber zu tun, der Not und Sorge eines ihrer vermutlichen Mitpassagiere nachzufragen. Der arme junge Bursche, als schon sämtliches Gepäck an Bord geschafft wor­den war, saß noch immer auf seinem Tornister am Ufer, das bleiche Antlitz in die Hand gestützt, und schien wirklich in stummer Verzweiflung der Einschiffung der Übrigen zusehen zu wollen, ohne selber daran teilzunehmen.

Unter den Juden war einer namens Wald, ein Mann in den Vierzigern, mit einer ansetzenden Glatze, aber scharf ge­schnittenem klugen Gesicht und lebhaften schwarzen Augen, der sich bis dahin von den Übrigen ziemlich fern gehalten hatte. Durch das Wesen des jungen Burschen neugierig geworden, ging er nun zu diesem hin und fragte ihn, was er hätte oder was ihm fehle. Der arme Teufel klagte ihm da mit Tränen in den Augen sein Leid – es fehlten ihm wirklich noch fünfzehn Taler an seiner Passage nach Amerika. Die Reeder wollten ihn nicht mitnehmen, ehe er die volle Summe gezahlt habe, aber er müsse mit fort, und wenn ihn das Schiff nicht mitnähme, sei er rettungslos verloren.

Wald wollte ihn trösten, dass er denn wohl noch ein an­deres fände. Der junge Mensch schien aber so in Angst und überhaupt noch etwas anderes auch auf dem Herzen zu haben, worüber er nicht recht mit der Sprache herauswollte, sah aber dabei so treuherzig und fast noch kindlich aus, dass der Mann den Kopf herüber und hinüber schüttelnd, endlich sagte: »Nu Gottes Wunder, sind wir doch Menschen hier genug, die paar Thaler zusammenzubringen. Wart einmal ein bisschen, ich werde zu sammeln anfangen.«

»Aber das Schiff fährt fort …«

»Wird nicht so schnell fahren«, sagte der Mann gutmütig. Zu dem polnischen Juden gehend, hielt er der seine Mütze hin und sagte: »Kamerad, ich brauche ein paar Taler Geld für einen armen Teufel, den wir nicht dürfen zurücklassen in Deutsch­land.«

»Armer Teufel?«, sagte der Israelit, »wie heißt? Bin ich doch selbst en armer Teufel – wo ist er her?«

»Kann dir einerlei sein, wenn er arm ist«, meinte Wald.

»Der Mann hat recht«, sagte aber nun der Alte und griff in seine Tasche. »Wie viel braucht’s ?«

»Je mehr desto besser«, sagte Wald, »fünfzehn Taler Geld müssen werden.«

»Hier ist a Taler«, sagte der Alte und warf das Geld in die Mütze.

Der nächste zu diesem war Steinert, an den sich Wald mit seiner Sammlung wandte. Dieser zeigte sich aber nicht so rasch mit Geldgeben wie der alte Jude, sondern wollte erst genau wissen, wozu und weshalb, wer der Bursche sei, wo er herkomme, wo er wohne und was er treibe. Wald rief ihn herbei, als er sah, dass er auf keine andere Art zu seinem Zweck kommen könne. Der junge Bursche gab jede nur mögliche Auskunft, bis Steinert endlich in seine Tasche griff, einige Grutegroschen herausnahm und dem Alten, nachdem er sie mehrmals durchgesehen hatte, zwölf davon reichte.

»Aber wir brauchen fünfzehn Taler« sagte dieser, »und zweiundsiebzig machen erst einen.«

»Leider«, erwiderte ihm Steinert, »ich brauche aber noch mehr als fünfzehn Taler und mir gibt niemand etwas.«

Wald sah, dass alles weitere Zureden umsonst sein würde. Um deshalb nicht mehr Zeit zu versäumen, ging er weiter. Einige der jungen Mädchen, die der arme Bursche dauerte, nah­men sich nun auch der Sache an, legten selber zusammen, so viel sie konnten, und kollektierten bei den anderen. Es war gut für sie, dass sich viele Juden unter den Passagieren befan­den. Diese gaben fast alle und – so geizig sie sonst sein moch­ten – gaben reichlich, ohne weiter zu fragen, wie der Mann heiße und woher er sei, während die Christen, von denen viele es dem Anschein nach weit eher entbehren konnten, erst alles auf das Genaueste wissen wollten und dann noch jede Ausflucht suchten, wenigstens mit einigen Grutegroschen abzukommen. Nichtsdestoweniger brachte Wald, von den jungen Mädchen unterstützt, das Geld in kaum einer halben Stunde richtig zusammen. Der junge Bursche, nun überglücklich seine Reise gesichert zu sehen, flog mehr als er ging, in die Stadt zurück, seinen Schein zu bekommen.

Der Einzige, der sich bei der ganzen Sammlung nicht be­teiligt hatte, denn alle Übrigen hatten wenigstens eine Kleinigkeit gegeben, war der wunderliche alte Bursche, den wir anfangs auf den Kisten sitzend fanden , und der auch nur erst in der Tat seinen Platz geräumt hatte, als die weit ungeduldi­geren Reisegefährten anfingen, das Gepäck unter ihm selber wegzuziehen. Er aber war auch wieder der Erste, der sich eine gute Stelle an Bord aussuchte, dort eine der überall herumliegenden Matratzen, die fast jeder bei sich führte, aufrollte, und sich, keine Rücksicht auf etwa später Nachkommende neh­mend, behaglich unter Deck darauf ausstreckte.

Das Segel wurde nun von den beiden Seeleuten, die noch eine Art Schiffsjungen bei sich hatten, gehisst, und die mit schwarzer Farbe darauf gemalte Nummer 67 sichtbar. Das galt den Passagieren aber auch als Zeichen der Abfahrt. Alles drängte an Bord, einen bequemen Platz für die Hinaus­fahrt zu bekommen.

Unter den Passagieren, die mit dem Weserkahn befördert werden wollten, befand sich auch ein alter Bekannter von uns ; ein junger, sehr anständig und reinlich gekleideter Mann in schwarzem Tuchrock und eben solchen Hosen, mit blankgewich­sten Stiefeln und Glacéhandschuhen, ein reizendes Frauchen, ganz einfach aber höchst geschmackvoll gekleidet, am Arm und einen Knaben, einen lieben kleinen Burschen von kaum mehr als drei Jahren, an der Hand. Der Mann musste sich aber wohl schon früher genau nach der Abfahrt des Kahnes erkundigt haben, denn er war erst kurz vor acht Uhr gekommen und mit Frau und Kind, ohne sich mit einem der Übrigen in ein Ge­spräch einzulassen, am Ufer auf- und abgegangen.

Der Violinist Eltrich hatte das Geld zur Überfahrt für sich und die seinen, nachdem er vergebens versucht hatte, seine Pas­sage abarbeiten zu dürfen, mit schweren Opfern und besonders durch den Verkauf fast all seiner Habseligkeiten, zusammengebracht und war im Begriff, sich ebenfalls mit der Haid­schnucke nach Amerika einzuschiffen – freilich im Zwischendeck. Das Herz schlug ihm recht weh und ängstlich, wenn er die Leute sah, mit denen er gemeinschaftlich in einem Raum die lange Reise machen sollte, und der Entbehrungen, der Beschwerden dann gedachte, denen seine zarte junge Frau, denen sein Kind dabei ausgesetzt sein mussten. Adele aber, die liebe kleine Frau, die in dem gramumwölkten Blick des Gatten wohl all die Sorge, all den Kummer lesen mochte, den er sich ihretwegen machte, und ihretwegen doch auch gerade wieder sein ganzes Leben daran setzte, sie aus den Sorgen zu reißen, in denen sie im alten Vaterland gelebt hatten, hing sich an seinen Arm und lachte ihm die Falten von der Stirn. Auf all die komischen wunderlichen Gestalten machte sie ihn dabei aufmerk­sam , die sie umgaben, auf den langen Kahnführer mit seinem spitzen Gesicht und den polnischen Juden mit dem schönen blei­chen Knaben, und freute sich wie ein Kind über das rege Leben und Treiben, das um sie her drängte und wogte und sie nun mit fortnehmen sollte in eine neue Welt. Sie hatte nichts, das sie hier zurückließ, und das sie an das alte Vaterland noch hätte fesseln können; eine Waise stand sie in der Welt und ihr Mann, ihr Kind war die für sie.

Und dennoch schreckte sie fast unwillkürlich zurück, als sie, an des Gatten Arm, der den Knaben nun aufgenom­men hatte, um ihn an Bord zu tragen, das kleine Fahrzeug betrat, das sie stromab führen sollte, dem Seeschiff zu. Der warme Dunst, der sie von unten herauf anwehte, der Teergeruch das feuchte schmutzige kleine Fahrzeug selber – sie schmiegte sich fester an den Gatten an, wie um Hilfe zu suchen gegen dieses erste peinliche Gefühl, und nur erst, als dieser leise, aber tief und schmerzlich aufseufzte und die Szene vor sich mit ängstlich forschendem Blick überflog, denn er sah nicht ein stilles, geschütztes Plätzchen, wo er Frau und Kind hätte unterbringen können, der ungewohnten Umgebung nur in etwas zu entgehen, da zwang sie mit Gewalt jedes andere Gefühl zurück. Die Notwendigkeit gebot hier, dass sie sich fügte; nicht durfte und wollte sie des Gatten Herz noch schwerer machen, als es schon war.

Selbst mit einem Lächeln auf den bleichen Lippen sagte sie, sich flüsternd zu ihm biegend: »Ach, schade, Paul , dass du kein Maler bist. Das wäre ein Stoff hier für ein prachtvolles Genrebild.«

»Arme Adele«, flüsterte Eltrich leise.

»Arme Adele?«, wiederholte aber die junge Frau, nun ernstlich entschlossen, das Unvermeidliche auch fest und freudig zu ertragen. »Wie viele gäben Gott weiß was darum, dies nur zu sehen, und da wir endlich, wonach wir die langen Jahre und immer umsonst gestrebt, erreicht haben, bedauerst du mich?«

»Wie wirst du es nur auf dem Schiff ertragen?«, seufzte der junge Mann.

»Wie ertragen es so viele Tausend?«, entgegnete ihm aber die kleine wackere Frau, »und bin ich nicht jung und gesund? Was andere können, kann auch ich.«

»Aber du warst von je her ein anderes Leben gewohnt.«

»Und du nicht? Ach Paul, quäle dich doch um Gottes Willen nicht jetzt unnützer Weise mit solchen Gedanken und sieh lieber, dass du ein Plätzchen irgendwo für uns findest, die paar Stunden hinzubringen. Ich glaube, wir blieben am besten an Deck.« »Ich traue dem Wetter nicht«, sagte Eltrich kopfschüttelnd, »dort im Westen liegt es dunkel und schwer und kommt mit Macht herauf. Jetzt ist auch für uns noch Hoffnung, einen Platz unter Deck zu bekommen, denn viele scheuen sich hinunterzugehen, ehe sie müssen; nachher drängt denn alles hinein und die Leute hier sehen mir gerade nicht aus, als ob sie viel Rücksicht aufeinander nehmen würden.«

»So suche uns ein Plätzchen«, sagte die junge Frau , »und wir richten uns dann häuslich ein, ich und Luz, und wenn wir einmal wieder auf festem Grund und Boden sind, in Ame­rika drüben, dann werden wir noch oft über die Zeit lachen, die wir hier verlebt und was wir da alles gesehen und gehört haben.«

»Und gerochen«, seufzte Eltrich in komischer Verzweif­lung. »Lieber Gott, qualmen die Leute einen nichtsnutzigen Tabak.«

»Man gewöhnt sich an alles«, sagte die kleine Frau, »aber geh nun hinunter und sieh dich um, ich bleibe dann noch oben an der freien Luft, bis es wirklich zu regnen anfängt.«

In dem Kahn sah es indessen in der Tat wild und wun­derlich genug aus. Die Erstgekommenen hatten sich nach Um­ständen vortrefflich eingerichtet und alle vorgefundenen und meist noch zusammengebundenen Matratzen benutzt, Lager- oder Sitzplätze für sich herzurichten, und die später Eintreffenden suchten nun ihre Betten, über alles dabei hinwegsteigend, was ihnen im Wege lag. Jeder tat zugleich sein Bestes, den Nachbar zu überschreien, nur um selber gehört zu werden. Steinert besonders, der sich aus irgendeiner unbegreiflichen Ursache für schändlich behandelt und hintergangen hielt, machte einen Heidenlärm.

»Das also nennen diese Herren Reeder ein verdecktes Flussschiff – einen Aufenthalt für Menschen – für Auswanderer? Ein Kasten ist es, mit einem Loch darin, Mehlsäcke etwa wegzupacken und Fleischfässer – eine Vorbereitung zur Galeere für Mörder und Diebe – ein schwimmendes Zuchthaus. Verdecktes Flussschiff! – dass sie der Böse ein­mal später in einem solchen verdeckten Flussschiff zu seinen höllischen Regionen abführe, dort mit des Geschickes Mächten einen ewigen Bund zu flechten.«

»Ach was«, unterbrach ihn da einer vom Stamme Juda, »lassen Sie das Geschwafel und gehen Sie mit Ihren dreckigen Füßen von meine Matratze herunter. Gott, der Ge­rechte, wie sieht der Mensch um die Füße aus und stellt sich mir nichts, dir nichts aufs Bettzeug!«

»Meine Herren!«, rief Steinert dagegen, konnte aber seine Rede nicht zu Ende bringen, da der Mann den einen Zipfel der so misshandelten Matratze mit beiden Händen gefasst hatte und sie dem Weinreisenden mit einem plötzlichen Ruck so rasch unter den Füßen fortriss, dass dieser das Gleich­gewicht verlor und rückwärts in einen Korb von Blech und anderes Geschirr hineinfiel, den die Familie Rechheimer, Mann, Frau und zwei erwachsene Töchter, eben zu etwas genauerer Inspektion hervorgezogen hatten. Der Lärm wurde nun allgemein, denn Steinert wollte tätliche Rache nehmen und bat die Um­stehenden, dass sie ihn halten möchten, weil er sonst den Elen­den über Bord würfe.

»Frieden, lieben Freunde«, sagte da eine tiefe, aber sehr weiche, fast etwas singende Stimme. Ein junger Mann von vielleicht drei- oder vierundzwanzig Jahren, mit vollem Bart und langen glatt herunterhängenden, in der Mitte ge­scheitelten Haaren, modern, wenn auch etwas vernachlässigt gekleidet, trat zwischen die Streitenden und fing an, ihnen zu beweisen, dass sie beide unrecht hätten, dass sie nicht verständen, das Romantische ihrer Lage zu begreifen und anstatt wie die Biene aus jeder Blume Honig zu ziehen, sich von dem ersten bitteren Geschmack abschrecken und verblenden ließen.

»Ja, eine kleine Biene flog«, rief Steinert noch immer entrüstet dazwischen, »aber ziehen Sie einmal hier Honig her­aus, wenn ich bitten darf – das wäre ein Kunststück.«

»In einem solchen Kunststück bewährt sich gerade der Mann!«, entgegnete die kleine schmächtige Gestalt des Passagiers mit der tiefen Stimme. »Das Edle wollen und das Gute tun!«

»Ich brauche mir aber meine Matratze nicht einschmieren und mich schimpfen zu lassen, brauche ich nicht«, schrie jedoch der Israelit, noch keineswegs beruhigt, dazwischen.

Steinert wollte ebenfalls wieder heftig erwidern, als von einer anderen Ecke des halbdunklen Raumes her ein neuer Lärm hervorbrach, dessen Mittelpunkt dieses Mal der Mann mit dem affenähnlichen Gesicht zu sein schien. Dieser hatte ebenfalls, wie es sich nun herausstellte, auf einer fremden Matratze Platz genommen und weigerte sich, ihn zu räumen, als dass er ihn, ohne auch nur ein einziges Wort zu erwidern, ruhig gegen einen ganzen Schwarm von Frauen und Mädchen behauptete. Die einzige Antwort, die man aus ihm heraus­bringen konnte, war eine ordentliche Wolke des schändlichsten ordinärsten Tabaks, der sich nur denken ließ. Je ärger der Lärm um ihn her wurde, desto mehr verschwand er in dem immer dicker aufsteigenden Nebel. Nur die kleinen grauen, von dichten und dunklen borstigen Brauen beschatteten Augen blitzten daraus hervor, dass es den Frauen ordentlich unheim­lich zumute wurde, wenn sie den Mann anschauten.

Wer sich um all den Lärm da unten nicht bekümmerte, war der Kahnführer selber, Kapitän Meinert, der indessen , da die Ebbe nun wirklich eintrat, mit seines Matrosen Hilfe den leichten Anker an Bord und vorn auf den Bug hob. Als das kleine Fahrzeug, nicht mehr vorn gehalten, mit der Strömung langsam herumschwang, ans Steuer trat und es weiter hinaus in den Fluss lenkte, klar von den übrigen Kähnen zu werden und freies Fahrwasser zu bekommen.

Die Passagiere waren hierbei selber zu sehr in­teressiert, es so ganz gleichgültig mit anzusehen, wie sie zum ersten Mal in ihrem Leben flott wurden. Kaum fühlten sie unten die Bewegung des Schiffs, wie sie den Kahn un­verdrossen nannten, als auch die Mehrzahl rasch an Deck kletterte. Viele von ihnen hatten dabei eine unbestimmte Ahnung, dass sie nun bald das Land aus Sicht verlieren und direkt in die offene See hineinsteuern würden, das große Schiff nach irgendeiner gegebenen, unbekannten Richtung aufzusuchen. Andere glaubten, dass Brake wahrscheinlich um die nächste Landspitze herum läge, und sie dort spätestens zum Mittagessen eintreffen müssten. Jedenfalls gewann Eltrich indessen unten Zeit ein Eckplätzchen für Frau und Kind herzurichten, wo er eine von seinen Matratzen ausbreitete, und die andere gegen die Kahnwand hin hoch aufstellte, als Rückenlehne zu dienen. Adele hatte auch kaum mit dem Knaben darauf Platz genommen, als die Wolken, die sich den ganzen Morgen schon höher und höher gezogen hatten, begannen, Ernst zu machen. Es fing gegen neun Uhr an erst zu tröpfeln und dann ordentlich zu regnen. Die Passagiere drängten wieder mit Macht nach unten, unter Dach. Nur Einzelne von den Männern blieben oben, die, in ihre Mäntel gehüllt oder mit Regenschirmen, die Nässe dem Dunst und der Hitze unten vorzogen.

So scharf und frisch die Luft aber auch zu Beginn mit dem ersten Regen einsetzte und so rasch das kleine, ziemlich gut segelnde Fahrzeug dabei die Flut durchschnitt und die Türme Bremens bald zurückließ, so bald schlief der Wind wieder ein, und wenig mehr als die ausflutende Strömung trieb den Kahn zuletzt noch weiter, der kaum mehr seinem Steuer gehorchte und langsam und schläfrig an dem grünen Ufer niederschwamm. Die Luft war dabei schwül und drückend, der Regen goss dermaßen in Strömen nieder, dass selbst die Luke, wenn auch nicht dicht verschlossen, doch mit geteer­ter Leinwand verhangen werden musste, und die Luft in dem beengten Raum nur noch dumpfiger und schwüler machte.

Ein Teil der Passagiere amüsierte sich indessen gut – hie und da hatten sich kleine Gruppen gesammelt und spielten, mit einer Kiste zwischen sich als Tisch, Karten; dort machten ein paar junge Burschen – und der Mann mit der tiefen Stimme und den gescheitelten Haaren befand sich leider zwi­schen ihnen – den jungen Mädchen den Hof und suchten auf solche Weise nicht allein ihre Zeit zu vertreiben, sondern auch gleich Bekanntschaften für die Reise anzuknüpfen. An rohen Scherzen der Ungebildeten fehlte es dabei nicht, über die ein Teil ein wieherndes Gelächter aufschlug, während es den anderen verletzte. Eltrich seufzte oft tief und schwer auf, seine arme Frau in solche Umgebung nun vielleicht Monate lang gebannt zu wissen, und nicht imstande zu sein, sie dar­aus zu befreien.

Adele beschäftigte sich indessen teils mit dem Kind, teils versuchte sie, den Knaben im Arm und den Kopf gegen die Ma­tratze zurückgelehnt, dem hässlichen Aufenthalt nur kurze Zeit Schlaf abzuringen; aber der Lärm war zu groß, die Luft zu schwül und ungewohnt, und besonders der hässliche Tabakqualm zu nah und scharf, dass sie kaum im Einnicken immer wieder husten musste und munter wurde.

So schlich der Vormittag langsam und schläfrig hin; die Brise wurde gegen zwölf Uhr etwas frischer, aber der vielen Biegungen des Stromes wegen war sie ihnen fast ebenso oft entgegen als zu Gunsten, und um zwei Uhr, als Tot Wasser, wie es die Schiffer nennen, eintrat, d.h. die Zeit des Stillstandes zwischen Ebbe und Flut, wenn die eine auf­hört und die andere noch nicht begonnen hat, setzte Kapitän Meinert seine Passagiere ungemein in Erstaunen, als er seinen Anker plötzlich fallen ließ und sogar erklärte, hier wieder sechs volle Stunden liegen bleiben zu wollen, bis die Flut hin­auf sei.

Wie weit Brake noch sei, war an dem Morgen wohl tausendmal gefragt worden, und der Schiffer, der es endlich müde wurde, wieder und wieder darauf zu antworten, sagte dem einen fünf und dem anderen eine Meile, kurz jedem ver­schieden. Unten stritten sich dann die Parteien darüber, weil jede behauptete, ihre Nachricht aus bester Quelle zu haben.

Der größte Ärger stand aber den Passagieren noch bevor, als auch das zweite, um elf Uhr von Bremen abgegangene Dampfboot, kurz vorher, ehe sie wieder Anker geworfen hatten, an ihnen vorbeirauschte. Nun kam auch noch die Angst dazu, dass sie das Schiff am Ende zu spät erreichten. Wenn sie auch der Schiffer darüber beruhigte, sahen sie ihm doch, oh wie sehn­süchtig nach. Um acht Uhr wurde der Anker nun allerdings wieder gelichtet, als Steinert mit etwas heiser gewordener Stimme sang. Aber als es vollkommen dunkel wurde, mussten sie dennoch wieder beilegen, und zwar nun wieder in der trostlosen Hoff­nung, nicht vor acht Uhr nächsten Morgens aufs Neue unter Wegs gehen zu können. Kapitän Meinert hatte sich aber vorgesehen, noch ein Dorf zu erreichen, ehe er seinen Anker wieder auswarf, und stellte den Passagieren sein kleines Boot zur Verfügung, an Land zu gehen und dort zu übernachten, wo sie allerdings mehr Bequemlichkeit haben würden als an Bord. Die meisten machten auch davon Gebrauch und traten mit aufgespannten Regenschirmen, durch Schmutz, Wasser und Dunkelheit die Reise zum flachen Ufer an, wo sie in einem nichts weniger als freundlichen und fast ebenso dumpfigen Saal ihr teures Geld für etwas schlechtes Essen und eine Streu bezahlen mussten. Die Passage auf dem Dampf­boot hätte sie nicht mehr, wenn gar so viel gekostet.

Eltrich wollte seine Frau auch trotz allen jedenfalls dar­aus erwachsenden Kosten an Land nehmen. Sie weigerte sich aber entschieden, den Kahn zu verlassen, verzehrte lächelnd mit ihm ihr frugales Abendbrot und wickelte sich dann mit dem Kind in ihre wollene Decke , in der nun wenigstens eingetre­tenen Ruhe der Nacht so viel Schlaf wie möglich abzuge­winnen.

Es war eine traurige unfreundliche Nacht; der Wind heulte in den einzelnen Bäumen am Ufer, der Regen schlug prasselnd auf Deck und der Mast und das Tafelwerk knarrte und ächzte, den Passagieren an Bord nur wenig Ruhe gönnend, in den fremden, ungewohnten Lauten. So kalt und hässlich der Morgen aber auch hereinbrach, so freudig wurde er von den an Bord Befindlichen, die ihn wie lange schon ersehnten, begrüßt. Jede Stunde hatten die so oft gezählt, jede Minute fast, und das Morgengrauen unzählige Male herbeigewünscht. Ein trüber Anfang war das auch für ihre Seefahrt. Man­cher, der sich am vorigen Tag damit getröstet hatte, welche Stra­pazen und Beschwerden er zu ertragen imstande wäre, saß nun kalt und fröstelnd, niedergeschlagen und missmutig in einer Ecke und überlegte vielleicht nun schon, freilich etwas früh, die Gründe die ihn eigentlich zu einer Auswanderung bewogen hatten.

Wunderliche Gedanken steigen da in dem Menschen­herzen auf, und eine einzige solche Nacht, wenn sie nur etwas früher gekommen wäre, hätte manche romantische Erzählung, manchen glühenden Bericht über Amerika, weit, aus dem Feld geschlagen. Nun war das zu spät und ein Rücktritt nicht mehr gut möglich. Mit den Effekten und dem Passagegeld hätte es sich vielleicht noch einrichten lassen; lieber Gott, ein kleiner Verlust zur rechten Zeit ist oft ein großer Gewinn fürs ganze Leben, aber das Lachen zu Hause, das böse, böse Lachen – viele Menschen wollen lieber, wenn sie die Wahl haben, ver­achtet oder bemitleidet als ausgelacht und verspottet werden, und die wenigen deshalb, an deren Grundsätzen die falte un­freundliche Nacht doch gewaltig gerüttelt hatte, bissen die Zähne fest aufeinander und gingen dem Unvermeidlichen – eben weil es unvermeidlich war – entgegen. Aber solch ein Morgen, auf einem solchen Weserkahn! Erst in solchen Verhältnissen merkt auch der Mensch an, wie viel Bequemlichkeiten er gewöhnt ist, wie viele Bedürfnisse er schon hat, mag er sonst noch das ganze Jahr hindurch so einfach leben. Schon das erste Gefühl des Aufstehens widert ihn an. Ungestärkt, unerquickt, und schon fertig angezogen, hebt man sich von seinem Lager; man möchte sich nun ausziehen und sich waschen – aber wo? Wasser ist da im Überfluss, aber kein Waschbecken, kein Handtuch, weder Seife noch Zahnbürste, ­nicht einmal ein Platz, die unentbehrlichste Abwa­schung von Gesicht und Händen vorzunehmen, denn im inneren Raum ist jeder Zollbreit besetzt, und draußen an Deck schüt­ten die Wolken wieder Ströme Regens nieder. Wie grau und bleiern da der dämmernde Morgen auf der Welt liegt und wie still und einsilbig selbst die Lautesten und Unruhigsten der Schar geworden sind. Nur die Kinder schreien – rücksichts­lose kleine Gesellschaft, die die Welt nur erst von der einen Seite kennt und nun auf das Eifrigste dagegen protestiert, auch auf der anderen ihre Bekanntschaft zu machen.

Selbst Steinert war ruhig geworden und saß, durch das Weinen eines solchen kleinen ungeduldigen Nachbarn aus einem leichten und unerquicklichen Morgenschlaf geweckt, fröstelnd in seine wollene Dede gehüllt auf der Ecke einer fremden Matratze und blickte finster und verdrossen um sich her.

»Eine Tasse Kaffee – ein Königreich für eine Tasse Kaffee«, brummte er zuletzt, indem er den Hut abnahm, einen kleinen Taschenkamm aus seiner Brusttasche hervorholte und langsam die kurzen Haarstummel und den etwas struppig gewordenen Bart zu ordnen begann: »Himmeldonnerwetter, dass ich des pipsigen Mehlmeiers Rat nicht folgte und mit auf das Dampfboot ging; jetzt sitze ich hier zwischen heulenden Bälgern und schnarchenden anderen Individuen und blase Trübsal in alle vier Winde. Verdecktes Flussschiff, dass dich die Pest hole mit deinen verdeckten Flussschiffen.«

Hie und da hob sich nun ein Kopf in die Höhe, schaute sich schlaftrunken um und sank wieder in die alte Lage zurück, noch eine Weile die Augen schließen zu können und gar nicht sehen zu müssen, was in dem ungemütlichen Aufent­halt vorging.

Nur der Mann mit der tiefen Stimme und den mitten auf dem Haupt gescheitelten Haaren erhob sich nun ebenfalls und sagte, kopfschüttelnd die um ihn her gelagerten Gruppen überschauend: »Guten Morgen, Herr Steinert – ausgeschlafen?«

»Ja danke, auf der einen Seite wenigstens«, brummte Steinert, »denn die andere schläft noch und die Seh­nen und Muskeln sind mir ordentlich verklommen – Himmel, war das eine Nacht. Und sehen Sie sich einmal den Platz hier an Wallensteins Lager, beim Zeus, und die Hälfte Marketenderinnen. Apropos, Sie sind ja wohl Literat, wie Sie mir gestern gesagt haben – da ist Stoff für Sie eine ganze Bibliothek zu schreiben – da ziehen Sie sich Ihren Honig heraus, wenn Sie so gut sein wollen; wäre mir lieb, zu­zusehen, wo Sie ihn finden?«

Der junge Schriftsteller schien aber heute Morgen keine Lust zu haben, über derlei Sachen zu debattieren ; ihm war selbst zu unbehaglich zumute, seine gestrige Äußerung zu verteidigen. Mit ein paar leise gemurmelten Worten, die recht gut irgendeine höchst unromantische Verwünschung sein konn­ten, brummte er: »Ich möchte nur wissen, wer sich da ein Vergnügen ge­macht und die halbe Nacht an Deck bei dem Wetter Holz ge­sägt hat – die Leute wählen eine vortreffliche Zeit, ihren Winterbedarf einzulegen.«

»Holz gesägt?«, entgegnete aber Steinert erstaunt »meinen Sie etwa meinen Nachbarn hier, den dicken Unbeweg­lichen, der über Tag den guten Tabak raucht und seit ein Uhr geschnarcht hat, als ob er im Akkord arbeitete?«

»Das ist ein Schnarcher?«, rief der Literat im höchsten Erstaunen aus. »Aber warum stoßen Sie ihn da nicht ein­mal in die Rippen?«

»Weil ich mit keinem passenden Werkzeug versehen bin, auch bisher in dieser ägyptischen Finsternis nur nach der ungefähren Richtung zu hätte stoßen können«, sagte Steinert. »Sie da, Herr Moses oder Aaron, wie Sie gerade heißen, bitte knuffen Sie da doch einmal Ihren Nachbarn in meinem Namen und fragen Sie ihn, ob er nicht Meier hieße und aus Stolberg sei.«

»Gottes Wunder, so früh?«, sagte der eben Angeredete, der auch gerade munter geworden war und den Kopf in die Höhe gehoben hatte. Nichtsdestoweniger leistete er dem Wunsch Folge, und der Schnarcher fuhr, ziemlich unsanft angestoßen, erschreckt in die Höhe.

»Habe ich nicht das Vergnügen, mit Herrn Meier zu spre­chen?«, wandte sich Steinert nun verbindlich gegen ihn. Die Antwort aber, die er bekam, nahm ihm jede weitere Lust zur Konversation mit dem Mann, der sich, noch innerlich knur­rend, seinen abgefallenen Hut in die Stirn zog und dann auch ohne weiteren Zeitverlust wieder zurückfiel, noch einmal einzuschlafen.

Wie das plötzliche Stilstehen einer Mühle die müden Knappen weckt, so fuhr ein großer Teil der übrigen Passa­giere in die Höhe, als das regelmäßige donnernde Schnarchen des Mannes aufhörte. Schlaftrunkene Gesichter fragten nach der Zeit und dem Wetter und wo sie wären, und murmelten halblaute Flüche in den Bart, als sie sich ihres Zustandes klarer bewusst wurden.

Eltrich war einer von den Ersten an Deck, zog sich Wasser in einem Eimer herauf und badete sich Gesicht und Hände darin, das eigene Taschentuch zum ersten Mal als Handtuch gebrauchend. Den Schiffsjungen fand er dabei beschäftigt, auf einem kleinen, an Deck befindlichen verdeckten Herde, Wasser zu kochen, zu eigenem Gebrauch, und hatte die Genugtuung von diesem, für ein paar Gutegroschen einen Teil desselben zur Mitbenutzung zu erwerben. Etwas Kaffee und Zucker führte er selber bei sich, auch eine Flasche Milch für den Knaben. Seine kleine Frau lächelte ihm dankbar entgegen, als er sie weckte und ihr den einladend dampfenden Blechbecher zum Morgengruß brachte.

»Kaffee – bei Gott!«, rief es nun aber auch von mehreren Seiten des engen Raumes, als der aromatische Duft des hei­ßen Trankes ihre Nasenlöcher traf. »da oben gibt es Kaffee!« Und was keine Überredung sonst vielleicht vermocht hätte, war der Glaube imstande. Allerdings sahen sie sich getäuscht, und nur einigen gelang es noch für Geld und gute Worte von dem mürrischen Burschen einen halben Becher gemachten Kaffees zu erlangen. Die Übrigen mussten mit dem Boot an Land, dort eine Erfrischung zu erhalten, und andere suchten den Kapitän, die Abfahrt des Kahnes von ihm zu verlangen. Kapitän Meinert ließ sich aber erst kurz vor acht Uhr, wo die Flut sich staute, blicken, tröstete übrigens seine ungeduldigen Passagiere mit der guten Nachricht, dass sie, wenn der Wind so günstig bliebe, Brake in etwa zwei bis drei Stunden er­reichen würden.