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Adventskalender 2021 – 4. Türchen

Dommie
Eine wahre Adventsgeschichte
Aus: Tante Lisbeths Weihnachtsbuch, Regensburg, 1902

Es ist Dezember, es ist Advent! Mit dem ersten dieses Monats beginnt die schöne Zeit, welche die Mädchen der Marienalm – so wollen wir das große, altersgraue Institut im Ausland nennen – jedes Jahr eifrig benutzen, um dem Jesukindchen zu seiner Ankunft in ihren Herzen eine recht schöne Krippe zu bauen. Alle sind eifrig , aber besonders zeigt sich der Eifer äußerlich bei den Kleinen. So heißen jene Zöglinge, die noch nicht zur ersten Heiligen Kommunion gewesen und von den Größeren bei Tisch und zur Zeit der Erholung abgesondert sind. Die Kleinen sind meist allerliebste, unschuldige Mädchen, und wenn ich euch nun in ihren Kreis führte, würde gewiss eines euch ganz besonders auffallen. Es ist Dommie, eigentlich Domitilla, aber weil der Name so lang und fremd klingt, wird sie einfach Dommie genannt.

Dommie ist ein liebliches Kind mit langen, schwarzen Locken und großen, dunklen Augen, und, ihr selbst unbewusst, besitzt sie einen merkwürdigen Einfluss auf ihre kleinen Pensionsgefährtinnen. Wenn die Spielzeit kommt, drängen alle sich um Dommie und fragen: »Dommie, was spielen wir heute?«

Aber Dommie schlägt nicht gleich etwas vor, was sie selbst vielleicht gerne spielt, o nein, sie fragt freundlich: »Was wollt ihr am liebsten? Puppen, Ball, Bilderlegen?«

Die Kleinen zeigen auf, und die Stimmenmehrheit entscheidet.

Wie kommt es denn, dass Dommie einen solchen Einfluss besitzt? Sie ist – das wollen die kleinen Mädchen alle – die bravste unter ihnen, und wenn am Samstagnachmittag die von manchen gefürchtete Stunde kommt, wo die ehrwürdige Vorsteherin der Marienalm, Mutter Angelica, den Großen und Kleinen die Noten verliest, dann hat unsere Dommie die meisten guten und nur höchst selten eine schlechte Note.

Doch wir müssen ein Jahr zurückgreifen und stehen wieder im Anfang des Advents. Da brachte die Pförtnerin eines Abends Mutter Angelica ein merkwürdiges Schreiben: Ihr Bruder, der Stadtpfarrer von M…, meldete ihr ohne Weiteres ein kleines, verwahrlostes Mädchen an. Er nannte es ein armes Schäflein seiner Herde, welches er ihr in wenigen Tagen selbst zuzuführen gedenke.

»Du nimmst gewiss«, schrieb er, »dies vernachlässigte Geschöpfchen gerne an; hier liegen die Verhältnisse so, dass die Kleine unmöglich bleiben darf.«

Schon bald brachte der ehrwürdige Herr sein armes Schäfchen zur Marienalm; es war Dommie. Mutter Angelica nahm ihren neuen, kleinen Schützling mit mütterlicher Liebe auf.

»Ich habe solches Mitleid mit dem armen Kind«, sprach sie an demselben Abend zu ihren Schwestern. Und Dommie war in der Tat ein armes, bemitleidenswertes Kind. Ihre Mutter, in allem Glanz und Luxus erzogen, hatte schon als junges Mädchen eine wunderschöne Stimme gehabt, die ihre Eltern ihr zum Vergnügen ausbilden ließen.

Nie aber hätten sie gestattet, dass ihre Leonie, ihr einziges Kind, öffentlich als Sängerin auftrete oder gar sich dem Bühnenleben widme. O nein, Leonie sang nur vor anderen, wenn sie selbst allein oder in Begleitung ihrer Eltern bei deren Bekannten oder bei ihren jugendlichen Freundinnen eingeladen war. Schon bald vermählte sie sich, und der liebe Gott schenkte ihr die kleine Dommie.

Niemand war glücklicher als Mama, Papa und die guten Großeltern, und Dommie wurde der verwöhnte Liebling aller.

Aber ach! Eine tückische Krankheit zerstörte bald dies stille, häusliche Glück. Papa und die guten Großeltern fielen ihr in kurzer Zeit zum Opfer. Dommies Mutter hatte nun fast jede Stütze verloren, und die noch jugendliche Frau vermochte nicht, der Versuchung, ihre Stimme hören und bewundern zu lassen, zu widerstehen. Sie wurde Sängerin am Hoftheater zu M…

Arme, kleine Dommie! Sie zählte nun sieben Jahre. Es fehlte ihr nichts; sie hatte die schönsten Kleider, Puppen und Spielsachen, sodass manches Kind sie vielleicht beneidet hätte. Aber Mama hatte immer weniger Zeit, sich mit ihr zu beschäftigen, und Dommie bekam einige Privatstunden von einer kränklichen, pensionierten Lehrerin. Oft sah das Kind seine arme Mutter den ganzen Tag nicht, oft auch durfte es zuhören, wenn sie am Flügel stand, und Dommie hörte alles ganz genau, was Mama sang. »O, sie singt noch schöner als du, Nari«, flüsterte die Kleine dann wohl dem gelben Vögelchen, ihrem kleinen Spielgefährten, zu, »aber ich kann gar nicht verstehen, was Mama sagen will.« Nein, den Sinn konnte Dommie nicht verstehen.

Mama hatte nun einen anderen Bekanntenkreis als in früheren Jahren, und der einzige ihrer ehemaligen Freunde, der sich nicht von ihr abgewandt hatte, das war ihr früherer Beichtvater, der ehrwürdige Stadtpfarrer und der Bruder Mutter Angelicas.

Ob aber Dommies Mama seinen seltenen Besuch gerne empfing? Nun, auf jeden Fall gelang es dem würdigen Herrn, sie zu bestimmen, ihm Dommie zu überlassen; vielleicht hat es ihm gar nicht viele Mühe gekostet.

Und nun war Dommie im Pensionat! Aber dem aufgeweckten Mädchen, welches keinen Zwang kannte, fiel das regelmäßige Leben oft recht schwer: Unsere Dommie plauderte an allen Ecken und machte manche Störung. Ja, was kannte sie von Silentium und Ordnung?

»Die ersten Tage soll die Kleine morgens länger ruhen«, so wollte Mutter Angelica. Dann aber durfte Dommie mit den anderen aufstehen und am Morgengebet der Kleinen teilnehmen. Da hörte sie, wie am Schluss der Gebete die Schwester die Worte hinzufügte: »Wir bauen heute an der Krippe weiter und legen ein weiches Deckchen hinein, indem wir sehr treu Schweigen beobachten.« Und ein anderes Mal: »Wir füllen dem Jesukindchen ein Kissen mit weichen Daunen, indem wir recht freundlich und gefällig sind.«

Ach! Dommie hatte wohl schon etwas vom Jesukindchen gehört. Das war früher gewesen, als Großmama noch lebte; aber in den letzten Jahren bei Mama allein, da hatte ihr niemand mehr etwas erzählt. Dem Kind ging nun eine neue Welt auf. O, wie vieles hörte es bald, wovon es keine Ahnung gehabt hatte und was viele der kleineren Mädchen doch schon wussten! Jedes Wort fiel bei Dommie auf guten Grund. Freilich, es kostete ihr oft große Mühe, den Vorsatz, den sie täglich beim Morgengebet aus Liebe zum Jesuskind fasste, auszuführen, aber es ging doch. Und als das Jesukindchen kam, da fand es wohl in keinem Herzen ein Krippchen, wo es hätte bester ruhen können als in dem unserer kleinen Dommie.

Nun war Dommie schon ein Jahr im Institut und bei allen. Sowohl bei ihren Erzieherinnen als auch bei ihren Gefährtinnen erfreute das liebenswürdige Kind sich großer Beliebtheit. Aber von ihrer Mutter hörte Dommie in der ersten Zeit nur wenig und dann gar nichts mehr. Wohl lag die Kleine abends oft lange wach in ihrem Bett, dachte an Mama und betete für sie. Oft auch regte sich die Sehnsucht nach dem Mutterherzen so heftig in ihr, dass sie bitterlich weinte. Aber dann tröstete Mutter Angelica und die Schwestern in so gütiger Weise, und in Dommies jungem Herzen keimte schnell die neue Hoffnung eines baldigen Wiedersehens.

Warum auch sollte das arme Kind das Schicksal der geliebten Mutter erfahren? »Sage Dommie nichts«, schrieb der Stadtpfarrer an seine fromme Schwester, »besonders weil ich Grund habe zu hoffen, dass alles sich zum Besseren wenden werde.«

So ahnte denn Dommie nicht, dass Mama infolge einer heftigen Halsentzündung ihre herrliche Stimme gänzlich eingebüßt hatte. Der Verlust brachte die arme, verblendete Frau fast zur Verzweiflung. »Was bleibt mir, wenn ich meine Stimme nicht mehr habe?«, wiederholte sie unter Tränen unzählige Male, und dann versank sie in einen Zustand der tiefsten Melancholie. Von ihrem Kind sprach sie nie; sie schien nicht zu wissen, dass sie eines ihr eigen nannte.

Dommie aber dachte in letzter Zeit mehr als je an Mama. Ob es nicht ihr Schutzengel war, der ihr immer wieder von ihr zuflüsterte? »Warum kommt sie denn gar nicht, mich zu sehen?«, fragte die Kleine fast bittend Mutter Angelica. »Hat sie mich denn nicht ein wenig lieb?«

»Doch Dommie, ganz gewiss; bete nur viel, und Mama wird kommen. Jetzt ist Advent, baue dein Krippchen recht eifrig und schön.«

»O ja, ich will es tun, und dann bitte ich das Jesuskind, dass es mir mein Mütterchen schickt.«

In Mutter Angelicas Auge glänzte eine Träne der Wehmut. Mitleidig schaute sie in das schmale, feine Gesichtchen der Kleinen.

Und Dommie baute mit einem Eifer an ihrer Krippe, dass niemand ihr gleich kam. Ja, sie tat mehr als die tägliche Adventsübung ihr auferlegte, und oft, sehr oft bat sie das Jesuskind: »O gib doch Dommie ihr Mütterchen.«

Schon war die erste Adventswoche vorbei, aber Dommie hatte noch nichts von Mama gehört. Da fiel es eines Morgens Schwester Seraphica, der Klassenlehrerin Dommies, auf, dass die Kleine so seltsam aus den Augen blickte. In der Tat, Dommies Köpfchen glühte und als der dritte Adventssonntag kam, da herrschte in Marienalm große Angst und Trauer. Dommie, der Liebling aller, lag zu Tode krank im Bett. Schon gleich hatte Schwester Seraphica sie an jenem Morgen ins Krankenzimmer gebracht, doch niemand dachte an eine ernstliche Krankheit, besonders nicht, weil Dommie heiter und vergnügt blieb. Nur eins beklagte sie: »Ach, Schwester Seraphica, wenn ich hier bleiben muss, kann ich ja nicht an meiner Krippe bauen.«

»O natürlich, Dommie, liebes Kind; sieh, du brauchst jetzt nichts zu tun als recht geduldig zu sein, dann baust du dem Jesukindchen das allerschönste Krippchen.«

Dommie lächelte zufrieden, und ob Hals und Köpfchen sie immer mehr schmerzten, nie kam ein Wort der Klage über des frommen Kindes Rippen. Für ihre Wärterin hatte sie stets einen freundlichen Blick für jeden, auch den kleinsten Dienst ein warmes Wort des Dankes.

Die Krankheit verschlimmerte sich trotz aller Sorge und Liebe, von der das Mädchen umgeben war, und fast schien es, als ob das Jesukindchen seine kleine Verehrerin Weihnachten im Himmel feiern lassen wolle. Aber auf der Erde erhoben sich so vieler frommen Schwestern und Kinder Hände und bestürmten den Himmel, Dommie doch zu erhalten, dass das barmherzige Kindlein gewiss den Bitten recht widerstehen konnte.

Die Nacht kam, die nach dem Ausspruch des Arztes die entscheidende sein sollte. Die Kleinen hatten während des ganzen Tages vor der Statue des Jesukindchens gebetet und nun, in den nächtlichen Stunden, vertrat ein sanftes Lichtchen ihre Stelle und sandte seinen milden Strahl als Gebet empor.

Kinderflehen durchdringt die Wolken – nach Mitternacht fiel Dommie in einen tiefen Schlaf.

»Gerettet«, kam es von den Lippen des greisen Arztes, »gerettet.«

»Gott sei Dank, tausend Dank«! Mehr vermochte Mutter Angelica, die in den letzten Stunden nicht von Dommis Lager gewichen war, nicht hervorzubringen. Der Arzt entfernte sich, ergriffen von der rührenden Sorge und Liebe, mit der die guten Ordensfrauen das ihnen anvertraute Kind umgaben. Auch Mutter Angelica konnte sich nun beruhigt zurückziehen; aber obwohl zu Tode müde, begab sie sich noch zur Kapelle, um Gott für Dommies Rettung zu danken.

Erst am Morgen gegen zehn Uhr schlug Dommie die Augen auf, und ihr erster Blick traf Mutter Angelica. »O wie gut habe ich geschlafen, liebe Mutter! Sag mir, bin ich eigentlich krank gewesen?«

»Warum meinst du denn das, liebes Kind?«

»Ei, ich weiß nicht, ob ich nicht alles geträumt habe. Ich glaubte, ich sei sehr krank gewesen, aber nun fühle ich mich wohl und so leicht, liebe Mutter, dass ich fliegen könnte.«

Mutter Angelica lächelte. »Dommie, Kind, geträumt hast du nicht. Du warst wirklich sehr krank, aber das liebe Jesukindchen hat dich wieder besser werden lassen.«

»O, das Jesukindchen!« Dommie schwieg, aber es schien noch etwas auf ihrem kleinen Herzen zu liegen. Fast ängstlich forschte Mutter Angelica in den bleichen Zügen, als die Kleine plötzlich fragte: »Hat das Jesukindchen mir nicht mein Mütterchen geschickt«?

Die gütige Oberin hatte die Frage erwartet; ausweichend gab sie Dommie zur Antwort: »Mütterchen kommt ganz gewiss, Dommie, und sie kommt bald.«

Des Kindes große Augen glänzten vor Freude. O, wenn es geahnt hätte, dass Mama schon vor einigen Tagen im Kloster eingetroffen war, und nur das Verbot des Arztes sie von ihrem kranken Kind zurückhielt! Hätte Dommie die Tränen sehen können, die ihre Mutter um sie vergoss, die innigen Gebete hören können, die sie aus ihrem gepeinigten Herzen um die Rettung ihres Lieblings zum Himmel emporsandte! Ja, Dommies Mutter war zu Gott zurückgekehrt. Die Nachricht, dass ihr Kind dem Tode nahe sei, hatte sie ihrem dumpfen Dahinbrüten entrissen. Die Mutterliebe erwachte in ihrer ganzen Stärke in ihr und trug sie dorthin, wo ihr Platz war – zu ihrem Kind.

Der würdige Stadtpfarrer selbst gab ihr das Geleit. Er hatte sich in seinen Hoffnungen nicht getäuscht: »Es wird sich alles zum Besten wenden; die göttliche Gnade wird ihr Werk vollenden.«

Die kleine Rekonvaleszentin schlief viel, doch bei jedem Erwachen war ihre erste Frage: »Hat Jesukindchen nun mein Mütterchen geschickt«?

Die Adventstage gingen dem Ende zu – Dommie zählte: es waren ihrer nur noch drei. »Liebes Jesukindchen, eile dich«, betete das liebliche Kind mit der Vertraulichkeit der Unschuld, »eile dich, ich bitte dich …«

Als Dommie am nächsten Morgen – es war der 23. Dezember – erwachte, da stand nicht ihre treue Pflegerin, die Krankenschwester, an ihrem Bett, sondern eine große, schwarze Dame neigte sich über sie und drückte den innigsten Kuss auf die reine Stirn ihres Kindes.

»Mama, Mütterchen, o endlich bist du da! Das Jesukindchen hat dich mir geschickt. Ich wusste es ja, dass du kommen würdest.« Und schluchzend schlang Dommie die mageren Ärmchen um den Hals der Mutter und verbarg den Kopf an ihrer Brust.

Mama vermochte nicht viel zu sagen, aber Dommie fühlte ihre heißen Tränen, und die waren beredter als Worte. Lange hielten Mutter und Kind sich umschlungen, bis endlich Dommie sprach: »Nicht mehr weinen, Mütterchen, du bist ja nun da.«

»Ja, mein Liebling, ich bin bei dir, um dich nicht mehr von mir zu lassen und um dir eine helfende Mutter zu sein.«

»O, Mütterchen«, wehrte Dommie. Und freudestrahlend fügte sie hinzu: »Ich wusste es, Mama, dass das Jesukindchen uns Weihnachten zusammen feiern lässt, ich wusste es.«

Mama durfte nun die Pflege ihres Kindes selbst übernehmen und Dommies Genesung machte verhältnismäßig rasche Fortschritte. Ist doch Glück und Freude oft die kräftigste Medizin! In der Heiligen Nacht musste die Kleine auf die feierliche Mitternachtsmesse verzichten, aber im Krankenzimmer hielt ein allerliebstes Wachskindchen Einzug und nahm mit seinem Krippchen neben Dommies Bett Platz. Das unschuldige, fromme Mädchen war überglücklich und feierte die glückseligste Weihnacht ihres Lebens.

In der Kapelle von Marienalm aber kniete in der Heiligen Nacht eine glückliche Mutter an der Krippe, welche die frommen Schwestern gebaut hatten, und dankte dem Jesukindchen für die eigene Rettung und die des einzigen, geliebten Kindes.